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Schreibfeder, Opernglas und ein Karl Marx zitierender Essay | Geteilte Geschichte | bpb.de

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Schreibfeder, Opernglas und ein Karl Marx zitierender Essay

David Brown George Prochnik

/ 10 Minuten zu lesen

Im Inhalt des Schreibtisches dieses exilierten deutschen Dichters können wir die verflochtenen Stränge revolutionären Denkens erkennen – Träume individueller Entfaltung, jüdischer Emanzipation und universeller menschlicher Freiheit.

Schreibfeder, Externer Link: Shared History Projekt. (Heinrich Heine Institut in Düsseldorf) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Objekt

Schreibfeder, Opernglas und ein Essay, in dem Karl Marx zitiert wird
von David Brown

Die mit Interner Link: Heinrich Heine assoziierte Schreibfeder gelangte erst nach 1990 aus Privatbesitz in das Archiv des Heinrich-Heine-Instituts. Maximilian Heine, der Bruder des Dichters, hatte sie einst damit zertifiziert, dass sie angeblich "der Hand des kranken Dichters entfallen war". 1872 stiftete er sie als Preis für das beste "Erwiderungsgedicht" auf Heines "Leise zieht durch mein Gemüt" ("Neuer Frühling" VI). Die Preisverleihung fand am 18. März 1872 in der "Artistisch-Literarischen Gesellschaft in Berlin" statt; aus über 200 Einsendungen – nur Frauen waren zur Konkurrenz zugelassen – trug Louise Gräfin zu Stolberg-Stolberg den Preis davon.

Opernglas, Externer Link: Shared History Projekt. (Heinrich Heine Institut in Düsseldorf) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Opernglas stammt der Überlieferung nach aus dem Nachlass von Heinrich Heines Witwe, die von ihm "Mathilde" genannte Augustine Crescence Mirat (1815–1883). Mathilde Heine, die den Dichter um 27 Jahre überlebte, widmete sich intensiv der Verbreitung des Nachruhms ihres Gatten. Das Opernglas konnte vom Heinrich-Heine-Institut 1980 aus französischem Privatbesitz erworben werden. Ein genaues Herstellungsdatum des optischen Hilfsmittels ist bislang nicht ermittelt worden.

Essay, in dem Karl Marx zitiert wird, Externer Link: Shared History Projekt. (Heinrich Heine Institut in Düsseldorf) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Manuskript ist eine Abschrift von Heinrich Heines Essay aus dem Jahre 1854, in dem er sich gegen die Anschuldigung verteidigt, er habe sich bei der Kritik an der französischen Regierung zugunsten einer Staatspension zurückgehalten. Obwohl Heines persönlicher Sekretär und Übersetzer, Richard Reinhardt, den Text transkribierte, fügte Heine eigene Bleistiftnotizen hinzu, zur Vorbereitung des Abdrucks des Essays in der Schrift Lutetia, einem Sammelband seiner Berichterstattung aus Paris. In dem Essay mit dem Titel "Retrospektive Aufklärung" behauptet Heine, dass Interner Link: “Dr. Marx” selbst ihn ermutigt habe, nicht auf die gesamten Anschuldigungen einzugehen, sondern Marx und anderen radikalen Unterstützern die Möglichkeit zu bieten, der Öffentlichkeit zu versichern, dass er die Pension nur akzeptiert habe, um Mitrevolutionäre zu unterstützen. Stattdessen antwortete Heine mit einem Leitartikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung im Mai 1848, in dem er zugab, dass er die Pension lediglich angenommen hatte, um nicht zu verhungern, nachdem die Behörden sein Werk in Deutschland verboten hatten. Das Manuskript befindet sich in der Strauss Collection am Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf.

Historischer Kontext

Der jüdische Dichter erkannte, dass zur Verwirklichung seines Ideals von der Entfaltung des Individuums nicht nur die Juden, sondern die gesamte Menschheit befreit werden müsse
von George Prochnik

Heinrich Heine und seine Frau. - Gemälde, 1851, von Ernst Kietz. (© picture-alliance/akg)

Ein Opernglas, eine Schreibfeder und eine Handschrift, in dem sich der Autor auf Interner Link: Karl Marx beruft – diese Gegenstände, die mit dem Dichter Heinrich Heine in Verbindung gebracht werden, sind Hinweise sowohl auf das individuelle Denken und Fühlen einer Einzelperson als auch auf die allgemeine Zwangslage, in der sich Juden im postnapoleonischen Europa befanden. Dieser Teil der jüdischen Geschichte ist unzweifelhaft von Fragmentierung und Diskontinuität bestimmt, aber vielleicht lässt sich durch die Zusammenschau dieser Hinterlassenschaft eines im Exil lebenden deutschen Dichters ein Schlaglicht werfen auf den von ihm erträumten Wandel, der weit mehr betrifft als seine persönlichen Umstände.

Heinrich Heines fantasievollen Gedichte, schonungslosen Satiren, schwungvollen Reportagen, historischen Analysen und die Grenzen des Genres sprengenden autobiographischen Reflektionen sind sämtlich von der Sehnsucht nach utopischer Erlösung durchtränkt. Das Vorhaben einer kommunistischen Gesellschaft seines Freundes (und entfernten Cousins) Interner Link: Karl Marx könnte als der wirtschaftlich umsetzbare Endpunkt eben dieses Strebens verstanden werden – Revolution. Angesichts der ihnen auferlegten Einschränkungen verwundert es nicht, dass unter denen, die die alte Ordnung zu stürzen bestrebt waren, oftmals Jüdinnen und Juden eine wichtige Rolle spielten. Nicht nur war Preußen nach dem Interner Link: Wiener Kongress 1815 grundsätzlich von politischer Unfreiheit geprägt; Juden im Besonderen waren gesellschaftlich stigmatisiert und aus einer Vielzahl von Berufen ausgeschlossen, unter anderem vom öffentlichen Dienst, von den meisten rechtswissenschaftlichen Berufen und von akademischen Tätigkeiten. Heine und Marx gehörten zu den vielen Interner Link: Intellektuellen deutsch-jüdischer Herkunft, die ihre persönliche Sehnsucht nach Freiheit und einer besseren Zukunft in den Kampf um eine breitere demokratische Teilhabe ummünzten.

Es gab auch andere, leichter umsetzbare Reaktionen auf die Juden auferlegten Einschränkungen. Die Konvertierung etwa. So hatte Marx’ Vater ihn im Kindesalter taufen lassen. Heine konvertierte als Erwachsener zum Christentum. Und doch entschlossen sich beide letztlich, das noch nicht geeinte Deutschland zu verlassen und im Exil zu leben.

Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Rahmenbedingungen stellt sich die Frage, wie sich diese drei auf Heinrich Heine verweisenden Gegenstände zu einander in Beziehung bringen lassen.

Ein Ansatz könnte möglicherweise darin bestehen, aus ihnen eine Art Dialektik der jüdischen Erfahrung in Europa herauszulesen. Das Opernglas stünde gleichsam für die einleitende These: eine Person ist gezwungen, sehnsuchtsvoll dem Schauspiel des Lebens aus der Ferne zuzuschauen. Die kampfesbereite Schreibfeder wäre demnach die Antithese: Mit ihr versuchte der visionäre Schriftsteller eine Brücke über jene unmenschliche Kluft zu spannen, dabei die Schleier der Vorurteile zerreißend, die ihn von der üppigen Existenz trennen, die jeder Mensch haben könnte, wären die Reichtümer dieser Welt gerecht verteilt. Die vermeintliche Erklärung von Karl Marx, mit der er Heine aufgrund dessen Unterstützung für seine "ärmern Parteigenossen" Integrität bescheinigt hätte, wäre schließlich die dialektische Synthese: Das von Marx abgegebene Zeugnis würde deutlich machen, dass auch ein einsamer, politisch verfolgter Träumer ein Freiheitskämpfer für die gesamte Menschheit werden konnte.

Mitten in der New Yorker Bronx steht ein Loreley-Brunnen, der an Heinrich Heine erinnert. (© picture-alliance/dpa, Christina Horsten)

Heine kam zunächst durch seine Dichtkunst zu Ruhm, aber seinen Platz im kulturellen Gedächtnis behält er als Verfechter der allgemeinen Gleichberechtigung. Als im Jahr 1899 in der Bronx das erste Heine-Denkmal der Welt enthüllt wurde, zitierte der der Festveranstaltung vorstehende deutsch-amerikanische Philanthrop Ralph Guggenheimer in seiner Ansprache an die mehr als 6.000 Teilnehmer Heines Worte: "Ein Schwert sollt ihr mir auf den Sarg legen; denn ich war ein braver Soldat im Befreiungskriege der Menschheit."

Und dennoch bemerkte Heine selbst, trotz dieser universalisierenden Tendenz, dass ihm der Gedanke Freude bereite, auf seinem Grabstein lediglich die Worte "Hier ruht ein deutscher Dichter" zu lesen. Die Betonung, die er darauf legt, dass seine Dichtkunst ihrer Art nach "deutsch" sei, hat nichts mit Nationalismus zu tun; vielmehr wird damit Hannah Ahrendts berühmte Nachkriegsantwort auf die Frage vorweggenommen, was von ihrer Identität aus dem Europa vor Hitler übrig geblieben sei: "Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache." Ihrer beider Leben sind Zeugnis dessen, wie gesellschaftspolitische Fesseln (und gewaltvolle Verfolgung) europäische Juden dazu brachten, ihr wahres Heimatland in den weltumspannenden Feldern zu verorten, zu denen man durch die Literatur und Philosophie Zugang erhält – und mithin durch das Wort.

Bis er fast dreißig Jahre alt war, ging Heine jedoch davon aus, er müsse seinen Lebensunterhalt mit der Juristerei bestreiten. Mit beträchtlicher Selbstverachtung ließ er sich im Jahr 1825 evangelisch-lutherisch taufen, einerseits, um sich eine berufliche Tätigkeit als Jurist zu ermöglichen, und andererseits, weil er glaubte, der Taufschein werde sein "Entre Billet für die Europäische Kultur" werden. In beiderlei Hinsicht war er bald enttäuscht, und die politisch subversiven Aspekte seines Schreibens nahmen einen extravaganteren, scharfen Ton. Als das Jahrzehnt ausklang, musste er befürchten, in einem solchen Maße in das Visier der Zensur geraten zu sein, dass er sich eines Tages in einer kalten, feuchten Zelle in der Zitadelle Spandau bei Berlin wiederfinden würde.

Paris war einladender. Beflügelt von idealisierten Erinnerungen an die napoleonische Besatzung seiner Heimatstadt Düsseldorf während seiner Kindheit und Erzählungen über die Julirevolution von 1830, unternahm Heine im Mai 1831 seine erste Reise nach Frankreich. Tatsächlich scheint Heines langgehegtes Bild von Paris als dem Epizentrum europäischer Freiheit und kultureller Lebendigkeit größere Anziehungskraft auf ihn ausgeübt zu haben als irgendein politisches Programm. Als er später die Stimmung beschrieb, in der er nach Frankreich gereist war, schwärmte er von der Sehnsucht, begleitet von seiner Leier "Worte gleich flammenden Sternen, die aus der Höhe herabschießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten [...]", zu singen. "Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme!"

Die "Matratzengruft" in Paris - Heinrich Heine auf dem Krankenlager, gepflegt von Camilla Selden. (© picture-alliance/akg)

Heine nahm rege und mit Freuden am lebendigen kulturellen Leben von Paris teil. Unter Außerachtlassung seiner revolutionären Sympathien hätte er sein Opernglas etwa in berühmten romantischen Theatern wie dem Théâtre de la Porte Saint-Martin nutzen können – Heines Lieblingstheater – das Nicolas Lenoir in nur vierzig Tagen auf Befehl von Marie-Antoinette erbaut hatte. Seinen Befreiungskrieg führte Heine stets am leidenschaftlichsten, wenn er für die Künste kämpfte. Mit seiner geistreichen Dramatisierung des Menschheitsanliegens der Freiheit des Menschen wurde er zum Musterbeispiel der Selbstverwirklichung des Individuums in der Kreativität.

Damit sprechen diese drei Objekte von einer Identität im Spannungsfeld: Es gibt das vermeintliche Zeugnis von Marx über Heines selbstverleugnende Aufopferung für all jene, die sich dem Kampf gegen Ungerechtigkeit widmen; das Opernglas als Beleg seiner überschwänglichen Begeisterung für kulturelle Schätze und die Schreibfeder, die als eine Art Kompassnadel zwischen den Polen der sozialen Verantwortung eines Schriftstellers und seinen ästhetischen Sehnsüchten hin und her geht.

Das Artefakt aus Heines Leben mit dem stärksten Nachklang wird immer die Schreibfeder bleiben. Es ist kein Zufall, dass sie eine Gänsefeder ist und nicht aus Stahl. Obwohl in seiner Zeit Stahlfedern in Gebrauch kamen, missfiel es Heine, dass sie bei stärkerem Druck Risse im Papier verursachten. Heine wollte seine Worte tief ins Papier gedrückt sehen – auf Dauer.

Persönliche Geschichte

Als ein Skandal Heinrich Heines revolutionäre Vertrauenswürdigkeit unterminierte, berief er sich auf Karl Marx, um sich zu verteidigen
von George Prochnik

Nach der Interner Link: Revolution von 1848 wurde bekannt, dass Heine jahrelang still und leise eine Rente von der französischen Regierung bezogen hatte. Die liberale Augsburger Allgemeine Zeitung, für die Heine selbst oft geschrieben hatte, behauptete, die Pension sei ein Schweigegeld gewesen, um keine Kritik am "Bürgerkönig" Louis-Philippe I. zu üben.

Mit der Enthüllung sollte Heines Ruf als Schriftsteller der Revolution zerstört werden, aber er machte sich die Geschichte kühn zunutze, um seine Glaubwürdigkeit als Revolutionär zu bezeugen. Er behauptete, Karl Marx selbst habe seine Unschuld bestätigt und ihm einen Rat erteilt: Er solle in die Welt setzen, das Geld nur angenommen zu haben, um verarmte Mit-Revolutionäre zu unterstützen. Heine gab jedoch zu, dass er das Geld in Wahrheit dankbar angenommen habe, um nicht zu verhungern, da alle seine Schriften in Deutschland verboten worden seien.

Obwohl er zu der Zeit nach wie vor unter der Beobachtung der preußischen Geheimagenten in Frankreich stand, hatte sich Heine den anderen politisch radikalen Deutschen, die im Zuge der Revolution von 1830 nach Frankreich geströmt waren, entfremdet. Deren bekanntester war Ludwig Börne. Wie Heine war Börne ein säkulärer deutsch-jüdischer Konvertit zum Luthertum und Teil der Bewegung "Junges Deutschland", die sich dem Absolutismus und repressiven Christentum widersetzte und sich für Demokratie, Sozialismus, die Trennung von Kirche und Staat sowie die Interner Link: Emanzipation von Jüdinnen und Juden einsetzte. Jedoch war Börne von erheblich grundsätzlicherer Radikalität als Heine. Als sich die beiden Männer in Paris begegneten, war Heine schockiert von der Bemerkung Börnes, Marat habe zu Recht gefunden, man müsse die Menschheit zur Ader lassen. Tatsächlich war Börne der Ansicht, Revolutionen seien so notwendig wie Amputationen, wenn es galt, ein in Fäulnis geratenes Glied zu entfernen.

Heine seinerseits war besorgt, dass die Welle der Zerstörung, die der wahren sozialen Gerechtigkeit den Weg ebnen würde, letztlich auch die Kunst und Dichtung auslöschen könnte. Er hing den Saint-Simonisten an, die durch eine technologisch effiziente und bürokratische Neuorganisation der Gesellschaft eine Utopie des materiellen Überflusses entstehen lassen wollten.

Das Verhältnis zwischen Heinrich Heine und Karl Marx war hingegen anderer Art. Als Marx 1843 nach Paris kam, interessierte sich Heine sehr für die Ideen des viel jüngeren und offensichtlich so brillanten Mannes. Umgekehrt verehrte Marx seinerseits Heine stets als blendenden Wortkünstler. Tatsächlich hatte Marx in seiner Jugend mit dem Ziel Heine gelesen, sich rhetorisch zu bilden; sein gelegentlich schwungvoller Stil scheint sich aus Heines schonungslosem und wendigem Geist zu speisen. Die Männer wurden enge Freunde. Als Marx 1845 Frankreich verließ, schrieb er Heine, dass er von allen Menschen, die er zurückließ, Heine am meisten vermissen würde und dass er bedauerte, ihn nicht in seinen Koffer packen zu können.

Als Heine in Ludwig Börne. Eine Denkschrift seinen Rivalen Börne als puritanischen Barbaren verächtlich machte, verteidigte Marx ihn gegen den Zorn von Börnes leidenschaftlichen Anhängern. Aber die Sache mit der Rente war etwas anderes. Als Marx Heines Behauptung las, er hätte ihn bezüglich der Annahme des Geldes unterstützt, reagierte er nicht öffentlich, schrieb jedoch in einem Brief vom Januar 1855 an Engels, Heines Geschichte sei eine Lüge: "In der Angst seines bösen Gewissens, denn der alte Hund hat für allen solchen Dreck ein monströses Gedächtnis – sucht er zu kajolieren."

Dennoch begegnete Marx dauerhaft dem Schriftsteller als Künstler mit halb ehrfürchtigem Respekt. Dichter seien "seltsame Fische", befand Marx über Heine, und "nicht nach gewöhnlichen und auch nicht nach außergewöhnlichen Verhaltensmaßstäben zu beurteilen".

Hatte sich Heine tatsächlich falsch an die Geschichte erinnert? Oder traf er bewusst die Entscheidung, sich die Unterstützung eines aufgehenden Sterns unter den Revolutionären anzudichten, die angeblich zu einer Zeit kam, als er sich besonders schwach und bedroht vorkam? Als er sich auf die Unterstützung durch Marx berief, war er bereits krank und an jenes "Matratzengrab" gebunden, in dem er die letzten sieben Jahre seines Lebens verbringen würde. Das Opernglas war nun lediglich ein Hilfsmittel, mit dem er von seinem winzigen Balkon aus einen flüchtigen Blick auf die Welt werfen konnte. Seine Schreibfeder war nicht mehr die Lanze, mit der er seine Gegner vernichtet hatte, sondern ein Werkzeug zum Kritzeln: "Worte! Worte! keine Taten! […] Keine Knödel in der Suppe", klagte er in einem seiner letzten Gedichte.

Heinrich Heine (© picture-alliance, imageBROKER | Dietmar Plewka)

Er hielt selbst in seinem geschwächten Zustand mit aller Kraft fest am Leben in dieser Welt, in der er die Erlösung der Menschen mit den Mitteln der Kunst zu bewirken gehofft hatte. "Mögen andre das Glück genießen, dass die Geliebte ihr Grabmal mit Blumenkränzen schmückt und mit Tränen der Treue benetzt", schrieb Heine einmal, "aber lasst mich leben!" Dieser unerschütterliche Wille, allen Widrigkeiten zu trotzen, findet natürlich ein besonderes Echo in der europäisch-jüdischen Geschichte, das lange nach Heines Tod fortdauerte und schmerzliche Aktualität erlangte.

Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.

Weitere Inhalte

David Brown ist Leiter für Kommunikation und Programme am Leo Baeck Institute - New York | Berlin (LBI). Er hat Deutsch und Geschichte an der Northwestern University und der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und redigiert LBI-Publikationen, darunter die Website des LBI (Externer Link: www.lbi.org) und Newsletter.

George Prochniks letztes Buch, Heinrich Heine: Writing the Revolution wurde 2020 in der Reihe Jewish Lives der Yale University Press veröffentlicht. Sein vorheriges Buch, Stranger in a Strange Land: Searching for Gershom Scholem and Jerusalem war in der engeren Auswahl für den Wingate Prize. Davor erschien The Impossible Exile: Stefan Zweig at the End of the World, das 2014 den National Jewish Book Award for Biography/Memoir erhielt.