Positionen einer europäischen Erinnerungspolitik
Erinnern und Vergessen
Die im Rahmen eines DFG-Projekts entstandene Forschungsarbeit Anna Zofia Musiołs untersucht den Wandel der Erinnerungskulturen in Deutschland und Polen mit dem Ziel, die sich abzeichnenden Veränderungen in beiden Ländern (Wiedervereinigung Deutschlands und Demokratisierung der polnischen Gesellschaft) am Beispiel von zwei Aufsehen erregenden Debatten, der Walser-Bubis-Debatte 1998 und der Debatte um Jedwabne 2000, in einem diskursanalytischen Verfahren darzustellen. Ihre Auslöser waren zum einen die Festrede von Martin Walser aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, zum anderen die Buchpublikation des polnisch-amerikanischen Historikers Jan Tomasz Gross "Nachbarn" (2000), der Geschichte der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne im Sommer 1941. An beiden Diskursen lasse sich, so die Verfasserin, "die Dynamik in der öffentlichen kollektiven Erinnerung deutlich ablesen." (15).Die in der Einleitung vorgenommene methodische Hinführung zum Untersuchungsverfahren (empirischer und theoretischer Zugang wie auch Präzisierung des Erinnerungsbegriffs), die Erläuterung der Diskursanalyse sowie des Modus Operandi, einschließlich der Operationalisierungsaspekte der Vergleichsanalyse führen in den Vergleich deutscher und polnischer Erinnerungskulturen ein. Der umfangreiche Hauptteil setzt sich in transparenten Zwischenstufen mit den diskursanalytischen Verfahren zur Deutung der beiden Debatten auseinander. Dabei entwickelt Musioł im Hinblick auf ihre beiden zu untersuchenden Debatten differenzierte Deutungsmuster unter Berücksichtigung der spezifischen, in den beiden Ländern abgelaufenen Erinnerungsprozesse. Ihre fein abgestuften, methodisch adäquaten Verfahren führen bereits in den Zwischenbefunden zu Ergebnissen, deren transparente Erläuterung allerdings aufgrund der intensiv gepflegten soziologischen Fachsprache sich als schwierig erweist. Es handelt sich hierbei um ein Repertoire von "Attributierungsprozessen" (Schuld, Scham, Schande im Walser-Bubis-Streit; Kollektivschuld als Stammesverantwortung wie auch Fremd- und Eigenscham im Falle der Jedwabne-Debatte), das im Rahmen dieser überblickartigen Besprechung nicht im Detail kommentiert und bewertet werden kann.
Das Resümee der Forschungsergebnisse, die aufgeteilt sind in a) Untersuchung der Grundtendenzen und Vergleichsaspekte der Debatten, b) akteurbezogene Parallelen der Debatten, c) kontextbezogene Unterschiede in der deutschen und polnischen Erinnerungslandschaft und d) prognostische Aspekte im Hinblick auf die Re-Definitition des geschichtlichen Prozesses in beiden Ländern, enthält hinsichtlich zu erwartender Veränderungen beim Umgang mit Erinnerung bei unseren östlichen Nachbarn eine wesentliche Aussage: "Aufgrund der politischen Wende von 1989 kommt es zu einem Paradigmenwechsel der Machtverhältnisse, was sich im Bereich der Erinnerung in dem Wandel der Erinnerungskonjunktur (…) widerspiegelt. Im Rahmen der Demokratisierungsprozesse des gesellschaftlichen Lebens erfolgt im Erinnerungsbereich eine enorme Mobilisierung von Emanzipationsprozessen, die Legitimierung und Aufwertung ihres eigenen Vergangenheitsbildes anstreben." (285) Was bezogen auf die polnische Erinnerungskultur sich nunmehr in einem offenen Diskurs über den bis 1989 unterdrückten und verdrängten Antisemitismus artikuliere und in dem Abschied vom nationalen Opfer- und Märtyrer-Mythos münde, das führe in der deutschen Debatte zwischen dem provozierenden Schriftsteller Martin Walser und dem empörten Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Ignatz Bubis zu einer Normalisierung, die an das affirmative Selbstbild der Deutschen gekoppelt sei. Und dieses Selbstbild, so der Politologe Hajo Funke, stärke die Bedeutung der Walser-Bubis-Debatte umso mehr, als die ihr eigene Kontroverse der "gesellschaftliche(n) Relevanz für die Selbstdefinition der Deutschen und der Berliner Republik" (285) zugeschrieben werde.
Wie komplex auch solche Ergebnisse ausformuliert werden, es bleibt die optimistische Prognose, wonach laut Aleida Assmann im Rahmen des Modells der gesamteuropäischen Normen- und Wertegesellschaft sich die Idee einer gemeinsamen Erinnerung durchsetzen werde. Die deutsche und auch – mit einer gewissen Verzögerung – die polnische Erinnerungsgemeinschaft sind auf dem besten Weg dorthin.