Ulrich Müthers Schalenbauten im Bauwesen der DDR
III.
Müthers erste Aufträge ergaben sich Stück für Stück aus seinem Lebensweg, der besonders von seiner Neigung zur Mathematik und durch sein unternehmerisches Talent geprägt war. Eine Schlüsselfunktion nimmt sein erstes Projekt ein, das aus seiner Diplomarbeit hervorging.
Das Schalendach des "Hauses der Stahlwerker" nimmt eine Schlüsselfunktion im Werk Ulrich Müthers ein: Es war die erste Hyparschale, die er verwirklichte, und sie zog eine über 30 Jahre anhaltende Tätigkeit im Bereich Schalenbau nach sich. Außerdem zählt die heute nicht mehr erhaltene Konstruktion zu den frühesten Anwendungsbeispielen von HP-Stahlbetonschalen in der DDR.[24] Darüber hinaus stellt sie eine Pionierleistung Müthers in Bezug auf die weitere Entwicklung von monolithischen, individuell projektierten sowie handwerklich ausgeführten Betonschalen in der DDR dar.


Müthers viertes Projekt, sein erstes außerhalb von Rügen, entstand gleichfalls 1966: die bereits erwähnte Halle "Bauwesen und Erdöl" für die alljährlich stattfindende Ostseemesse in Rostock, die er in Zusammenarbeit mit dem Rostocker Architekten Erich Kaufmann realisierte. Für sie erhielt Müther erstmals öffentliche Anerkennung.[28]

IV.
Im Zusammenhang mit dem Bau der Schalen in Rostock, insbesondere des prominenten "Teepotts" in Warnemünde, wurde der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung von Berlin, Paul Verner, der als Mitglied der Parteispitze häufig an den Eröffnungen der Schalenbauten teilnahm, auf Müther aufmerksam. Verner setzte sich dafür ein, dass auch in der Hauptstadt eine "Müther-Schale" gebaut wurde – das "Ahornblatt".[30]Bereits 1967 waren der Architekt Erich Kaufmann vom VEB Hochbauprojektierung Rostock und Ulrich Müther durch den Hauptplanträger, den Magistrat von Groß-Berlin, mit der Ausarbeitung einer Studie für eine "zentrale Betriebsgaststätte" in Ost-Berlin beauftragt worden.[31] Die Großgaststätte war Bestandteil des gesellschaftlichen Zentrums für das neue Wohnquartier "Fischerinsel", das zwischen 1967 und 1973 nach dem Flächenabriss der Altbausubstanz im südlichen Teil der in Berlin-Mitte gelegenen Spreeinsel mit sechs 21-geschossigen Wohnhochhäusern in Großtafelbauweise errichtet wurde.[32] Die städtebauliche Konzeption der Neubebauung beruhte auf Plänen des Architekten-Planungsstabs unter Leitung von Joachim Näther, dem Chefarchitekten von Groß-Berlin (also Ost-Berlin), sowie von Peter Schweizer und Manfred Zache.[33] Der Komplex des Versorgungszentrums des Wohngebiets, zu dem neben der eingeschossigen Gaststätte "Ahornblatt" auch ein baulich angeschlossener Flachbautrakt mit Großküche und einer Ladenpassage gehörte, wurde vom Generalauftragnehmer, dem Wohnungsbaukombinat Berlin, geplant: Die Architekten Gerhard Lehmann und Rüdiger Plaethe waren für den Entwurf verantwortlich, die städtebauliche Konzeption oblag dem Architekten Helmut Stingl.[34]
Die Großgaststätte "Ahornblatt" wurde 1970 errichtet und 1973 eröffnet.[35] Seine prägnante Gestalt erhielt das Gebäude durch die Dachkonstruktion, eine dünnwandige, nur sieben Zentimeter starke Betonschalenkonstruktion in Form eines Ahornblatts. Mit seinen fünf fächerartig aneinandergefügten Schalen war das "Ahornblatt" ein besonders ausgefallenes Bauwerk.
Unter großem öffentlichen Protest wurde das Baudenkmal im Jahr 2000 abgebrochen. Durch den Abriss setzte jedoch eine neue Wertschätzung für das Werk des Schalenbaumeisters Müther ein.[36] Das "Ahornblatt" zählt einerseits aus konstruktiv-gestalterischen Gründen zu den Hauptwerken Müthers, andererseits übernimmt es aufgrund seiner Abrissgeschichte eine Schlüsselfunktion für die Rezeptionsgeschichte der "Müther-Schalen".[37]
V.
Einen bedeutenden Auftrag, die Rennschlittenbahn in Oberhof, erhielt Ulrich Müther im Zusammenhang mit der Spritzbetontechnologie, die in seiner Firma erprobt und weiterentwickelt wurde.[38] Die ersten Schalenbauten hatte die PGH Bau Binz mit Transportbeton und einer Betonpumpe hergestellt, bis Müther 1968 eine Spritzbetonmaschine von der westdeutschen Firma Torkret erhielt, die für das Trockenspritzverfahren geeignet war und die erstmals beim Bau der Mehrzweckhalle in Rostock-Lütten Klein zum Einsatz kam.[39]Mit einer anderen Technik, dem Nassspritzverfahren, das sich auch für schalungsloses Spritzbetonieren eignete, erweckte Müther 1970 erneut große Aufmerksamkeit. In Oberhof wurde durch Müthers Firma weltweit erstmalig eine Rennschlittenbahn schalungslos im Nassspritzverfahren hergestellt.[40] Dieser Umstand ist deshalb frappierend, weil Müther bis dahin noch kein Schalentragwerk ohne Schalung erbaut hatte, also über kein diesbezügliches Referenzobjekt verfügte. Seiner eigenen Aussage zufolge erhielt er diesen Auftrag, weil er "leichtsinnigerweise" einmal erklärt habe, seine Firma sei in der Lage, eine Rennschlittenbahn schalungslos in Spritzbeton herzustellen.[41] Daraufhin sei in einem Ministerratsbeschluss der DDR festgelegt worden, dass die PGH Bau Binz diese Bahn bauen werde. In Fachkreisen galt damals die Technik des schalungslosen Betonierens als innovativ.[42]
Die Initiative zur Anwendung des Nassspritzverfahrens bei diesem Projekt war von Müther selbst ausgegangen. Anhand einer Musterfläche hatte er festgestellt, dass seine Trockenspritzmaschine nicht leistungsstark genug war, um die Flächen in einer angemessenen Qualität herzustellen. Daraufhin erhielt Müther den Auftrag, sich um die Beschaffung einer "Hochleistungsmaschine" zu kümmern.[43] Er bekam von der zuständigen Bezirksbaudirektion Rostock eine Reisegenehmigung und besorgte – mithilfe einer Kontaktvermittlung durch den in West-Berlin lebenden Tragwerksplaner Stefan Polónyi – im hessischen Gelnhausen eine Nassspritzmaschine, mit der die Binzer Spezialisten das Tragwerk in Oberhof schließlich betonierten. Das in Oberhof praktizierte Herstellungsprinzip, zu dem neben Müthers Technologie die Erkenntnisse anderer Ingenieure in Bezug auf Statik und Aufbau der Konstruktion beitrugen, diente als Vorbild für weitere Rennschlittenbahnen im In- und Ausland.[44]