Langsamer Abschied von der DDR
Kommentar zu einer Festrede von Hans Mayer auf Anna Seghers am 26. Januar 1962
Aus Anlass des Erscheinens der Nr. 9.000 von "Reclams Universalbibliothek" hielt Hans Mayer im Januar 1962 eine "Kleine Festrede" auf Anna Seghers. Mayers unveröffentlichte Laudatio lässt einen Wendepunkt in seinem Verhältnis zum Führungszirkel der SED erkennen, mit weitreichenden Folgen für den deutsch-deutschen Literaturaustausch.Im traditionellen Reclam-Verlag sind Betriebsjubiläen gefeiert worden, nicht aber die Herausgabe von Büchern. Dass die Veröffentlichung einer "runden" Nummer mit einem Festakt einherging, geschah zum ersten Mal im Leipziger Nachkriegsverlag, als Verlagsleiter Gerhard Keil und Cheflektor Hans Marquardt im Jahr 1954 das Erscheinen von Leonhard Franks Erzählung "Karl und Anna" als Nummer 8.000 in "Reclams Universal-Bibliothek" (RUB) mit einer Feier verbanden. Es entsprach seinerzeit nicht nur dem Anliegen von Partei, Kulturministerium und Verlag, dem kulturellen Vertretungsanspruch des ostdeutschen Teilstaates größeres Gewicht zu geben, sondern auch dem des Festredners Hans Mayer, seit 1948 Professor für Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Leipzig.
Im Verlagsarchiv wurde eine in Vergessenheit geratene und als Ganzes unveröffentlicht gebliebene Rede Hans Mayers auf Anna Seghers gefunden, abgelegt als Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen und als Reinschrift. Sie lag zwischen Autorenbriefen, Verlagskorrespondenz und Papieren der Veranstaltungsorganisation zum Jubiläum von RUB-Band Nummer 9.000 aus der Zeit zwischen Mai 1961 und Februar 1962.[1]
Das Jubiläum der Nummer 9.000 ist geeignet, sowohl die kulturpolitischen Verhältnisse in den frühen Sechzigerjahren in Ostdeutschland aus der Perspektive eines seiner wichtigsten Verlage als auch die Inszenierung von deren literarischer Öffentlichkeit im deutsch-deutschen Spannungsfeld zu beleuchten. Der besondere zeit- und der literaturhistorische Wert der Rede besteht darin, dass hier bei Hans Mayer – als einem der wichtigsten Vertreter der kulturellen Elite der DDR – ein politischer und auch intellektueller Wendepunkt zu erkennen ist. Nachvollziehbar wird zudem, wie sich aus seiner veränderten intellektuellen Haltung Mayers Verhältnis zum Führungszirkel der SED zu wandeln beginnt.
I. Nummer 9.000: Nicht Georg Maurer, sondern Anna Seghers

Der seit 1. April 1961 als kommissarischer Verlagsleiter und weiterhin als Cheflektor fungierende Hans Marquardt kümmerte sich persönlich um die konzeptionellen und organisatorischen Vorbereitungen der prominenten Veranstaltung, um schnell auf die wechselnden kulturpolitischen Vorgaben reagieren zu können. Die politische Brisanz einer solchen Jubiläumsveranstaltung war enorm gestiegen und damit auch die Bedeutung der Festrede. Mit Spannung war außerdem zu erwarten, wie Marquardt mit den neu gesetzten kulturpolitischen Spielräumen umgehen würde.
Während Hans Marquardt am 17. Mai 1961, eine Woche vor Beginn des Schriftstellerkongresses, von diesem ausgeladen wurde – offizielle Begründung: Der Schriftstellerverband müsse bei den ohnehin sehr begrenzten Platzverhältnissen "in erster Linie für die Unterbringung der ausländischen und westdeutschen Gäste sorgen"[2] –, hatte Hans Mayer, der kein Mitglied des Verbandes war, "drolligerweise" – wie er selbst sagte – noch im Mai eine Einladung zum Kongress erhalten. Er habe aber "ganz freundlich" abgesagt wegen der lang geplanten Reise zur Hauptversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Tübingen. Den wahren Grund seiner Absage erfuhr Stephan Hermlin. Die Lektüre dessen, "was sich da als Schriftstellerkongress ankündigt", habe er vor seinem Urlaub als "gesundheitsschädigend" empfunden. Nach dem Urlaub würde "der Eindruck des Komischen" überwiegen.[3]
Tatsächlich wurden beim V. Schriftstellerkongress vor allem die großen Erfolge des Bitterfelder Wegs zelebriert. Während der Staatsrats- und Parteivorsitzende Walter Ulbricht westdeutsche Autoren zu umwerben versuchte und der Leiter der Kulturkommission beim Politbüro des SED-Zentralkomitees, Alfred Kurella, davor warnte, von "zwei deutschen Literaturen" zu sprechen, nahm Kulturminister Alexander Abusch den Mauerbau ideologisch vorweg.
Einem Vorschlag von Hubert Witt, 1959–1986 Lektor im Reclam-Verlag, den Jubiläumsband mit Gedichten von Georg Mauer zu belegen, war kein Erfolg beschieden.[4] Denn Maurer, obwohl im Juni 1961 mit dem Johannes-R.-Becher-Preis ausgezeichnet, entsprach nicht der damals gültigen Doktrin des "sozialistischen Realismus". Nachdem er im Jahr 1955 am Leipziger Literaturinstitut "Johannes R. Becher" seine Tätigkeit als Lehrer für Lyrik aufgenommen hatte, galten seine Lehrmethoden bald als "unüblich" und waren "daher auch nicht unumstritten".[5] Dem Bildungsdefizit einer Generation von jungen und nicht mehr ganz jungen Schriftstellern, die Faschismus, Krieg und Nachkrieg erlebt hatten, stehe "sein Angebot gegenüber, ihnen den Blick in das Erbe der Weltlyrik zu öffnen", beschrieb der Schriftsteller Heinz Czechowski 1982 Maurers Programm. Der Staatssicherheitsdienst beurteilte den parteilosen Georg Maurer, dessen Loyalität gegenüber Ernst Bloch und Hans Mayer schon in den Fünfzigerjahren Misstrauen erregt hatte, als "einseitig ästhetisch orientiert und politisch weltfremd".[6]
Hans Marquardt, knapp ein Jahr Verlagsleiter und Cheflektor in Personalunion, setzte von Beginn an mit Anna Seghers auf eine Persönlichkeit, die in Ost und West Anerkennung genoss, deren jüngstes Werk den ästhetischen und kulturpolitischen Leitlinien entsprach und die als Präsidentin des Deutschen Schriftstellerverbandes (DSV) zugleich die Kulturpolitik der DDR verkörperte.[7] Kurios erscheint heute, dass der Verlag offensichtlich die Wahl des Titels für die Nummer 9.000 mit dem DSV abstimmte. Denn zuerst hatte man die Skizzensammlung "Der erste Schritt" bevorzugt, dann die Erzählung "Der Mann und sein Name" (1952) und die Sammlung "Die Kinder" (1951)[8] geprüft und schließlich im Oktober wieder auf Seghers' Sammlung "Der erste Schritt" (1953) zurückgegriffen.[9] Doch nachdem der lizenzgebende Aufbau-Verlag endlich gewillt schien, wegen Reclam seine "bb"(billige bücher)-Ausgabe ein halbes Jahr zurückzustellen, stimmte möglicherweise Anna Seghers dem Vorschlag nicht mehr zu.

Bemerkenswert bleibt hier nicht nur die kurze Produktionszeit für Taschenbücher, die ein Überbleibsel der privatwirtschaftlichen Betriebsstruktur des Verlags und der angeschlossenen Druckerei darstellte, sondern auch, dass Mayer erst in den späten Oktobertagen vom Verlag zu Nachwort und Festrede eingeladen wurde. Die Einladung kann als mit dem Kulturministerium abgestimmte Reaktion auf Mayers Beschwerde gelten, dass er nicht im Widmungsband zum 60. Geburtstag der Autorin im Jahr 1960 vertreten war.[12]
Die beiden Exilanten Anna Seghers (Exilländer Frankreich/Mexiko) und Hans Mayer (Frankreich/Schweiz), Juden, linksrheinischer und bürgerlicher Herkunft, traten in jenen Monaten trotz aller Übereinkunft im Glauben an die politische, wirtschaftliche und soziale Überlegenheit der DDR eher als Kontrahenten in Erscheinung. Nach der Rückkehr von ihren Reisen ins westliche Ausland sah sich die Präsidentin des Schriftstellerverbands nach dem Mauerbau im politischen System der DDR fester denn je verankert, während Mayer lavierte und "zwischen den Stühlen sitzend" sich widersprüchlich verhielt, wie Jürgen Teller im Januar 1963 gegenüber Ernst Bloch resümierte.[13]
Die Säuberung an der Leipziger Universität war mit der Zwangsemeritierung des Philosophen Ernst Bloch im Frühjahr 1957 vorerst beendet, markierte aber, wie sich nun zeigte, nur den Beginn der Zerstörung einer einzigartigen Lehrsituation, in der seinerzeit ein "Trupp jüdischer Emigranten aus Amerika", "die recht stark vertretenen 'Westemigranten'" und Vertreter vom "inneren Widerstand" als "maßstabsetzende Lehrer dreier Generationen, dreier Erfahrungen in gemeinsamer Anstrengung" zu arbeiten begonnen hatten, wie der Historiker Walter Markov notierte.[14] Denn im Herbst 1961 wurde der Konflikt von der örtlichen Parteibürokratie neu entfacht und auf Hans Mayer konzentriert. Nachdem die Architektin Karola Bloch und Ernst Bloch im Sommer 1961 der DDR den Rücken gekehrt hatten und der Romanist Werner Krauss nach Ost-Berlin gewechselt war, sah sich Hans Mayer, ohne seine wichtigsten Gesprächspartner und Freunde, isoliert und, unter verschärfter Beobachtung durch die SED und das Ministerium für Staatssicherheit, seine pädagogische und wissenschaftliche Arbeit bedroht.
Während Bloch im November 1961 eine Gastprofessur an der Universität Tübingen antrat, verbrachte Mayer sein in Hamburg geplantes Arbeitssemester nun in Leipzig, nicht ohne trotzig anzukündigen, dass "alle Einladungen an Westdeutsche (…) aufrecht erhalten" werden.[15] Mit Verve hielt er an der Einladung Heinrich Bölls in die DDR fest, die dieser krankheitsbedingt im Juni 1961 abgesagt hatte.[16] Um der erneuerten Einladung mehr Nachdruck zu verleihen, suchte Mayer den Kontakt zu Herbert Dost, Leiter des Evangelischen Amtes für Gemeindedienst in der Stadt Leipzig.[17] Als Reaktion auf den Mauerbau organisierten Dost und Mayer gemeinsam Lesungen und Vorträge für Böll in der Zeit vom 22. bis 25. Januar 1962 am Institut für Deutsche Literaturgeschichte und in den Leipziger und Greifswalder Spielgemeinden.[18] Doch Heinrich Böll sagte auch die zweite Einladung ab, nun aus tagespolitischen Gründen. Die Isolation, die Mayer umgab, hatte sich deutlicher konturiert.