Die Transitautobahn A 24 zwischen Hamburg und Berlin
Eine deutsch-deutsche Bau- und Beziehungsgeschichte
Anbahnung von Beziehungen durch eine Autobahn
Dass die Verbindung zwischen Hamburg und Berlin in der Verkehrsplanung der Bundesregierung fehlte, wurde in der Presse der Bundesrepublik immer wieder thematisiert. In den späten 1960er- und in den 70er-Jahren berichteten Tageszeitungen hier in regelmäßigem Abstand über das Problem des sogenannten Berlin-Verkehrs[21], und auch der Bundestags-Ausschuss für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen beriet mehrmals über den Transitalltag und seine Bestimmungen.[22] Auch die Bundesregierung beschäftigte sich mit dem Transitverkehr, speziell wenn es um die Verkehrsverbindungen im Zonenrandgebiet ging. In der Kabinettssitzung am 21. Juli 1965 setzte Bundesverkehrsminister Seebohm sich für eine langfristige Förderung des Zonenrandgebiets ein. Insbesondere hielt er es für notwendig, "die Frachthilfe auszubauen und möglichst weitgehend mit billigen Krediten und Abschreibungsmöglichkeiten zu kombinieren".[23]Überhaupt schien seit Mitte der 1960er-Jahre auf beiden Seiten eine neue Bereitschaft spürbar zu sein, den mühsamen deutsch-deutschen Transitalltag durch Gespräche und neue Vereinbarungen zu erleichtern, wie die vielfach zitierte Rede von Egon Bahr "Wandel durch Annäherung" 1965 zeigt. Dennoch verwies auch Bahr auf die Grenzen der Annäherung, insbesondere in Bezug auf eine mögliche Anerkennung der DDR: "Niemand von uns erkennt das Ulbricht-Regime an, wenn er in Töpen, in Marienborn oder in Lauenburg Wegegebühr zahlt und seinen Personalausweis im Schlitz verschwinden läßt, hinter dem er überprüft wird. Daß wir einer Reihe von Kategorien von Menschen empfehlen, den Luftweg zu benutzen, weil die anderen Wege eben nicht frei von Zugriffsmöglichkeiten des Ulbricht-Regimes sind, ist auch keine Anerkennung."[24] Die politische Linie der neuen Ostpolitik, der die sozialliberale Koalition ab 1969 folgte, zielte auf eine staatsrechtliche statt einer völkerrechtlichen Anerkennung – und somit auf eine Annäherung durch Gesprächsrunden zu den deutsch-deutschen Beziehungen. Grundlegende Fragen wie Handelsbeziehungen und Transitregelungen wurden 1971 im Transitabkommen und 1972 im Grundlagenvertrag behandelt. Für die Planung der A 24 stellen diese Vereinbarungen den entscheidenden Wendepunkt dar.
Bis in die 1970er-Jahre war in der westdeutschen Presse immer wieder über willkürliche Gebührenerhebungen an Grenzübergängen seitens der DDR-Organe berichtet worden. Die DDR verdiente tatsächlich gut daran und versuchte von dem vereinbarten Sondertarif abzuweichen, indem sie die Gebühren nach Nutzlast berechnete. Am 16. Februar 1970 berichtete die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" über Vorfälle an der Grenzübergangsstelle Marienborn, an der Spezialfahrzeuge wie Milch- und Tanktransporter auf der Strecke Helmstedt–Berlin sonst mit einem Pauschalpreis von 15 Mark bzw. mit Anhänger 30 Mark zu rechnen hatten. Nun sollten sie 50 bis 85 Mark zahlen.[25] Diese Unregelmäßigkeiten sollten durch eine verbindliche, im Transitabkommen verankerte Gebührenordnung abgestellt werden.

Der Aushandlungsprozess dieses ersten Regierungsabkommens zwischen beiden deutschen Staaten war mühsam gewesen, zugleich wurden jedoch große Hoffnungen in die Vereinbarung gesetzt: "Zu überwinden waren, neben rein sachlichen Schwierigkeiten, starke Barrieren des Mißtrauens. In dem Maße, wie sich das Abkommen in der Praxis bewährt, wird es zum Abbau des Mißtrauens zwischen den beiden deutschen Staaten in Deutschland beitragen. […] Für sich genommen ist das Abkommen darüberhinaus ein Zeichen der Ermutigung und der Hoffnung. Die Aussichten für praktische Verbesserungen in Deutschland sind jetzt realer."[27] In der Praxis wurden die prognostizierten positiven Folgen des Transitabkommens zumindest teilweise subjektiv spürbar. So berichtete der "FAZ"-Korrespondent Peter Jochen Winters 1972 von Testbesuchen an verschiedenen Grenzübergängen wie Heerstraße/Staaken im Berlin-Verkehr, in Helmstedt/Marienborn oder in Herleshausen/Wartha: "… immer erlebte ich die gleiche freundliche und zuvorkommende Behandlung durch die DDR-Grenzorgane, immer wurden die Formalitäten innerhalb weniger Minuten abgewickelt, und niemals interessierte sich einer der DDR-Zollbeamten für den Inhalt meines Kofferraums oder meines Gepäcks, selbst wenn das Auto bis obenhin vollgeladen war."[28] Vorher hätten die Kontrollen um Stunden länger gedauert und man sei stets der Willkür der DDR-Grenzposten ausgeliefert gewesen. Die gesetzlichen Regelungen des Transitabkommens aber verhinderten dies nun, so Winters in der "FAZ". Noch knapp zehn Jahre zuvor hatte es den Anschein gehabt, als seien die Autobahnen umkämpftes Gebiet im Kalten Krieg; Berichte über einen reibungslosen Reiseverkehr sind kaum zu finden.
Das Transitabkommen sorgte zweifellos für eine Normalisierung im deutsch-deutschen Reiseverkehr, die auch am Anstieg des Transitverkehrsaufkommens abzulesen ist: 1965 reisten im Berlin-Transit über die Grenzübergangsstelle (in der Amtssprache der DDR kurz: GÜSt) Drewitz 1.468.185 PKW, 1988 schon 5.601.198 PKW.[29] Die Diskussionen um weitere Autobahnbauten, etwa zur Entlastung der Transitstrecke Hannover–Berlin, nahmen nun in der Bundesrepublik Anfang der 1970er-Jahre Fahrt auf. Immer noch führte der Transitverkehr zwischen Hamburg und Berlin über eine Fernstraße. Dieser Transitweg war für die DDR-Behörden schwer kontrollierbar und für die Reisenden aus Westdeutschland und West-Berlin unwägbar; für beide Seiten war deshalb eine Autobahn wünschenswert.
Erste Vorschläge zum Bau einer Autobahn zwischen der Hansestadt und Berlin hatte der Hamburger Wirtschaftssenator Helmuth Kern schon in den späten 1960er-Jahren unterbreitet.[30] Anlässlich seiner Messe-Besuche in Leipzig diskutierte er jedoch zunächst über den Streckenverlauf Hamburg-Rostock-Berlin. Erst in den frühen 1970er-Jahren mehrten sich die Schlagzeilen über eine direkte Autobahn-Verbindung zwischen Hamburg und Berlin.

Die deutsch-deutschen Verhandlungen begannen 1974, nachdem die Verkehrsminister der betroffenen Bundesländer auf einer gemeinsamen Konferenz einen Appell an den Bundesverkehrsminister gerichtet hatten, diesbezügliche Gespräche mit der DDR aufzunehmen. Die Kosten schätzte das Bundesverkehrsministerium auf bis zu 50 Millionen DM pro Autobahnkilometer. In West-Berlin musste ein Anschluss an die DDR-Strecke Berlin–Wittstock geschaffen und in Schleswig-Holstein eine Trasse von Hamburg bis zur innerdeutschen Grenze gebaut werden.
Zeitgleich mit den Verhandlungen begann in den westlichen Bundesländern aber auch ein Streit über die Trassenführung. Laut Bundesfernstraßengesetz obliegt zwar die Zuständigkeit für die Planung der Bundesfernstraßen dem Bundesministerium für Verkehr, die Verwaltungszuständigkeit wird jedoch den Ländern übertragen, die parallel zu denen des Bundes eigene verkehrspolitische Interessen durchsetzen wollten. Das Land Niedersachsen befürwortete eine Trassenführung durch das Wendland, während Schleswig-Holstein für einen Anschluss an die A 1 zwischen Hamburg und Lübeck kämpfte.[34]
Hinzu kamen zivilgesellschaftliche Proteste. Diese Streitigkeiten führten zu stark asymmetrischen Bauverläufen: Während in der DDR unmittelbar nach Ende der Verhandlungen 1978 mit dem Bau der Strecke begonnen wurde, debattierten in der Bundesrepublik Umweltschützer und Politiker weiterhin über die Trassenführung. Unter der Überschrift "Bis jetzt stimmt's nur auf dem Papier" berichtete zum Beispiel das "Hamburger Abendblatt" 1979 über die Proteste von Umweltschützern gegen die Trassenführung durch den Sachsenwald und über die Weigerung der Familie Bismarck, Bauland zur Verfügung zu stellen.[35] Die Diskussionen wurden schließlich durch eine Direktive des Bundesverkehrsministeriums beendet. Inzwischen hatte die DDR den östlichen Teil der Strecke von Berlin bis Wittstock bereits fertiggestellt.
Der Beschluss über den Bau der A 24 wurde in der westdeutschen Presse wohlwollend aufgenommen. Das "Handelsblatt" bezeichnete die neue Autobahn als ein "Geschenk für Hamburg".[36] Das Geschenk war jedoch nicht billig: Bis zur Fertigstellung der Autobahn 1982 investierte die Bundesrepublik 1,25 Milliarden DM. Das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" sah im Bau der A 24 einen wichtigen Schritt im Entspannungsprozess zwischen den beiden deutschen Staaten.[37] Ganz ähnlich sahen das die westeuropäischen Nachbarn. Die englische "Times" gab schon einen Tag vor dem Abschluss der Verhandlungen eine Einschätzung ab: "The agreement is also seen as yet another bond between East and West Germany. It is another stabilizing element which could ensure that cooperation and dialogue would continue even if the atmosphere between Washington and Moscow suddenly became stormy or strained."[38]
Bis 1982, innerhalb von vier Jahren, wurden die fehlenden Streckenteile auf Seiten der Bundesrepublik und der DDR gebaut. Das 76 Kilometer lange Teilstück von Berlin bis Wittstock war bereits 1978 zur Komplettierung der Autobahnverbindung Berlin–Rostock fertiggestellt worden. Es fehlten nun auf dem Gebiet der DDR noch 125 Kilometer zwischen Wittstock und Zarrentin, deren Bau das Autobahnbaukombinat bis zum Sommer 1982 durchführen konnte.[39] Auf der Westseite bangte man allerdings, ob der vereinbarte Zeitraum bis zur Fertigstellung der Trasse im November 1982 tatsächlich eingehalten werden könne. Das "Hamburger Abendblatt" befürchtete im Oktober 1980, es "könnte für Bonn eine peinliche Situation entstehen, wenn die neue Autobahn auf der östlichen Seite des Grenzzauns endet."[40] Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtete über das "deutsch-deutsche Autobahn-Kuriosum", verwies allerdings auf die Unterschiede des Autobahnbaus in Ost und West: "Während in der DDR Rodungs- und Bautrupps seit gut anderthalb Jahren – natürlich unbehelligt von Protesten aus der Bevölkerung – die Trasse vorantreiben, hagelte es im Holsteinischen von Beginn an Proteste gegen die 'Nordtrasse'. Klagen vor dem Verwaltungsgericht und Baustopps waren die Folge."[41] Die Umweltaktivisten konnten sich nicht durchsetzen, ihre Klagen wurden abgewiesen und der Bau fortgesetzt.[42] Auf dem mit 44,2 Kilometer kürzesten Stück der Strecke konnte dabei bis zum Sachsenwald auf die baulichen Relikte der bis 1941 in Teilen fertiggestellten Reichsautobahnstrecke Hamburg–Berlin zurückgegriffen werden. Die Brücken des als Gebietsarchitekt Nordwest eingesetzten Hamburger Architekten Konstanty Gutschow sowie die Trassenführung der damaligen Projektierung wurden übernommen.[43]
Verbindungsbahn in Zeiten unterkühlter deutsch-deutscher Beziehungen
Am 20. November 1982 wurde die A 24 dem Verkehr übergeben und die B 5 bzw. Fernstraße 5 (Hamburg–Lauenburg–Boizenburg–Nauen–Berlin) für den Transitverkehr gesperrt.[44] Die Strecke wurde von Bundesverkehrsminister Werner Dollinger und vom Verkehrsminister der DDR, Otto Arndt, eröffnet. Dollinger und Arndt näherten sich an der Grenzübergangsstelle von Westen (Gudow) und Osten (Zarrentin), um die Strecke zu eröffnen. Anschließend lud Arndt Dollinger zu einem Mittagessen in die Raststätte Stolpe/Mecklenburg ein. Otto Arndt betonte – so zitierte ihn das "Neue Deutschland" drei Tage später –, "daß es bei strikter Achtung der Grundsätze der Souveränität, der Gleichberechtigung, der territorialen Integrität, der Nichteinmischung und des gegenseitigen Vorteils möglich ist, für alle Beteiligten vorteilhafte Regelungen zu verwirklichen."[45]Etwas weniger bürokratisch und in euphorischer Erwartung der neuen Transitverbindung klangen die Kommentare in der westdeutschen Presse: "Geburtstag einer Autobahn. Am Sonnabend rücken Hamburg und Berlin näher zusammen";[46] die Autobahn sei "kulturgeschichtlich (…) ein Schritt zur Erschließung der letzten Terra Incognita auf deutschem Boden".[47] Neben dieser positiven Begrüßung der Autobahn wurden vor allem Tipps zur Benutzung gegeben, etwa die Einhaltung des Tempolimits von 100 Stundenkilometern, Angaben zu Tank- und Raststätten, der Hinweis, die Strecke auf keinen Fall zu verlassen, und Verhaltensregeln im Fall einer Panne bzw. eines Unfalls.[48]
