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Sowjetische Veteranen

Karen Körber Irina Ginsburg

/ 7 Minuten zu lesen

Unter den Juden, die in den neunziger Jahren nach Deutschland einwanderten, waren sowjetische Kriegsveteranen, die gegen Nazi-Deutschland gekämpft und bei der Befreiung der Konzentrationslager eine wichtige Rolle gespielt hatten.

Sowjetische Veteranen, Externer Link: Shared History Projekt. (Jüdisches Museum Frankfurt; Foto: Rafael Herlich) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Das Objekt

Sowjetische Veteranen

Das Foto zeigt jüdische Veteranen aus der ehemaligen Interner Link: Sowjetunion, die im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Roten Armee gekämpft haben. Es ist 2017 im Kiddusch-Raum der Westend Synagoge der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main aufgenommen worden. Anlass sind die Feierlichkeiten zum 9. Mai, dem "Interner Link: Tag des Sieges", an dem in der Interner Link: Sowjetunion an das Kriegsende und den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland erinnert wurde. Seit den 2000er Jahren wird dieser Feiertag auch in vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland begangen. Grund dafür ist die Einwanderung von so genannten "jüdischen Interner Link: Kontingentflüchtlingen" aus der Sowjetunion und den post-sowjetischen Staaten, die im Zuge der Grenzöffnungen und eines wachsenden Interner Link: Antisemitismus seit den 1990er Jahren in einem gesonderten Aufnahmeverfahren nach Deutschland eingewandert sind. In der Folge dieser Migrationsbewegung ist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland deutlich größer geworden. Die Mehrheit der Mitglieder in den jüdischen Gemeinden stammt heute aus jüdischen Familien deren Interner Link: Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion liegen.

Historisches Essay

Einmal jährlich, am 9. Mai, treffen die Veteranen in den Räumen der jüdischen Gemeinde in Frankfurt zusammen, um den “Tag des Sieges” 1945 zu feiern.

von Dr. Karen Koerber
Die sechs alten Männer, die der Kamera stolz ihre mit Orden bedeckte Brust präsentieren, sind Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Es sind jüdische Veteranen, die im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der Roten Armee gegen das nationalsozialistische Deutschland gekämpft haben. Einmal im Jahr, am 9. Mai, kommen sie mit ihren Familien in den Räumlichkeiten der jüdischen Gemeinde zusammen, um den "Tag des Sieges", den höchsten Feiertag in der ehemaligen Sowjetunion zu begehen, der an das Ende des Krieges und den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland erinnert. Sie gedenken der Millionen von Kriegstoten und der drei Millionen jüdischer Opfer, die durch (gezielte) Hungersnot, Interner Link: Ghettoisierung, und Massenerschießungen der deutschen Interner Link: Wehrmacht auf sowjetischem Boden ermordet wurden. Rund eine halbe Million jüdischer Männer und Frauen waren Angehörige der Roten Armee, etliche haben hohe Ränge bekleidet und Auszeichnungen erworben, 200.000 von ihnen sind gefallen. Als jüdische Soldatinnen und Soldaten haben sie im Januar 1945 das größte Konzentrationslager Auschwitz mit befreit, sowie etliche andere Konzentrationslager in den baltischen Staaten und in Deutschland, wie Stutthof, Interner Link: Sachsenhausen, und Interner Link: Ravensbrück. Seit mittlerweile drei Jahrzehnten sind ihre Erfahrungen und die Erlebnisse ihrer Familien im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust Teil einer pluralen jüdischen Erinnerungskultur, die das jüdische Leben in Deutschland prägt.

Die sechs Männer gehören der großen Gruppe von Interner Link: russischsprachigen Jüdinnen und Juden an, die in den 1990er Jahren aus der Sowjetunion und den Interner Link: post-sowjetischen Staaten ausgewandert sind. Der wirtschaftliche und soziale Zusammenbruch in ihren Herkunftsgesellschaften und ein wachsender, öffentlich sichtbarer Antisemitismus hatten zur Folge, dass gut eine Million russischsprachiger Juden nach Israel immigrierte, ein kleinerer Teil in die USA gingen, und zirka eine Viertelmillion nach Deutschland eingewandert ist. Möglich wurde diese Einwanderung aufgrund eines gesonderten Verfahrens der Bundesrepublik Deutschland, das 1991 in Kraft trat und Jüdinnen und Juden sowie ihren (auch nichtjüdischen) Familienangehörigen als "Interner Link: jüdischen Kontingentflüchtlingen" die Aufnahme ermöglichte. Diese Einwanderung hat das jüdische Leben in Deutschland verändert.

Das Aufnahmeverfahren, das 2005 eingestellt wurde, hat dazu geführt, dass heute in Kontinentaleuropa nach Frankreich ausgerechnet in Deutschland die zweitgrößte jüdische Gemeinschaft lebt. Im Zuge der Einwanderung der russischsprachigen Jüdinnen und Juden hat sich im Verlauf der 1990er Jahre die Anzahl der jüdischen Gemeinden erhöht. Zählten die jüdischen Nachkriegsgemeinden Ende der 1980er Jahre rund 30.000 Mitglieder, so liegen die Zahlen heute bei knapp 100.000. Dieser Wandel hat zum einen dazu geführt, dass vielerorts kleine Gemeinden neu gegründet oder alte Gemeinden reetabliert werden konnten, die im Nationalsozialismus zerstört worden waren. Zum anderen waren vor allem viele der größeren Gemeinden aufgrund der gestiegenen Mitgliederzahlen in der Lage, Kindergärten und Jugendzentren einzurichten, auch die Zahlen der jüdischen Schulen ist seit den 2000er Jahren erheblich gewachsen.

Gleichzeitig waren die Gemeinden auch vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Das Gros der Mitglieder bestand nun in den meisten Gemeinden aus neu eingewanderten Jüdinnen und Juden, die mit den Folgen einer Migration zu kämpfen hatten, in einer anderen Sprache zu Hause waren und - wie das Foto der Veteranen zeigt – andere Erfahrungen und entsprechende Erinnerungen ihr eigen nannten. Während sie darauf bestanden, in den jüdischen Gemeinden jährlich den 9. Mai zu feiern, erfuhren sie erst nach ihrer Ankunft in Deutschland von den Ereignissen der Interner Link: Reichspogromnacht am 9. November 1938, die Teil der deutsch-jüdischen Erinnerungskultur sind.

In den kommenden Jahren beteiligten sich die russischsprachigen Juden zunehmend am Gemeindeleben, forderten stärkere Einbindung und Mitspracherechte und wurden im Laufe der Jahre zunehmend in führende Positionen berufen oder zu Entscheidungsträgern gewählt. Dieser Prozess war nicht immer frei von Kontroversen und Auseinandersetzungen, mündete aber letztendlich in der Vielfalt, die das heutige jüdische Leben in Deutschland prägt.

Kinder und Erwachsene der Ostberliner Adass Jisroel Gemeinde feierten im Februar 1991 ihr Purimfest. Auch jüdische Aussiedler aus osteuropäischen Ländern nahmen an der Feier teil. (© picture-alliance, ZB)

Im einundzwanzigsten Jahrhundert stammt die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden aus Familien, deren Interner Link: Wurzeln in der ehemaligen Sowjetunion liegen. Viele der eingewanderten Jüdinnen und Juden waren aufgrund der jahrzehntelangen atheistischen sowjetischen Politik von jüdischer Religion und Tradition entfremdet. Sie lebten akkulturiert in einem Interner Link: Staat, der jüdisches Leben weitgehend unterbunden hatte und das Judentum nicht länger als eine Religion, sondern als eine Nationalität definierte. Gleichzeitig waren Jüdinnen und Juden im Alltag wiederholt mit Antisemitismus konfrontiert und erlebten aufgrund ihrer Herkunft Diskriminierungen im Bildungssystem und bei der Berufswahl. Diese besonderen Erfahrungen prägen das Selbstverständnis der russischsprachigen Jüdinnen und Juden in Deutschland. Sie verstehen sich mehrheitlich säkular und beleben ein kulturelles Judentum, das sich beispielsweise in der jungen deutschsprachigen Literatur, der Musik- und Theaterkultur niederschlägt. In der zweiten Generation der Eingewanderten wendet sich jedoch eine zunehmende Zahl junger Juden auf der Suche nach der jüdischen Geschichte und Tradition einem religiösen Judentum zu und trägt dazu bei, dass in Deutschland wieder in größerem Umfang ein liberales und orthodoxes Judentum beheimatet sind. Diese Entwicklungen dokumentieren einen Wandel gegenüber dem deutschen Nachkriegsjudentum, der sich auch in einem veränderten Verhältnis zur nichtjüdischen deutschen Mehrheitsgesellschaft zeigt.

Die sichtbare religiöse und kulturelle Vielfalt innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland geht mit einem wachsenden Selbstbewusstsein insbesondere der jungen Jüdinnen und Juden einher, die gerade in Zeiten eines lauter werdenden Antisemitismus deutlich ihren Anspruch artikulieren, in diesem Land leben und diese Gesellschaft gestalten zu wollen. Dieser Anspruch auf eine jüdische Zukunft in Deutschland hängt auch mit einer erweiterten jüdischen Erinnerungskultur zusammen, wie sie sich beispielhaft in den jährlichen Feierlichkeiten zum 9. Mai zeigt. Das Gedenken an die unzähligen jüdischen Opfer des Holocaust schließt in wachsendem Maße die vielfältigen Formen ihres Überlebens, ihres Widerstands und ihrer Kämpfe mit ein. Daran erinnern stellvertretend die jüdischen Veteranen, die als Soldaten der Roten Armee gekämpft und am Ende das nationalsozialistische Deutschland besiegt haben.

Persönliche Geschichte

Nach dem Krieg erforschte der Veteran Boris Gelfand Namen und Schicksale der Gefallenen.

von Irina Ginsburg
Auf der Fotografie ist eine Gruppe jüdischer Veteranen der ehemaligen Sowjetunion zu sehen. Sie stehen im Foyer der Frankfurter Synagoge Westend bei einer Gedenkfeier zum 9. Mai 1945. Einer dieser Helden ist Boris Gelfand, im Foto der zweite von rechts. Geboren in Schlobin (Žlobin) in Belarus, kämpfte er von 1941 bis 1944 in der Roten Armee. Er befehligte eine Einheit der Infanterie und war Zeuge zahlreicher historischer Ereignisse im Kampf gegen die Wehrmacht. So war er dabei, als die deutsche Armee 1943 zum Rückzug über die Newa gezwungen wurde, und er war unter denen, die die Festung Schlüsselburg wieder einnahmen. Nach einer Schussverletzung wurde Boris Gelfand in verschiedenen Lazaretten behandelt, bis er 1944 genas. Nach Ende des Krieges wurde ihm der Ruhmesorden verliehen. Für seine Verdienste in Leningrad bekam er den Orden des "Großen Vaterländischen Krieges" erster Klasse, der höchste Orden, den ein sowjetischer Soldat erhalten kann, sowie zahlreiche weitere Auszeichnungen und Ehrungen.

Belagerung Leningrads durch die deutsche Heeresgruppe Nord, September 1941. (© picture-alliance/akg)

Der 9. Mai ist kein Tag wie jeder andere . Es ist der Tag, an dem das nationalsozialistische Deutschland vor der Roten Armee und deren Alliierten kapitulierte. In der ehemaligen Sowjetunion gilt er als einer der höchsten öffentlichen Feiertage. Auf Grund der jüdischen Emigration nach Deutschland in den Jahren 1989 bis 2005 wird dieser Tag nun auch in den jüdischen Gemeinden in Deutschland begangen. Allerdings steht er im Widerspruch zu dem offiziellen Gedenken in Deutschland, das sich mit der massenhaften Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden auseinandersetzt und wird daher in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nur vereinzelt mit Gedenkfeiern begangen. Die meisten jüdischen Einwanderer in Deutschland sehen sich als Sieger des zweiten Weltkriegs, in dem jüdische Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee und jüdische Interner Link: Partisaninnen und Partisanen gegen die Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten kämpften und sie letztendlich besiegten. Ungefähr 500.000 Jüdinnen und Juden dienten in der Roten Armee. Davon fielen ungefähr 200.000. 160.000 Jüdinnen und Juden wurden mit Orden und Medaillen ausgezeichnet. Zu "Helden der Sowjetunion" wurden mehr als 500 ernannt.

An diejenigen zu erinnern, die das Ende des Krieges und den Sieg über Nazideutschland nicht mehr erlebt haben, hat sich Boris Gelfand zur Lebensaufgabe gemacht. Nach dem Krieg begann er mit der Arbeit am "Gedenkbuch für den Bezirk Schlobin" und erstellte später das mehrbändige "Gedenkbuch der im Kampf gegen Nazideutschland gefallenen jüdischen Soldaten". Er recherchierte und dokumentierte die Namen und Schicksale derer, die umgekommen waren – als seine Pflicht, die Erinnerung an sie wachzuhalten. Bis heute bewahrt er die Gedenkbücher in seiner Wohnung wie einen kostbaren Schatz.

Dieser Beitrag ist Teil des Externer Link: Shared History Projektes vom Externer Link: Leo Baeck Institut New York I Berlin.

Weitere Inhalte

Karen Körber forscht am Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg, zur jüdischen Zeitgeschichte nach 1945 und zum gegenwärtigen sozialen und religiösen Wandel der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Körber, Karen: Lebenswirklichkeiten. Junge russischsprachige Juden in der deutschen Einwanderungsgesellschaft, Göttingen 2021.

Irina Ginsburg ist Beraterin bei OFEK Hessen und politische Bildnerin zu Antisemitismus- und Rassismusprävention. Für das Jüdische Museum hat sie die МЫTEINANDER-Reihe konzipiert. Sie studierte Sozialwissenschaften und Soziologie in Gießen und Frankfurt. Danach absolvierte sie ein wissenschaftliches Volontariat am Jüdischen Museum Frankfurt mit der inhaltlichen Programmatik "kulturelle Vielfalt und Migration".