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In der Wohnmaschine | Geschichte des Bauhaus | bpb.de

In der Wohnmaschine

Jan Ludwig

/ 5 Minuten zu lesen

Wie bringt man viele Leute auf engem Raum unter? Darauf haben Architekten in den letzten 200 Jahren zahlreiche Antworten gegeben – nicht immer die sinnvollsten.

Das Bauhaus machte es sich auch zur Aufgabe, praktikable, preiswerte Wohnungen für die Masse zu entwicken. (© picture-alliance)

Der Besucher aus Frankreich war einiges an Elend gewohnt. Er hatte Sklavenarbeiter in den USA gesehen, entrechtete Ureinwohner, fürchterliche Gefängnisse. Doch als der Historiker und Politikwissenschaftler Alexis de Tocqueville 1835 durch die Straßen von Manchester wanderte, glaubte er sich in einem entsetzlichen Slum.

„Unter diesen elenden Behausungen befindet sich eine Reihe von Kellern“, schrieb er in sein Reisetagebuch, „zu denen ein halb unterirdischer Gang hinführt.In jedem dieser feuchten und abstoßenden Räume sind zwölf bis fünfzehn menschliche Wesen wahllos zusammengestopft.“ Als eine Art „letztes Asyl, das der Mensch zwischen Elend und Tod bewohnen kann“, bezeichnete er die Behausungen der Arbeiter.

Wie könnte man ihnen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen? Wo sollten all diese Leute hin, die die Industrialisierung in die Städte gespült hatte? Die sogenannte „soziale Wohnungsfrage“, die auch Denker wie Tocqueville umtrieb, war die architektonische und politische Millionenfrage der Zeit. Es sollte noch fast einhundert Jahre dauern, bis sie in einigen Regionen gelöst wurde.
Im Jahr 1835, als Tocqueville ­seine Beobachtungen notierte, galt Manchester als Zentrum des globalen Fortschritts. Webstühle, Hochöfen und Kokereien produzierten Tonne um Tonne, ihre Schlote verdunkelten mit ihrem Qualm den Himmel. Das Zeit­alter der dampfbetriebenen Eisenbahn war gerade angebrochen.

Doch vom neuen Reichtum profitierten nur wenige. Fabrikarbeiter wurden in dieser Phase der Industrialisierung behandelt, als wären sie Rohstoffe wie Kohle und Erz. Die engen Wohnungen waren nichts anderes als Lagerhallen, in denen Arbeiter vorrätig gehalten wurden. Durch ihre Arbeit in den Bergwerken starben sie an Staublunge, erkrankten an Knochenerweichung, weil ihnen Licht fehlte. Und doch zog es viele Menschen in die Ballungsgebiete. Denn auf dem Land gab es oft überhaupt keine Arbeit, und wenn, war sie ähnlich hart wie in den Städten.

So wuchsen die Städte auch in Deutschland gigantisch schnell. Der „Ruhrpott“ war bis 1850 nur ein Pöttchen. Dann wurde er zum Schnellkochtopf. Dortmund, eine von Kohlevorkommen umgebene Mittelstadt in Westfalen, wuchs von gut 40.000 Einwohnern im Jahr 1870 auf rund 535.000 im Jahr 1930.

Architekten als “Sozialingenieure“

Kein Wunder, dass sich einige Architekten bald als „Sozialingenieure“ oder gar Ärzte sahen, deren Medikamente Luft, Raum und Licht waren. Eine neue Architektur sollte die röchelnden, krumm gewachsenen, blassen Bewohner der Städte kurieren. Nicht immer waren die ersten Therapievorschläge erfolgreich. Anfang der 1870er-Jahre errichtete man in der heutigen Türrschmidtstraße in Berlin-Lichtenberg 60 Reihenhäuser für werktätige Menschen – allerdings ohne Wasseranschluss, der war zu teuer. Toilette und Wasserpumpe lagen im Hof. Unter diesen Bedingungen wollten Arbeiter schon damals nicht in einen Neubau ziehen. Die restlichen 140 geplanten Häuser wurden erst gar nicht gebaut.

Es dauerte ein paar Jahrzehnte, bis die Rohstoffe günstig und die Ideen ausgereifter waren. 1845 wurden bereits Fertigteile für deutsche Häuser gegossen: Treppen aus Beton. Mehr als sieben Stockwerke baute man trotzdem nur selten in die Höhe – bis der US-Amerikaner Elisha Otis 1852 den absturzsicheren Aufzug erfand.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich architektonische Strömungen wie das Bauhaus in Weimar. Schnörkellose, lichte Häuser entstanden etwa in Stuttgart und Berlin. 1933 wurde die Bauhaus-Schule in Berlin unter dem Druck der Nationalsozialisten geschlossen. Jüdische Architekten wanderten ins damalige Palästina aus. In Tel Aviv, wo sich die Stadtbevölkerung in den 1930er-Jahren vervielfacht hatte, schufen sie die „Weiße Stadt“, mit 4.000 Gebäuden die größte Ansammlung von Bauhaus-Bauten der Welt.

In den 1920er-Jahren begann der industrielle Bau von Häusern mit Beton. Ironischerweise wollte man die von der Industrialisierung geschaffenen sozialen Wohn­probleme mit den Mitteln der Industrialisierung selbst bekämpfen: Das immer gleiche Produkt in immer gleicher Qualität herzustellen ist einfach billiger. Bauhaus-Begründer Walter Gropius, Kind einer Familie von Architekten und Vorbild einer ­ganzen Dynastie, schlug vor, Häuser wie am Fließband zu produzieren. Das hieß: Standardputz statt Stuckdecke, Einheitsbad statt Goldhähne. Die Gropiusstadt in Berlin, Anfang der 1960er-Jahre nach seinen Vorstellungen erbaut, steht noch heute: eine aus grauen Hochhäusern bestehende Siedlung.

Das „Neue Frankfurt“, wie sich eine Gruppe von Architekten nannte, entwarf zwischen 1925 und 1930 Häuser nach funktionellen Gesichtspunkten mit optimaler Raumausnutzung und unter Verwendung von genormten Bauteilen. Sie vermaßen etwa, wie oft man sich in der Küche drehen musste, um einen Kuchen backen zu können. Je ökonomischer die Wohnung, je kürzer der Weg zu Eiern, Butter und Zucker, desto besser. Das Ergebnis: die „Frankfurter Küche“, eine Art ergonomischer Arbeitsplatz, erhältlich in zwei Größenvarianten.

Der Größenwahn von Le Corbusier

Als vielleicht größter Wohn­denker seiner Zeit galt Le Corbusier. 1887 in der Schweiz als Charles-Édouard Jeanneret-Gris geboren, ist sein Künstlername heute Inbegriff für teils bizarre Ideen. Noch heute streiten Kritiker darüber, ob Le Corbusier nur faschistisch dachte – ein Antisemit war er ohnehin – oder auch faschistisch baute. Seine Vision einer modernen Siedlung: alle Bereiche städtischen Lebens trennen – einkaufen in der Innenstadt, arbeiten in den Randbezirken, wohnen in der Vorstadt. Le Corbusiers Ideen revolutionierten die Stadtplanung weltweit. Fast ein halbes Jahrhundert lang galt die Vorstadt als idealer Lebensort. Le Corbusiers Medikament hatte jedoch eine starke Nebenwirkung: die Pendler, Männer und Frauen also, die – allein in einem fünfsitzigen Fahrzeug – 40 Minuten im Stau stehen, um eine Strecke von fünf Kilometern zu schaffen.

Le Corbusier stellte den Nutzen über alles. Dekoration war für ihn eine zu vernachlässigende Kategorie. Das Kloster Sainte-Marie de la Tourette bei Lyon, in den 1950er-Jahren von ihm erbaut, sieht eher aus wie eine Mischung aus belgischer Waffel und Atombunker denn ein Ort, an dem Mönche leben. Für Paris ersann Le Corbusier 1925 einen Plan, wie man drei Millionen Menschen mitten in der Innenstadt ansiedeln könnte. Das historische Zentrum zwischen Louvre und Pariser Oper wollte er planieren, stattdessen 18 gigantische, regelmäßig angeordnete Riesenhäuser errichten, mit breiten Verkehrsschneisen und Parkplätzen. „Wohnmaschinen“ hieß ein Konzept für die serielle Fertigung von Wohnhäusern.

Wieder herrschte Wohnungsnot

Der Plan war für Paris auch eher unnötig. Die Stadt war im Zweiten Weltkrieg verschont geblieben von den Bomben der Wehrmacht. Andere Metropolen wie Warschau lagen hingegen in Trümmern, in Deutschland hatten die Alliierten die Stadtzentren bombardiert. Niemals zuvor waren deshalb so viele Menschen ohne Wohnung wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Wieder herrschte Wohnungsnot.

Auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs setzte man in den Jahrzehnten nach 1945 auf ein eigenes Mittel, um die herrschende Wohnungsnot zu bekämpfen: den sogenannten Plattenbau. Durch die vorgefertigten Bauteile konnten ganze Wohnblöcke zügig errichtet werden. Zwischen 32 und 105,5 Quadratmeter gaben die Platten vom späteren Modell WBS 70 her, günstig im Bau und ungeheuer stabil. „Arbeiterschließ­fächer“ wurden sie zuweilen spöttisch genannt, aber die meisten Menschen zogen gern ein, weil die Wohnungen im Vergleich zu den unsanierten Altbauten modern und komfortabel waren.

Heute tendieren Stadtplaner und Architekten wieder zu eng bebauten Städten. Dass die nicht so elend aussehen müssen wie einst in Manchester, zeigt das Beispiel Tokio: Rund neun ­Millionen Menschen leben allein im sehr dicht bevölkerten Stadtkern, nahe beieinander und gut vernetzt. Nur eine Minderheit braucht dort ein Auto.

Dieser Text erschien erstmalig im Interner Link: fluter Nr. 56 Stadt.

Zum Artikel auf Externer Link: fluter.de