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Die besten Botschafter Europas | Geschichte im Fluss. Flüsse als europäische Erinnerungsorte | bpb.de

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Die besten Botschafter Europas

Uwe Rada

/ 15 Minuten zu lesen

Lange Zeit waren Flüsse in Europa Symbole für Grenzen. Doch das waren sie nicht immer. Um ihre Rolle als verbindendes Band wieder in den Vordergrund zu rücken, braucht es aber gemeinsame, grenzüberschreitende Erinnerungsorte.

Die Donau bei Bukarest in der Nähe von Constanta. Hier war Ovid im Exil. (© Inka Schwand)

György Konrád, der große ungarische Essayist, hat einmal gestanden, dass er in Budapest am liebsten auf die Donau schaue. Ein wenig spiele dabei auch das Fernweh eine Rolle. "Seevölker sind immer weltoffen, wir aber, Bayern, Österreicher, Ungarn und Serben, haben kein Meer", bedauert Konrad, der 1933 in Debrecen geboren wurde und nur knapp den Nazis entkam. "Für uns ist die Donau die Verheißung des Meeres. Über sie können wir zu fernen Gestaden gelangen; sie durchquert uns und löst unser Eingesperrtsein auf."

Der Fluss als Fenster in die Ferne. Das ist der optimistische Blick auf die Donau, den Konrád wieder wagen will. Der andere, der pessimistische, war vor nicht allzu langer Zeit traurige Realität. "Das erste Opfer des Kriegs ist die Brücke", weiß auch der Essayist. Doch der Balkankrieg ist Geschichte, und vor der Donau stehen die Aufgaben der Zukunft. Sein "Geständnis" trug Konrád 2010 auf der Generalversammlung des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) vor. Nicht mehr länger teilen soll die Donau, sondern Teil einer neuen europäischen Zusammenarbeit werden. Für Konrád eine Aufgabe, in deren Mittelpunkt ganz selbstverständlich ein Strom steht: "Wer den Fluss achtet, der achtet auch seinen Nächsten."

Zitat

„Sie wissen, ich habe oft gesagt, ich liebe Flüsse. Über Flüsse werden sowohl Ideen als auch Waren befördert. Alle Phänomene der Schöpfung haben ihre großartige Aufgabe. Flüsse, riesigen Trompeten gleich, singen dem Ozean das Lied von der Schönheit der Erde, der Feldbestellung, der Pracht der Städte und der Menschen Ruhm.“

Victor Hugo, 1842
Zitat

„Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt. Der Fluss der Zeit ist ein Fluss, der seine Ufer mitführt.“

Robert Musil, 1930
Zitat

„Sollte es sich erweisen, dass Staatsgrenzen entgegen allen Erwartungen beweglich und Fremdsprachen problemlos erlernbar sind, dass Hautfarbe und Form der Wangenknochen nur unter ästhetischem Gesichtspunkt eine Rolle spielen und dass wir uns in jeder beliebigen Stadt und in jedem Hotel genauso zurechtfinden können wie in jedem Buch, ganz gleich wie exotisch der Name des Autors klingt, falls wir also aufgrund irgendeiner Verwirrung völlig unsere Orientierung verlieren sollten, dann rate ich jedem, sich auf den eigenen Fluss zu besinnen.“

Olga Tokarczuk, 2004
Zitat

„Flüsse sind zweifellos ein Segen für diese Welt. Besser gesagt: Sie könnten ein Segen werden, wenn wir mit der Welt behutsamer umgingen. Wie alle im Sternzeichen Fisch Geborenen lasse ich mich vom Flusswasser hypnotisieren, besonders im Sommer. Nein, auch Seen haben ihre Vorzüge, ein See ist genauso wunderbar. Aber jetzt geht es mir um die Strömung, ihre Anmut und Elastizität, die Möglichkeit, im Wasser und mit dem Wasser zu schwimmen, ganz zu schweigen von der anderen, genauso verführerischen – den Widerstand der Strömung zu überwinden. Sorry, wenn Ihnen das wie eine Metapher erscheint.“

Juri Andruchowytsch, 2007
Zitat

„Wer den Fluss achtet, achtet auch seinen Nächsten.“

György Konrád, 2010

Flüsse sind in Mode gekommen

Flüsse, das zeigt das Beispiel der Donau, waren in der Geschichte nie alleine geografische Einträge in Kartenwerke und Atlanten. Sie waren immer auch Grenzen, Wasserwege, Wirtschaftsachsen, Kulturräume, Sehnsuchtsorte. Und nicht immer waren sie dabei nur Objekt der jeweils herrschenden Mächte, sondern oft auch selbst Subjekt der Geschichte, meinen Christof Mauch und Thomas Zeller. In dem von ihnen herausgegebenen Buch Rivers in History schrieben die Historiker des Deutschen Historischen Instituts in Washington: "Kann man sich China ohne den Yangtse vorstellen, das alte Ägypten ohne den Nil, Caesars Rom und Dantes Florenz ohne ein Bild des Tibers und des Arno?"

Diese staatenbildende Rolle der Flüsse hat zuletzt Peter Ackroyd am Beispiel der Themse untersucht. Er schreibt: "(Die Themse) ist Geschichte, der Fluss der englischen Geschichte, an dessen Ufern in den letzten zweitausend Jahren die Mehrzahl der wichtigen Ereignisse im Lande stattgefunden hat. (…) Das Schicksal Englands ist innig mit dem dieses Flusses verknüpft."

Aber nicht nur das historische Potential der Flüsse ist unerschöpflich, sondern auch ihr metaphorischer Gehalt. Seit der Antike sind Flüsse auch ein Symbol des menschlichen Kommens und Gehens, ihr Lauf selbst wird zum Lebenslauf, beginnend vom jungen Bächlein, das langsam Kraft sammelt und anschwillt, sich dann reckt und streckt, mit andern Flüssen verbindet, bis es, als Strom dann, der Mündung entgegen eilt und verschwindet in die Ewigkeit von Zeit und Raum. Die Gleichzeitigkeit von Vergänglichkeit und Ewigkeit, weiß Ackroyd, war auch der Grund dafür, dass die ersten Taufen des Christentums an Flüssen stattgefunden haben – als ein Versprechen auf die Wiederauferstehung.

Der Fluss als Metapher für den Lebenslauf des Menschen: Das hat auch die uns allen bekannte Orientierung am Strom flussabwärts hervorgebracht; die "gute Richtung", wie Gaston Bachelard in seiner Studie L'eau et les rêves feststellt: Flussabwärts, hält er fest, ist "die Richtung des fließenden Wassers, des Wassers, welches das Leben anderswohin führt".

Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, warum das Reisen an Flüssen heute so in Mode gekommen ist. Die einen von uns haben an dieser Modeerscheinung teil bei Kreuzfahrten auf der Donau oder – Exotik muss sein! – auf einem Wolgadampfer. Andere treiben sich lieber selbst an und radeln auf den neuen Ameisenrouten der "Generation Wellness" – den Flussradwegen an Rhein, Elbe oder Donau. Wer lieber zu Hause bleibt, geht trotzdem ab und an hinunter zum Fluss und schaut, ob alles noch an seinem Platz ist.

In den unübersichtlichen Zeiten von Globalisierung und Bindestrich-Identitäten bieten die Flüsse offenbar jenes Maß an Orientierung, das im Alltag verloren gegangen ist. Flüsse haben einen Anfang und ein Ende, wer sich an die Uferwege hält, kann nicht auf Abwege geraten, die Wege, die wir befahren, sind älter als wir selbst, schließlich hat sich der Fluss seinen Lauf schon vor Tausenden von Jahren gebahnt. Nicht zuletzt bieten Flüsse auch jenen Moment des Innehaltens, den wir sonst so sehr vermissen: Wir schauen zurück auf das, was war, und voller Hoffnung und mit ein bisschen Ehrfurcht blicken wir auf das, was uns noch bevorsteht. Reisen an Flüssen ist ein besonderes Erlebnis von Raum und Zeit.

Von natürlichen Grenzen...

Umso erstaunlicher ist es, dass unser Blick auf die Flüsse heute vor allem vom 19. Jahrhundert geprägt ist – und damit von der Rolle, die ihnen im Zuge der Herausbildung der Nationalstaaten auferlegt wurde. Flüsse sind "natürliche Grenzen" lautete diese Behauptung, die vor allem die großen Ströme Europas eher zum Objekt der Geschichte machen als zu ihrem Akteur.

Interner Link: "Natürliche Grenze", das war vor allem das Schlagwort Frankreichs, mit dem nach der Rheinkrise 1841 die französische Grenze bis an den Rhein ausgedehnt werden sollte. Auf der anderen Seite standen die deutsche Nationalbewegung und ihre antifranzösischen Kampflieder: "Sie werden ihn nicht kriegen, den freien deutschen Rhein", dichtete Nicolaus Becker, da hatte Ernst Moritz Arndt längst seine berühmte Schrift verfasst: "Der Rhein, Teutschlands Strom, nicht Teutschlands Gränze."

Beigetragen zu dieser Karriere der Flüsse als natürlicher und auch umkämpfter Grenze hat auch die lange Zeit populäre Vorstellung von Nationalstaaten als natürlicher Individuen mit klar definierten Grenzen. Berge und Flüsse spielen dabei eine ganz besondere Rolle, stellte der französische Rheinbiograf Lucien Febvre bereits 1922 fest:

"Es sind nicht einfach Demarkationen, sondern 'natürliche Grenzen'. Im Wort 'natürlich' ist eine ganze Geschichtsphilosophie zusammengefasst. Wer von natürlichen Grenzen spricht, meint prädestinierte Grenzen – ein Ideal, das es gilt zu erobern und zu verwirklichen."

Frankreich ist in dieser Vorstellung nicht irgendein Land in Europa, vielmehr ist es eine Einheit, ein Hexagon, das sich vom Rest des Kontinents abgrenzt durch den Atlantik im Westen, die Nordsee im Norden, die Pyrenäen im Süden sowie, als östliche, natürliche Grenze, den Rhein. Zweifelsohne wurde der Rhein in dieser Vorstellung in den Dienst der französischen Geopolitik gestellt. Doch die Parole von den "natürlichen Grenzen" sollte sich verselbständigen und lange Zeit unser Bild von den großen Flüssen in Europa prägen.

Exkurs: Abschied und Wiederkehr

Dass Flüsse bis in die jüngste Zeit auf ihre Funktion als Grenze reduziert werden konnten, hat auch mit unserem Desinteresse an ihnen zu tun. Auch dieses Desinteresse ist eine Hinterlassenschaft des 19. Jahrhunderts.

Einst waren Flüsse eine conditio sine qua non der Stadtgründung. Nicht nur die meisten römischen Städte auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik wurden an Flüssen gegründet, sondern auch die frühmittelalterlichen Städte im 9. und 10. Jahrhundert sowie jene Städte, die im Rahmen der ostelbischen Christianisierung und schließlich während der Ostkolonisation im 12. bis 14. Jahrhundert entstanden. Eine besondere Rolle hatten dabei die Städte inne, die an Flussmündungen gegründet wurden. An der Elbe oder der Weser trugen die Gezeiten der Nordsee die Seeschiffe bis Hamburg und Bremen und wieder zurück. So nimmt es kaum Wunder, dass die Hanse, diese Europäische Union der Frühen Neuzeit, nicht nur ein Bündnis der Ostseestädte war, sondern auch jener Städte, die über ihre Flüsse mit der Ostsee verbunden waren.

Bis zum Beginn des Eisenbahnzeitalters waren Flüsse die Lebensadern des städtischen Handels und die Symbole stadtbürgerlicher Identität. Städte tragen ihren Fluss wie Hamburg im Wappen oder wie die beiden Frankfurts im Namen. Auch welcher Fluss in welcher Stadt in welchen größeren Fluss mündet, lässt sich an zahlreichen Städtenamen ablesen. Aber auch die Kulturlandschaften kommen zu ihrem Recht. Der Rheinwein wird im Rheinland gekeltert, das Oderland und das Havelland sind seit Fontane unwiderruflich mit der Mark Brandenburg verbunden. "An der schönen blauen Donau" erklingen die Walzer von Johann Strauss.

Flüsse nennen die Dinge beim Namen, und die Zeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war die große Zeit der Flüsse auch in Deutschland. Canaletto hat sie, zum Beispiel in Dresden mit dem Elbufer, in seinen Stadtveduten festgehalten. Schon zuvor haben die Romantiker und ersten Touristen die Bilder des malerischen Mittelrheintals und auch der Sächsischen Schweiz zunächst in England und Italien, später in ganz Europa verbreitet.

Mit der Industrialisierung ging dieses Zeitalter jäh zu Ende. Wie Dieter Schott am Beispiel Mannheims nachgewiesen hat, war die einzige Chance, die die Städte hatten, um der Eisenbahn Paroli zu bieten, der radikale Ausbau der Flüsse zu Wasserstraßen. Mit der Industrialisierung der Produktion begann auch die Industrialisierung der Flüsse. Neue Häfen entstanden, Städte und Stadtbewohner wandten sich von den Flussufern ab, die Flüsse selbst wurden zu Kloaken, die kleineren unter ihnen wurden schließlich in Rohre unter die Erde verbannt. Nur ab und an, wenn sie über die Ufer traten, riefen sich die Flüsse wieder ins Gedächtnis.

Der Rhein als Wasserautobahn, die Unterelbe die Verlängerung der Nordsee bis Hamburg, BASF und Höchst im Rhein-Main-Gebiet, die Donauschiene als industrielles Zentrum Österreichs: Von den Kulturlandschaften, die die Flüsse einst geschaffen hatten, war, vor allem in den Ballungsgebieten der großen Städte, nicht mehr viel übrig geblieben.

So brachte das 19. Jahrhundert also beides: Die Reduzierung der Flüsse auf eine politische Grenzfunktion sowie ihren Ausbau als Wasserstraße im Wege der Industrialisierung.

Das letzte Wort der Flussgeschichte war damit aber nicht gesprochen. Seit dem Niedergang des Industriezeitalters und dem Beginn der digitalen Revolution sind wir Zeugen eines erneuten Paradigmenwechsels im Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Flüssen. Brach liegende Industrieflächen erwachen als Kulturzentren zu neuem Leben, Uferlagen werden zu Naherholungsgebieten, am Wasser entstehen neue, städtische Wohngebiete, die Fahrgastschifffahrt boomt. Überall wenden sich Städte und Menschen wieder ihren Flüssen zu.

Dieser Trend ist in Deutschland inzwischen überall zu beobachten. Begonnen hat er in Frankfurt, wo das Mainufer mit dem "Museumsufer" als Kulturmeile neu entdeckt wurde. In Hamburg entsteht mit der Hafencity ein neuer Stadtteil an der Elbe, in Interner Link: Basel soll die ehemalige Rheininsel revitalisiert werden, in Brandenburg und Sachsen-Anhalt wird die Havel mit der Bundesgartenschau 2015 zum "blauen Band" zwischen Rathenow und Havelberg, in Berlin ist die Spree ein Schaufenster des Regierungsviertels, Ulm rückt wieder an die Donau heran, Bremen hat die "Schlachte", seinen historischen Hafen, zur Flaniermeile umgebaut, und an der Oder verbinden Promenadenwege die beiden Grenzstädte Interner Link: Frankfurt und Słubice.

...zu fließenden Räumen

Groß Neuendorf war einst der Hafen des Oderbruchs. Alte Waggons erinnern noch daran. (© Inka Schwand)

Das neue Interesse an den Flüssen bringt auch neue Bilder hervor. Auch in der Forschung steht nun nicht mehr das 19. Jahrhundert im Mittelpunkt, sondern mehr und mehr auch die "vornationale" Kulturgeschichte der Flüsse, hat Interner Link: Guido Hausmann in seinen Arbeiten über Flüsse als europäische Erinnerungsorte festgestellt. Damit wird aber auch ihre bislang so hartnäckige Funktion als Grenze in Frage gestellt. Interner Link: Eva-Maria Stolberg schreibt in ihrer Untersuchung über die Oder und die Weichsel: "Die Eigendynamik von Flüssen, ihr für die Menschen unberechenbarer natürlicher Charakter des Fließens und Veränderns, lässt sich nur schwer in nationalistische Paradigmen der Grenzziehung und kulturelle Abgrenzungen, wie sie das 19. und 20. Jahrhundert pflegten, zwängen."

In Frankreich wurde dieser Paradigmenwechsel in jüngster Zeit am Beispiel der Rhone diskutiert. Gerade weil Frankreichs größter Strom ab der Mündung der Saône bei Lyon ganz grenzenlos durch Frankreich fließt, konnte man bei seiner Erforschung die verbindende Rolle hervorheben. In seinem 648 Seiten starken Werk Die Rhone im Mittelalter beschreibt der französische Mediävist Jacques Roussaud die Rhone als eine Region, die er "la royaume du fleuve", das "Reich am Fluss" nannte. Namentlich die Rhone, betont Roussaud, habe die verschiedenen Regionen, dir ihr zu Ufer lagen, über den Handel, den Austausch von Ideen, gemeinsame Lebensweisen und Arbeitstechniken zusammengehalten und zu einer Großregion geformt.

Die Erfurter Historikerin Susanne Rau spricht in diesem Zusammenhang von "fließenden Räumen". Das Raumbildende an den Flüssen ist für sie auch das Paradigma, das die Vorstellung von Flüssen als "natürlichen Grenzen" ablösen kann. Ganz programmatisch stellt sie die Frage "Wie lässt sich die Geschichte des Flusses schreiben?" Eine Antwort, meint sie, habe Roussaud mit seiner Arbeit über die Rhone gegeben, weil er diesen Strom nicht nur als Objekt beschrieben hat, sondern auch "als Akteur und Gestalter".

Lässt sich mit diesem Konzept auch die Geschichte von Grenzflüssen und grenzüberschreitenden Flüssen schreiben. Taugt es auch für einen neuen Blick auf die Oder, den Rhein, die Memel, die Elbe und die Donau?

Man muss diese Fragen wohl bejahen. Auch die Flüsse, die wir heute vor allem als Grenzflüsse und grenzüberschreitende Flüsse kennen, haben vor der Etablierung der Nationalstaaten Handels- und Wirtschaftsräume und damit auch Kulturlandschaften hervorgebracht. Die Memel etwa war nie nur die Grenze zwischen dem Deutschordensstaat und den Litauern, an deren Ufern zu Zeiten der "Litauerzüge" der Ordensritter zahlreiche Burgen gebaut wurden. Sie war, wie Interner Link: Siarhei Bohdan darstellt, immer auch ein Ort des Holztransports aus den litauischen Wäldern bis in die Ostsee – und später ein Scharnier zwischen Preußen und dem Russischen Reich.

Auch die Interner Link: Oder war nie nur die Grenze, auf die sie spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Grenzziehung an Oder und Neiße degradiert wurde. Wie die Ausstellung Tür an Tür. 1000 Jahre Nachbarschaft 2011 gezeigt hat, war sie auch ein Ort des Austauschs zwischen Deutschen und Polen – und machte Schlesien zu einer Brückenregion zwischen dem Westen und dem Osten des Kontinents.

Gleiches gilt natürlich auch für die Donau, auf die György Konrád in Budapest so gerne schaut. Auch wenn Europas zweitgrößter Strom heute auf 300 Kilometer die Grenze zwischen Bulgarien und Rumänien bildet, war er doch in kakanischen Zeiten das Zentrum Österreich-Ungarns und seiner Donaumonarchie.

Selbst der Rhein, jeder Strom, der lange vor der Grenzziehung an der Oder auf sein Schicksal als Grenze abonniert schien, wurde bereits in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts rehabilitiert. Mitten in die Zeit der Rheinlandbesetzung hinein schrieb Lucien Febvre seine Geschichte des Rheins als Wirtschaftsgeschichte – und rückte die vermeintliche Grenze in den Mittelpunkt. Zu recht, wie wir heute wissen, ist doch die Interner Link: "Rheinschiene" eine der dynamischsten Wirtschaftsräume der Europäischen Union.

Schließlich die Elbe. Innerdeutsche Grenze war sie, ja, und das wird sie im Gedächtnis auch bleiben müssen, um die Schrecken der Teilung festzuhalten als Mahnung für kommende Generationen. Aber die Elbe hat die Regionen, durch die sie strömt, auch verbunden. Karl IV., der große europäische Kaiser, hat nicht nur Prag zum Zentrum des Heiligen Römischen Reiches gemacht, sondern auch Tangermünde zu seiner zweiten Residenz. Die Elbe war für ihn ein ähnliches Fenster zur Welt wie die Donau später für György Konrád. Doch das ist längst nicht alles: Noch immer gibt es in Hamburg den Moldauhafen, und das Ahoj, den Gruß, der im Tschechischen so verbreitet ist wie das Hallo in Deutschland, haben die Elbschiffer aus Hamburg nach Böhmen gebracht.

Sogar die Teilung Deutschlands hat an der Elbe einen gemeinsamen Raum hervorgebracht. Weil die innerdeutsche Grenze hüben wie drüben Periferie war, konnte sich der Naturraum Elbe ungehindert entfalten – und ist heute, als Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe, ein ökologischer Schatz auf beiden Seiten des Flusses.

Geschichte im Fluss

Grenzüberschreitende Flüsse, das zeigen diese Beispiele, haben ihre eigene Geschichte. Sie erzählt etwas anderes als die Geschichte der Staaten, die sie durchfließen, oder die der Völker, die an ihnen leben. Wenn man sagt, dass Flüsse nicht nur trennen, sondern auch verbinden, so stößt man mit einer einzigen, nationalen Perspektive schnell an ihre Grenzen. Deshalb erfordern Flüsse, vor allem die grenzüberschreitenden unter ihnen, immer die Multiperspektive, den europäischen Blick. Auch deshalb sind sie die besten Botschafter Europas. Und sie sind, das wird vor allem György Konrád, den großen ungarischen und europäischen Essayisten freuen, ein Gegengift gegen die zunehmende Renationalisierung der Erinnerung in Europa.

Ein deutscher und polnischer Erinnerungsort: Die Mottlau in Danzig. (© Inka Schwand)

Flüsse als Thema eines europäischen Dialogs: Das ist auch der Grund, warum die Bundeszentrale für politische Bildung das Onlinedossier Geschichte im Fluss veröffentlicht. Am Beispiel von Oder, Rhein, Memel, Elbe und Donau etablieren Autoren unter anderem aus Polen, Frankreich, Litauen, Belorus, Tschechien und Deutschland Flüsse als europäische Erinnerungsorte. So entsteht ein vielsprachiges Gespräch über die Flüsse Europas – und ein europäischer Dialog über Grenzen und Grenzüberschreitungen, der gerade in Zeiten der Krise so nötig ist. Dieser Ansatz ist neu – und er verspricht Überraschungen. Wenn bislang über Flüsse geforscht wurde, standen – neben dem Konzept der Grenze – Umweltthemen oder Hochwasserschutz ganz oben, ihre Kulturgeschichte fristete dagegen ein Schattendasein. Guido Hausmann, der mit seinem Buch über die Wolga eine wegweisende Studie über Flüsse als Erinnerungsorte vorlegte, mutmaßt gar, dass die Geschichtswissenschaft selbst zu dieser Wissenslücke beigetragen habe: "Einer 'Flussuntersuchung' oder -geschichte haftete (…) die Vorstellung von einem unseriösen, unwissenschaftlichen und populären Thema an, da sie zur identifikationsstiftenden, sinnverleihenden und emotionalisierenden (Nach-)Erzählung statt zur kritischen Untersuchung zu tendieren schien", schreibt Hausmann. "Das verlangte geradezu Distanzierung, zumal auf den ersten Blick weder menschliche Akteure noch soziales Handeln im Zentrum standen oder zu erkennen waren."

Inzwischen sind aber in der Tradition von Lucien Febvre eine Reihe von Flussgeschichten entstanden, die den Fluss selbst als Akteur der Geschichte in den Mittelpunkt stellten – und damit auch von seinem Korsett als "natürlicher Grenze" befreiten. Allen voran natürlich Claudio Magris' Donaubiografie. In diesem opus magnum breitet der Europäer aus Triest ein geistesgeschichtliches Panorama der Donau aus und stellt den Fluss in den Mittelpunkt des Denkens.

Peter Ackroyds Geschichte der Themse wiederum ist nicht nur englische Geschichte, sondern auch die Geschichte eines europäischen Imperiums. Und sie ist, by the way, auch eine Geschichte der Zeit, schließlich liegen auch Greenwich und der Nullmeridian, lange Zeit der Messpunkt der Weltzeit, an der Themse. Gleichzeitig skizziert der britische Historiker in seinem Buch das Konzept einer liquid history. "Wir tragen die Assoziationen, die sich in der Vergangenheit mit dem Fluss verknüpften, weiter in uns, und wenn wir sie nicht kennen, verstehen wir nicht die besondere Art seiner Präsenz in der modernen Welt."

Die Poesie der Flüsse

Von einem liquid turn, der dem viel zitierten spatial turn der Geschichtswissenschaft folgt, sind wir allerdings, trotz der genannten Publikationen, noch weit entfernt.

Die Poeten und Schriftsteller sind da einen Schritt weiter. Wunderbar verknüpft Jan Böttcher in seinem Elberoman Nachglühen das Alltagsleben in einem Dorf zu einem deutsch-deutschen Mikrokosmos. Esther Kinsky wiederum beschreibt die Theiß in ihrer Novelle Sommerfrische als Naturgewalt, mit der sich die Menschen einrichten müssen – oder untergehen. Die polnische Autorin Olga Tokarczuk schlägt gar vor, das Europa der Regionen nach den Einzugsgebieten seiner Ströme zu bilden. Ein poetisches Konzept, gewiss, aber was für eins!

Zugleich ist die Literatur, mehr noch als der Einzug der Flüsse in die Kulturwissenschaften und die Historiographie, ein Hinweis auf die Rolle der Periferien. Nicht in Berlin, Warschau oder Budapest wächst Europa zusammen, sondern an seinen Rändern. Dort also, wo Ressentiments ebenso zuhause sind wie die Neugier auf das Fremde. So ist der Fluss also auch eine Metapher für den Rand, der in die Mitte rückt.

Geschichte und Geschichten im Fluss: Nicht nur eine Erweiterung eingeübter Blicke bieten solche Arbeiten, sondern auch eine Neuvermessung der Ströme in Raum und Zeit. Lange bevor die Menschen an all diesen Flüssen siedelten, waren diese schon da. Und sie werden auch noch da sein, wenn diese Landstriche längst entvölkert sind, weil neue Wanderungen Europas Karten neu Mischen werden. Ein bisschen stehen die Flüsse auch über der Geschichte.

Höchste Zeit also, die nationalen Mythen, die auf den Flüssen lasten, zu dekonstruieren und sie wieder zu dem zu machen, was sie sind – nicht Objekte der Geschichte, sondern deren Subjekte, die Kulturlandschaften hervorbringen und narrative Räume, die sich um Grenzen nicht scheren.

So wird also auch das Onlinedossier Geschichte im Fluss zu einer grenzenlosen Flussfahrt durch Europa – und füllt das Diktum von György Konrád – "Wer den Fluss achtet, der achtet auch seinen Nächsten" – mit Leben.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Uwe Rada, geboren 1963, lebt als Journalist und Publizist in Berlin. Er beschäftigt sich seit langem mit der Rolle der Flüsse in der Geschichte und veröffentlichte zuletzt im Siedler-Verlag die beiden Bücher Die Oder. Lebenslauf eines Flusses (2009) und Die Memel. Kulturgeschichte eines europäischen Stromes (2010). 2013 erscheint Die Elbe. Europas Geschichte im Fluss. Uwe Rada koordiniert das Projekt Geschichte im Fluss der Bundeszentrale für politische Bildung.