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"So leben bei uns nur die Aristokraten" Griechische Arbeitsmigration nach Deutschland

Manuel Gogos

/ 8 Minuten zu lesen

Am 30. März 1960 wird das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Griechenland unterzeichnet. Händeringend sucht das Wirtschaftswunderland Deutschland nach Arbeitskräften. In Athen entsteht die "Germaniki Epitropi": eine Außenstelle des deutschen Arbeitsministeriums, welche die berufliche und besonders die gesundheitliche Eignung der Anwärter prüfen soll.

Teil des Wirtschaftswunders

Der Selbstentwurf eines wirtschaftlichen Kraftzentrums, das ausstrahlt und wie ein Magnet seine Anziehungskraft auf die Peripherien Europas ausübt, gehört zu den zentralen Topoi einer sich (er-) findenden jungen Bundesrepublik. Trotz tiefsitzender Zweifel Seitens des deutschen Innenministeriums, das mit der Hereinnahme südeuropäischer Arbeitskräfte unkalkulierbare Sicherheitsrisiken verbunden sieht: Ende der 1950er Jahre sucht das Wirtschaftswunderland Deutschland so händeringend nach Arbeitskräften, dass auf das maßgebliche Betreiben des Wirtschafts- wie des Arbeitsministeriums am 30. März 1960 das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und Griechenland unterzeichnet wird. Daraufhin richtet man in Athen die "Germaniki Epitropi" ein, eine Außenstelle des deutschen Arbeitsministeriums, welche die berufliche und besonders die gesundheitliche Eignung der Anwärter prüfen soll.

Letzter Ausweg Migration

Für die griechische Regierung in Athen hat die Emigration die Funktion eines Entlastungsventils. Bis in die 1950er Jahre war die ganze Region von Makedonien, Thessalien und Thrakien vom Tabakanbau (auf dem Land) und von der Tabakverarbeitung (in der Stadt) abhängig. Die Hafenstädte Kavala und Thessaloniki galten als Hauptumschlagplätze für den "orientalischen" Tabak. Viele der jungen Frauen, die Anfang der 1960er Jahre über Anwerbeverträge nach Deutschland kommen, hatten als Mädchen noch auf dem Tabakfeld gearbeitet. Als die griechische Tabakindustrie durch das Vordringen des amerikanischen Virginia-Tabaks nahezu vollständig zum Erliegen kommt, hat das für die ökonomische Situation in den "Armenhäusern" der nördlichen Peripherien Griechenlands katastrophale Folgen. Vielen bleibt als letzter Ausweg nur die Migration. Nach der so genannten "Kleinasiatischen Katastrophe" – dem Bevölkerungsaustausch mit der Türkei in Folge des Lausanner Vertrages von 1923 – waren zudem zwei Millionen Flüchtlinge zusätzlich zu versorgen, eine Aufgabe, der das kleine Agrarland Griechenland kaum gewachsen war. Folglich drängt das deutsche Konsulat schon im Herbst 1960 darauf, eine feste Außenstelle für die nördlichen Provinzen Griechenlands einzurichten, diese nimmt im Januar 1961 ihre Arbeit auf. Saloniki fertigt schon bald wesentlich mehr Kräfte ab als Athen, ein regelrechtes "Migrationsfieber" bricht aus, ganze Dörfer entvölkern sich. Allein am 8. Januar 1962 stellten sich 6000 Personen in der Dienststelle vor. "Der Zustrom griechischer Arbeitskräfte, die in Deutschland Arbeit aufnehmen wollen, hält aus allen Landesteilen und von den Inseln unvermindert an. Ganze Trupps von Männern [kommen] per Lastkraftwagen, zu Fuß, mit der Bahn und per Schiff, um sich für eine Ausreise in die Bundesrepublik zu bewerben."

Ein moderner Sklavenmarkt

Die Deutschlandbilder der griechischen Arbeitsmigranten setzen sich aus unterschiedlichen Fermenten zusammen: Mund-zu-Mund-Propaganda über Greueltaten der Deutschen im Krieg sowie idealisierten Bildern vom "Wunder" der deutschen Wirtschaft, wie es in der heimischen Kino-Wochenschau projiziert wird: Die Deutsche Mark strahlt große Faszination aus, man spürt dort in "Europa" geht etwas vor sich, und man könnte Teil daran haben. Es ist ein besonderer Augenblick, wenn man das Vertraute zum ersten Mal verlässt. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben sind groß, ebenso die Ängste vor dem Unbekannten. Wie Helden Schwellen überschreiten und "Prüfungen" bestehen müssen, so auch die Migranten. Es sind die reihenweise durchgeführten Leibesvisitationen, die in ihren Augen ein schier unüberwindliches Hindernis darstellen. Junge Griechinnen und Griechen treten reihenweise vor deutschen Amtsärzten an, viele wurden dabei wegen Tuberkulose abgelehnt – einer Folge ihrer kriegsbedingten Mangelernährung in der Kindheit. Hans-Jörg Eckhardt, 1965/66 Arbeitsvermittler der Deutschen Kommission in Thessaloniki, sagt heute, es sei wie ein moderner Sklavenmarkt gewesen.

Für die Bewerberinnen ist es ein feierlicher Augenblick, ihr Bewerbungsfoto für Deutschland machen zu lassen. Sorgfältig frisiert und in Schale geschmissen besuchen die griechischen Frauen den "Ebdomadier“ – ein Fotoatelier, das für die hochwertigen Abzüge eine ganze Woche braucht. (© Agentur für geistige Gastarbeit)

"Da hab ich auch die menschlichen Leiden sehr oft leider nachvollziehen müssen, die hatten eine medizinische Untersuchung, und wenn der Arzt dann gesagt hat, nein, der hat eine gerade ausgeheilte TB oder einen Leistenbruch, kann er eben diese Arbeit auf dem Bau oder in einer Gießerei nicht machen. Am nächsten Tag kamen dann die "Lesmodas", die Ergebnisse, am Mittag bei mir an und ich musste ihnen dann durch die Dolmetscherin sagen lassen: aus gesundheitlichen Gründen kannst du nicht nach Deutschland und der oder die hatte ja dann den Hindernislauf schon abgehakt, hatte sich schon halb in Deutschland gesehen – und jetzt kam das aus! Wenn sie bei der ärztlichen Untersuchung waren, hatten die alle ihre "Prassini Charta" hier so in der Turnhose oder Unterhose drin stecken, diese "grüne Karte" war eigentlich der Eintritt, so habe ich immer gesagt, ins Paradies!"

(Hans-Jörg Eckhardt im Interview mit dem Verfasser, Stuttgart 2005.)

Weichenstellungen fürs Leben

Schon im Mai 1961 beziehen sich 58% der Anfragen bei der Deutschen Kommission Thessaloniki auf Frauen – ein Rekord der gesamten Geschichte der organisierten Anwerbung. "Inwieweit griechische Frauen und Mädchen bereit sind, eine Tätigkeit in Deutschland aufzunehmen", so heißt es in den Akten der deutschen Kommission, "wird abzutasten sein". Vielen griechischen Frauen eröffnet die Arbeit in Deutschland eine Möglichkeit, sich ihre "Prika" – die Aussteuer – selbst zu verdienen. Häufig gehen sie auch als Vorhut, um ihre Männer in Form namentlicher Einladungen nachzuziehen. Dürfen die Anwärter auf ein neues Leben passieren, setzt die legendäre Fähre Kolokotronis sie von Piräus über in ein anderes Leben.

"Ich war vorher nie irgendwo hingereist. Und da kommt meine Mutter zum Schiff, zum Hafen von Piräus, und da hat Kazantzidis so ein Lied gesungen: "Mutter ich gehe in die Fremde, wein nicht meinetwegen", so in der Art, und meine Mutter ... weinte und weinte – im Schiff haben sie’s gespielt, am Hafen, zur Zeit, als wir das Schiff bestiegen."

(Soi Becker im Inteview mit dem Verfasser, Stuttgart 2005.)

Griechische Arbeitsmigrantinnen bei ihrer Ankunft am Münchner Hauptbahnhof, am Gleis 11 – dem "Gleis der Hoffnung", 1960er Jahre. (© Domid)

Auch der Grenzübertritt im Sonderzug von Thessaloniki aus wird für viele der griechischen Arbeitsmigrantinnen und Migranten zur "Weichenstellung" fürs Leben:

"Mit teilweise über tausend Personen sind die Wagen meist gnadenlos überfüllt. Die Fahrt nach München dauert, viele sitzen zwei Tage und Nächte lang auf ihren Koffern. Die jungen Reisebegleiterinnen machen Kontrollgänge durch den Zug und belehren die Reisenden darüber, wie der Abort richtig zu benutzen sei. Die Arbeitsmigranten aus Südosteuropa kommen in München am berühmten Gleis 11 an, das die Italiener binario della speranza, Gleis der Hoffnung, getauft haben. Man bringt sie in den ehemaligen Luftschutzbunker, der zum Aufenthaltsraum ausgebaut worden ist. Hochfliegend sind die Hoffnungen, abgründig aber auch die Ängste einer Generation, die den Krieg noch nicht vergessen hat. Nachher, als wir in München angekommen waren, gehen wir zum Ausgang, und ein Deutscher sagt: "Komm, komm" und führt uns dort die Treppe runter. Und ich sag, als wir diese Stufen hinuntergehen, jetzt, Kinder, jetzt gehen wir in den Ofen... Es war natürlich nicht in Ordnung, dass ich das sagte, schließlich war es schon eine Demokratie, in die wir kamen. Später habe ich mir einen Deutschen zum Mann genommen, der bei der Bahn arbeitete – Stell dir vor, was alles passiert! "

(Soi Becker, ibd.)

Griechische Arbeitsmigranten am Münchner Hauptbahnhof, 1960er Jahre. (© Domid)

Von München aus werden die griechischen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter weiter vermittelt nach Nürnberg und Stuttgart, Köln und Düsseldorf, Hamburg und Berlin. Sie kommen vorrangig in der metallverarbeitenden und chemischen Industrie, der Textilbranche und der Feinelektronik zum Einsatz. Ihr Anfangsoptimismus speist sich nicht zuletzt aus dem Stolz, in Deutschland gebraucht zu werden, selbst ein Teil des "Wunders" der deutschen Wirtschaft zu sein.

Wohnheimszenen, Essen Kettwig, 1960er Jahre. (© Agentur für geistige Gastarbeit)

Leben im Schatten der Schichtarbeit

Doch ihre Hoffnung, in Deutschland zu schnellem Reichtum zu kommen, erfüllt sich nicht. Die Arbeitsmigranten, die in der Mehrzahl aus den Agrarregionen Nordgriechenlands kommen, müssen in der deutschen Industrie einen rasanten Anpassungsprozess durchlaufen. Die Leute sind harte Arbeit gewöhnt; trotzdem verlangt die Arbeit in Deutschlands Fabriken im Zeichen des Akkords eine ganz neue körperliche und psychische Disziplin. Zudem suchen viele Firmen ihre "Gast-Arbeiter", häufig im Rückgriff auf die Baracken-Architektur der Kriegszeit, nur notdürftig, provisorisch unterzubringen. Viele der Migranten lebten so, zumal in der ersten Zeit, in Massenquartieren, man kann sagen, in einer "Lager"-Struktur. Selbst Partnerschaft und Kindererziehung standen damit im Schatten der Schichtarbeit.

Erfolgsdruck

Den Löwenanteil des Verdienstes überweisen die griechischen Arbeitsmigranten nach Hause, um ihre Familien zu unterstützen und die eigene Rückkehr vorzubereiten. Die heimischen Ökonomien rechnen so fest mit diesen Devisen, dass manche der Migranten das Gefühl beschleicht, man habe sie nach Deutschland "verkauft". Das ‚Markenbewusstsein’ der deutschen Wertarbeit setzt sich auch bei ihnen durch. Während der Arbeitszeit am Fließband träumen sie sich dem Mercedes entgegen. Mit der Trophäe sonnt man sich in der Bewunderung derer, die nie aus dem Dorf herausgekommen sind. Man erfindet sich ein Leben.

Heimkehr oder Niederlassung

Von der Migration zur "Einwanderung" ist es noch ein weiter Weg. Es bedeutet Anspannung, sich in einem fremdsprachlichen Raum zu bewegen. Es kostet Anstrengung, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen. In der Begegnung mit den Einheimischen ist da immer ein Gefälle: Wo der eine stottert, um jedes Wort ringt, da zeigt der Andere sein Heimrecht schon allein, indem er die Sprache beherrscht. Die Mehrheit der Griechen hat darum ihre Zelte in Deutschland wieder abgebrochen: Sie sind heute die Besitzer jener Bauten rund um den heimatlichen Dorfkern, Altersvorsorge in Beton gegossen. Andere haben den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, aber immer weiter aufgeschoben. Allmählich gewöhnten sie sich ein, eröffneten Nähereien, Tavernen und "Patatadikes" – Pommesbuden. Durch die Opferbereitschaft der ersten Gastarbeitergeneration haben ihre Kinder studieren und den "langen Marsch" durch die deutschen Institutionen antreten können.

Die Heimkehrer nach Griechenland wie die Niedergelassenen hierzulande unterhalten weiterhin enge Beziehungen zu einander. Und so erscheinen ihre transnationalen Migrationen heute in einer Zeit großer Mobilität nicht mehr so endgültig wie einst. Mit einer Art elliptischen Bewußtseins pendeln sie, machen den Raum immer enger, "beamen" sich nach "unten" ans Mittelmeer und wieder "herauf", als würden sie nur von einem Zimmer ins andere gehen.

Griechisches Kino in Essen Kettwig, Ende 1960er Jahre. (© Agentur für geistige Gastarbeit)

"Diese 50 Jahre, die wir hier leben, enthalten eine große Geschichte und diese lässt sich weder in der Rede eines Politikers, noch in einem Artikel in einer Zeitschrift oder Zeitung wiedergeben, das sind nur Oberflächlichkeiten. Ich erinnere mich nicht daran, je den Gedanken gehabt zu haben, warum lebe ich hier. Auch heute noch, wo ich schon 60 Jahre alt bin, gehe ich noch zum Fußballplatz und spiele, auch wenn ich jetzt nur noch der einzige Grieche unter allen Deutschen bin, es macht mir sehr viel Spaß. Wenn ich noch einmal geboren würde, und noch einmal auf diese Welt käme, dann würde ich mir die gleiche Mutter, die gleichen Eltern wünschen, die gleichen Geschwister und die gleiche Heimat. Und ich würde wieder hier leben wollen, so wie ich es getan habe."

(Evangelos Tetos im Interview mit dem Verfasser, Essen 2010.)

Dr. phil, geb. 1970 in Gummersbach, ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine "Agentur für geistige Gastarbeit" firmiert in Bonn. Externer Link: www.geistige-gastarbeit.de