Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zeitzeugen, Historiker und ihr Publikum | Ravensbrück – Überlebende erzählen | bpb.de

Frauen-KZ Ravensbrück Biografien der Überlebenden Rosa D. Philomena Franz Kató Gyulai Ilse Heinrich Lisl Jäger Anita Köcke Irmgard Konrad Elisabeth Kunesch Gertrud Müller Stella Nikiforova Genowefa Olejniczak Georgia Peet-Taneva Zofia Pocilowska Barbara Reimann Edith Sparmann Schura Terletska Essays zum historischen Kontext Illegaler Brief aus dem KZ Zeichnungen von Violette Lecoq Gedenkstätte Ravensbrück Audio-Interviews Dokument: Bewerbung als Aufseherin Lagepläne Links ins Internet Redaktion Bildnachweis

Zeitzeugen, Historiker und ihr Publikum

Wolfgang Benz

/ 6 Minuten zu lesen

Oral History, mündlich überlieferte Geschichte, erlebt einen Boom. Mit der richtigen technischen Ausrüstung, kann heute jeder als Chronist auftreten. Doch die wissenschaftliche Einordnung und die Interpretation der erzählten Erinnerungen von Zeitzeugen sind und bleiben ein Muss. Zeitzeugen und Historiker müssen gleichermaßen an dem Projekt der Aufklärung einer schwierigen Vergangenheit teilhaben – in Ergänzung und ohne Konkurrenz.

Einordnung und Interpretation bleiben ein Muss

Der technische Fortschritt bietet Historikern, Sozialwissenschaftlern und Pädagogen Möglichkeiten, von denen frühere Generationen kaum träumen konnten. Aber nicht nur Wissenschaftler, jedermann kann mit geringer Investition in elektronische Ausrüstung als Chronist oder doch wenigstens als Archivar dem Rad der Zeit in die Speichen greifen und die authentische Botschaft der historischen Person mit seiner Stimme, seinem Antlitz, seinen Gesten fixieren und beliebig transportieren.

Mikrofon und Videokamera sind zweifellos unschätzbare Hilfsmittel der Aufklärung und es wäre verwunderlich, wenn von den Möglichkeiten der Ton- und Bildaufzeichnung nicht Gebrauch gemacht würde. Freilich ist es ein Irrglaube, dass der Besitz des Geräts, das Hantieren mit Mikrofon und Kamera genügt, um "oral history" zu treiben, die Hintergründe und Zusammenhänge erhellt oder wichtige Erkenntnis aus der Erfahrung des Zeitzeugen destilliert und unmittelbar zur Verwendung offeriert.

Die peinlichen Bücher, die aus Abschriften von Interviews im Maßstab Eins zu Eins entstehen und in denen aus Ehrfurcht vor dem Gegenstand und der Weihe des Augenblicks alle trivialen Nebenbemerkungen, irrelevanten Meinungen, gängige Stereotypen und wohl auch Irrtümer und Fehler abgebildet werden, sind in der Regel der Aufklärung wenig förderlich und sie bieten viel weniger Information als sie versprechen.

Der Historiker ist immer wieder konfrontiert mit der Hilflosigkeit derer, die ohne methodisches Rüstzeug etwas mit oder über Zeitzeugen machen wollen. Tonband und Video erweisen sich als Falle: Die Aussage "ich habe 98 (oder 200 oder 17) Stunden Gespräch mit Überlebenden aus Konzentrationslagern auf Band, man muss es nur noch abschreiben und edieren" ist die Ankündigung des Scheiterns. Denn ebenso wie Dokumente nicht für sich sprechen, vielmehr des ordnenden und interpretierenden Historikers bedürfen, so ist die Fülle der Erinnerung für sich allein noch nicht aussagefähig. Erst durch Gestaltung gewinnt das Material Kontur, erst wenn das Wesentliche vom Unwesentlichen getrennt, wenn Zusammenhang hergestellt ist, entfaltet das authentische Dokument die Möglichkeiten der Aufklärung. Erst dann ist es einsatzfähig für Bildung und Pädagogik.

Mitschnitte aus Talk-Shows und ähnlichen Darbietungen erweisen sich im Unterricht in der Regel als unbrauchbar, weil nicht die Sache, sondern die Situation und meist auch die Eitelkeit des Interviewers oder Moderators den Zugang zum Wesentlichen versperren. Aber auch gestaltete Filme und Serien wie "Schindlers Liste" als positives Beispiel oder Claude Lanzmanns dokumentarisches Epos "Shoah" sind wegen ihrer Länge oder als Genre nicht ohne weiteres in eine Vorlesung oder Schulstunde zu integrieren. Entweder wird die Demonstration zur eigenen Veranstaltung, die meist nicht diskursiv behandelt werden kann, oder es bleibt beim illustrativen Ausschnitt aus größerem Zusammenhang, dem Zufälliges anhaftet.

Emotion und Ratio – eine mögliche Konkurrenz

Zeitzeugenschaft begegnet uns im wesentlichen in drei Funktionen:

1. Zeitzeugen treten auf als Wissende, die authentische Kenntnis vom historischen Geschehen haben und diese vermitteln können.

2. Zeitzeugen agieren als Pädagogen, die aus authentischer Erfahrung den Anspruch ableiten, das Geschichtsbild der Mit- und Nachlebenden zu gestalten.

3. Zeitzeugen erscheinen als Illustratoren, die – vor allem in den Medien – bei der Darbietung historischen Stoffs durch O-Ton und Auftreten dem Bericht Farbe geben, die Recherche bestätigen und Authentizität suggerieren.

Die erste Spezies, die Zeitzeugen als Wissende, als ehemals Handelnde oder wichtiges Geschehen einst unmittelbar Beobachtende, mit denen Historiker und Sozialwissenschaftler durch Oral History, im Interview in Interaktion treten, sind willkommene Gehilfen bei der Analyse und Interpretation des historischen Materials – sie helfen Sachverhalte zu klären und sind selbst Lieferanten von Quellen. Die Zeitzeugen in pädagogischer Funktion haben einen eigenen Anspruch: Sie brauchen Publikum, um Erleben zu verarbeiten, sie wollen Zeugnis ablegen, damit das Leid, das sie – als Verfolgte des NS-Regimes, als KZ-Überlebende , als Widerstandleistende gegen den Unrechtsstaat erfuhren – nicht vergeblich war. Deshalb gehen diese Zeitzeugen in die Schulen, fordern den Kontakt zu jungen Menschen, wollen sich darstellen.

Weil auch Lehrer und andere Gestalter des Geschichtsbildes oft davon überzeugt sind, Zeitzeugenschaft sei die beste Methode, historisches Wissen zu vermitteln, werden Zeitzeugen in eine Rolle gedrängt, die ihnen Omnipotenz zuschreibt, die als Auftrag begriffen und gerne angenommen wird, die sie aber tatsächlich überfordert. Wenn der Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz sich nicht auf die Hauptsache konzentriert, nämlich darauf, wie er als Individuum den Schrecken erfahren, erlitten und überstanden hat, sondern wenn er aus seiner Erfahrung die Befähigung ableitet, die Intentionen des Nationalsozialismus, die Systematik des Terrors autoritativ zu erläutern und zu erklären, hat er seine Aufgabe verfehlt.

Das wird in der Regel nicht erkannt, nicht von den Schülern, nicht von den Lehrern, die ihre Rolle als Moderatoren und Interpreten nicht wahrnehmen, nicht vom Publikum, das darauf dressiert wurde, den O-Ton des Zeitzeugen als unhinterfragbar zu akzeptieren, weil dieser dabei gewesen ist und es schließlich wissen muss – auf jeden Fall besser als der gern belächelte Historiker, der seine Erkenntnisse nach landläufiger Meinung nur aus dem Aktenstaub zu destillieren pflegt. Vom Zeitzeugen geht, verbunden mit dem Anspruch authentisch zu sein, ein emotionaler Appell aus: Er hat erfahren und erlitten, was vom Historiker nur rekonstruiert worden ist und was vom Zuhörer nachempfunden werden soll. Wenn die Emotion des Zeitzeugen auf die Ratio des Historikers stößt, der Zusammenhänge, Beweggründe usw. der Begebenheit kennt, die der Zeitzeuge schildert, kann ein Konkurrenzverhältnis entstehen, das den Unbeteiligten ratlos macht.

Zeitzeugen und Historiker als Partner des Projekts Aufklärung

Man kann das zuweilen schwierige Verhältnis zwischen Historikern und öffentlicher Zeitzeugenschaft an einem Beispiel verdeutlichen. Zur Einführung und Moderation des Zeitzeugenberichts einer Dame, die als junges jüdisches Mädchen KZ-Haft erlitten und darüber später ein Buch schrieb, wurde ein Historiker verpflichtet. Er hat nach Lektüre des Buches Grund zum Misstrauen, ob sich alles so zugetragen hat, wie berichtet, denn es ist unverkennbar, dass in das spät geschriebene Buch Kenntnisse und Bilder eingeflossen sind, die das junge Mädchen zur Zeit ihrer Haft nicht gehabt haben kann. Die Zeitzeugin zieht das Publikum durch ihr emotionales Auftreten rasch in den Bann, wehrt Moderationsversuche des Historikers nach Kräften ab und beschreibt schließlich die folgende Begebenheit: Eines Tages habe man den jüdischen Frauen im KZ Seife gegeben, ein Luxus, den sie monatelang entbehren mussten. Aber diese Seife konnten sie nicht benutzen, denn auf den Stücken hätten sie gelesen, dass sie aus Judenfett sei. Man habe die Seife an einer abgelegenen Stelle bestattet und dabei das Totengebet gesprochen.

Das Publikum, zutiefst bewegt von der Erzählung, hätte den Historiker vermutlich vom Podium gejagt, wenn er pflichtgemäß im Dienste der Wahrheit erklärt hätte, dass niemals Seife aus den Körpern ermordeter Juden hergestellt worden ist, dass die Zeitzeugin ein Gerücht in ihre Erzählung eingefügt hatte, um damit deren Wirkung ins Dramatische zu steigern. Das Bild von der "Seife aus Judenfett" wird als Parabel der äußersten Entwürdigung des Menschen durch die Nationalsozialisten gebraucht, es entbehrt aber jeder Realität. Die Zuhörer, willig zu Empathie und Ergriffenheit, waren auf der Seite der Zeitzeugin, sie wären kaum bereit gewesen, sich vom Historiker belehren zu lassen und hätten die Beschädigung oder Zerstörung der Authentizität der Zeitzeugin nicht hingenommen.

Im Idealfall ergänzen sich Zeitzeugenschaft und historische Profession. Als Katalysatoren der Vermittlung im Unterricht spielen Zeitzeugen eine wichtige Rolle, vorausgesetzt, die Lehrer nehmen ihre eigene pädagogische Funktion als Moderatoren wahr. Am problematischsten bleibt sicherlich das Auftreten von Zeitzeugen in den Medien, als Illustratoren. Sie sind der Gefahr der Instrumentalisierung und Manipulation (durch Bildschnitte und die Herstellung von Zusammenhängen, die sie nicht beeinflussen können) ausgesetzt und sie werden, gegen ihren Willen und gegen ihr Wissen, missbraucht, wenn sie etwa nur aufgrund ihres Geburtsjahrs, ihrer zufälligen Anwesenheit an einem Ort, wegen ihrer Verwandtschaft mit Protagonisten etwas verifizieren oder falsifizieren sollen, was sie gar nicht können.

Das Fazit lautet: Ohne Zeitzeugen, die sich an Details erinnern, kann die Geschichte des nationalsozialistischen Terrors im KZ nicht geschrieben werden. Diese Erkenntnis ist ebenso gültig wie die Tatsache feststeht, dass Zeitzeugen nicht geborene Pädagogen sind, die den Nationalsozialismus von seiner Entstehung bis zum Untergang mit all seinen Folgen ohne weiteres erklären könnten. Und wie kritischer Umgang mit den Medien generell geboten ist, so ist der mediale Auftritt von Zeitzeugen mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrachten. Ein Konkurrenzverhältnis zwischen Historikern und Zeitzeugen wäre kontraproduktiv, weil sie Partner sind im Projekt der Aufklärung über schwierige Vergangenheit.

Fussnoten

Der Historiker Prof. Dr. Wolfgang Benz, geboren 1941 in Ellwangen/Jagst, ist Mitgründer und Mitherausgeber der Dachauer Hefte und war von 1969 bis 1990 Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Seit 1990 arbeitet Benz als Professor an der Technischen Universität Berlin und leitet dort das Zentrum für Antisemitismusforschung. Benz erhielt 1992 den Geschwister-Scholl-Preis. Er gilt als einer der renommiertesten deutschen Holocaust-Forscher. (Foto: TU Berlin/Pressestelle)