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Subversive Aktion | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Subversive Aktion

Klaus Farin

/ 6 Minuten zu lesen

"Literatur, SDS, Ostermarsch, Drogen – das war alles eine große Einheit, und die sich zu ihr zählten, gaben sich später durch ihre langen Haare zu erkennen. Sie sagten den Leuten, wie wir zu Vietnam standen, zur Droge, zum Universitätsaufstand."

Gaston Salvatore und Rudi Dutschke auf dem Vietnam Kongress des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) 1968 in West Berlin. (© AP)

Die von Dieter Kunzelmann 1962 in München gegründete "Subversive Aktion" hatte von ihren geistigen Vätern Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse gelernt, dass die moderne "repressive Gesellschaft" ihre Macht nicht mehr durch die Drohung mit Polizei und Justiz erhält, sondern durch die Verführung zum Konsum. "Mitten im materiellen Wohlstand lebt das Leben nicht, sind die Menschen unfähig zum Genuss. Anstelle echter Befriedigung ihrer Träume, Wünsche und Lust lassen die Menschen sich willig mit Ersatzangeboten aus Konsum und Illusionen abspeisen. Diese Angebote verfangen so gut, dass die Menschen nicht mehr wie früher nur durch offene Gewalt und fühlbare Unterdrückung bei der Stange gehalten werden müssen. Die Rolle von Polizei und Gefängnis haben Kino, Fernsehen, Konsum und gesteuerte Freizeit übernommen." (in: Chaussy 1985, S. 39) Bevor revolutionäre politische Veränderungen eine Chance hätten, müssten die Menschen erst lernen, ihre unterdrückten inneren Triebe – vor allem die Sexualität – zu befreien. Im Zentrum des Handelns und Denkens der Subversiven Aktion stand(en) also die eigene Person, die eigene Erfahrung, die eigenen Gefühle. Aus Hippies wurden Yippies, provokanter Teil einer politischen Bewegung, die einerseits reale Veränderungen in der Mehrheitsgesellschaft anstrebten, ohne aber ihren freien Lebensstil kompromisslerisch den bürgerlichen Konventionen anzupassen. "Die Umgestaltung der Verhältnisse wurde in einem ganzheitlich verstandenen Zusammenhang an die Umgestaltung zunächst des eigenen Lebens gebunden." (Lindner 1996, S. 157f.)

In der Praxis bedeutete diese "Revolutionierung des Alltags": die Abschaffung des Privateigentums und -lebens schon heute (Kommunen statt Kleinfamilien; das Beharren auf einem "Intimleben" ist kleinbürgerliche Verklemmtheit, also freie Sexualität/Partnertausch, raus mit den Klotüren ...), Ausstieg aus dem (universitären) Leistungsdruck, das Lustprinzip als oberste Maxime allen Handelns und vor allem – stete Provokation als lustvoll-revolutionäre Praxis. "Ein Revolutionär, der nicht darauf bedacht ist, seine Eltern durch unbürgerliche Kleidung und Haarschnitt vor den Kopf zu stoßen, ist eben noch weitgehend seiner bürgerlichen Herkunft verhaftet." (zitiert nach Bucher/Pohl 1986, S. 28) "Sieht man die Jugendlichen von damals heute auf Fotos, wirken sie oft recht brav und bieder. Ihre provozierende Wirkung ist heute nicht mehr recht verständlich. Doch waren es diese Äußerungsformen, die auf einen Großteil der damaligen Jugend eine viel stärkere Anziehungskraft hatten als die Theoriedebatten der 68er. Freie Wahl des eigenen Aussehens statt Kleider- und Benimmnormen, freie Schule statt autoritärer Erziehungsanstalten, freie Sexualität statt Prüderie, Kommune statt Familie. Die plakative Form war das eigentlich Schockierende." (a.a.O.) Erst die Verbindung von Flower Power und politischem Protest, von Revolution, Subkultur und Rockmusik zu einer politisch-ästhetischen "Rebellion der Triebe" zog Jugendliche in ihren Bann und erzeugte ein dynamisches "Wir-Gefühl", bei dem die Erwachsenenwelt außen vor blieb.

"Literatur, SDS, Ostermarsch, Drogen – das war alles eine große Einheit, und die sich zu ihr zählten, gaben sich später durch ihre langen Haare zu erkennen. Sie meinten Formlosigkeit, Sinnlichkeit, Offenheit. Sie sagten den Leuten, wie wir zu Vietnam standen, zur Droge, zum Universitätsaufstand. Die Eltern der Langhaarigen waren eine Generation ohne Zukunft, ohne Kinder ... Es war die Pop- und Rockmusik, in der persönliche Erfahrung, Lebensschicksal und existenzielles Begehren zusammenschossen. Die Melancholie und Zerstörungswut der Beatles waren die Gefühle der Jugendlichen der Revolte der ersten Stunde. "Street fighting man", "Eve of destruction" und "I can´t get no satisfaction" wurden die Lieder der zweiten Stunde der Revolte in Berkeley, Paris, Berlin und Frankfurt. Die wahren Propheten der Dissent-Generation waren die Pop- und Rock-Gruppen." (Mosler 1977, S. 96 – 100)

Die Verschmelzung von Studentenprotest und Jugendkultur erweiterte das Spektrum der antiautoritären Revolte weit über das studentisch-intellektuelle Milieu hinaus. Es entstand eine starke antiautoritäre Musik- und Theaterszene, Ansätze einer linken Lehrlingsbewegung bildeten sich, der Anteil von Schülerinnen und Schülern (an Gymnasien im Wesentlichen), die sich "oft und interessiert" mit Politik beschäftigten, stieg von 20 Prozent im Jahre 1961 auf 52 Prozent 1968. (Blücher 1969, S. 112)

Die APO-Rebellen wurden Trendsetter wie 25 Jahre später Techno und zogen immer mehr Jugendliche in ihren Bann. "Die Verlockung war groß, auf eine erfolgreiche Bewegung quasi mit aufzuspringen. Zur provokativen Gegenidentifikation genügten meist schon äußere Attribute wie Parka, lange Haare usw. Der Nachweis tatsächlicher moralischer und politischer Überlegenheit gegenüber dem "Establishment" erübrigte sich, solange dieses sich laufend selbst disqualifizierte." (Schülein 1977, S. 106)

Die antiautoritäre Bewegung setzte sich inzwischen aus einer Vielzahl von Gruppen, Milieus und Interessen zusammen. Den wenigsten ging es ernsthaft um eine "Revolution", die Veränderung der gesamten Gesellschaft, sondern die meisten kämpften für ihre individuelle Freiheit, für das Recht auf einen eigenen Lebensstil jenseits des ordnungs- und leistungsvernarrten Mainstreams. "Der gegen die herrschende Ordnung sich richtende Angriff ist nicht eine direkte Herausforderung der Macht, von der man natürlich weiß, dass er chancenlos wäre. Die Herausforderung gilt dem Verbindlichkeitsanspruch dieser Macht." (Lübbe 1975, S. 46) Hätte sich das "Establishment" flexibler gezeigt, die Proteste ernst genommen und als Anlass für ohnehin dringend notwendige Reformen genutzt, das Recht der Jungen auf eigene Lebenswelten und -modelle toleriert, hätte es vermutlich keine Rote Armee Fraktion (RAF) gegeben. Denn auch die politischen Meinungsführer, der Kern der APO, denen es wirklich um eine Umwälzung der "herrschenden Verhältnisse" ging, radikalisierten sich erst dann, als sie erfahren mussten, dass ihre symbolischen Regelverletzungen von der Politik und der Mehrheit der Bevölkerung nicht als Denkanstöße und Dialogangebote wahrgenommen wurden, sondern als "eminente Bedrohungen von Ordnung, Recht und Anstand, die es unnachsichtig niederzuschlagen galt" (Lindner 1996, S. 177f.). Der vor allem von Ludwig Erhard (Jahrgang 1897, von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister, anschließend bis 1966 Bundeskanzler) wieder massiv aktualisierte Volksgemeinschaftsgedanke, nach dem Interessengegensätze und Widersprüche innerhalb der Bevölkerung etwas Gefährliches seien, war noch sehr präsent. Demokratie bedeutete für die Mehrzahl der Deutschen immer noch wirtschaftlicher Wohlstand und dass man "denen da oben" alle vier Jahre bestätigen musste, dass sie gute Arbeit geleistet hatten. "Es dauerte Jahre, bis auch nur die Tatsache allgemein anerkannt war, dass Demonstrationen eine legitime Form der Willensäußerung in einer freien Gesellschaft sind." (Fetscher 1990, S. 71)

Dies galt ganz besonders für Berlin, das letzte "Bollwerk der Freiheit" inmitten kommunistischen Feindeslandes. "Vor allem die alteingesessenen Einwohner betrachteten Berlin als die "Frontstadt", als die vorderste Bastion des freien Westens, als "Pfahl im Fleisch des Kommunismus". Die Stadt sollte ein Aushängeschild des Westens werden. Dazu floss viel Geld nach Berlin, und das schaffte günstige Lebensbedingungen, von denen gerade junge Leute aus Westdeutschland angelockt wurden. Nach dem Mauerbau 1961 hatten viele Einwohner die Stadt verlassen, und nun standen eine Menge großer Wohnungen leer, die unglaublich günstig zu mieten waren." (Prinz 2003, S. 154) Auch die Kneipen, die in den Sechzigern wie Pilze aus dem Boden schossen, um die erlebnishungrigen Studentinnen und Studenten aus der westdeutschen Provinz zu befriedigen, waren billig, die Polizeistunde war in Berlin schon vor dem Mauerbau abgeschafft worden, um Touristen und Bewohner Ostberlins in den freien Westen hinüberzulocken. Nirgendwo sonst wurde der Kampf der Systeme so unerbittlich und alltäglich ausgetragen wie in Berlin, nirgendwo sonst war Antikommunismus so sehr ins Blut der Bevölkerung eingezogen wie hier. "Dunkel fühlte man, dass der östliche Bevölkerungsteil eine Suppe auslöffeln musste, die alle Deutschen bestellt hatten. Dieser uneingestandene Schuldkomplex schlug sich in blindem Antikommunismus nieder. Hass und Feindschaft gegen den Bolschewismus rechtfertigten noch nachträglich einen Teil der Verbrechen Hitlers, so redete man sich jedenfalls ein." (Rudolf Augstein in: Der Spiegel 24/1967, S. 24) Diesen nahezu bruchlosen Übergang vom "Geht doch nach drüben" zum "Euch hamse wohl damals vajessen zu vergasen" bekam in Berlin jeder zu spüren, der es wagte, den Status quo zu kritisieren. Nirgendwo sonst förderten selbst bürgerliche Kommentatoren eine Hetzstimmung gegen die APO-Rebellen wie hier, nirgendwo sonst leisteten sich selbst sozialdemokratische Politiker so selbstverständlich Diffamierungen linker oder auch nur liberaler Kritiker, die anderswo als rechtsextrem eingeschätzt wurden. Berlin war in vielerlei Hinsicht eine Frontstadt, und wer zwischen die Fronten geriet, wurde mit allen Mitteln bekämpft.

Quellen / Literatur

Blücher, Viggo Graf: Die Unruhe der Jugend und das Generationenverhältnis, in: Deutsche Jugend 1969, S. 107–123. Hier zitiert nach Lindner 1996, S. 129.

Bucher, Willi/Pohl, Klaus: "Lieber lebendig als normal.", in: Deutscher Werkbund e.V. (Hrsg.) 1986, S. 24–33.

Chaussy, Ulrich: Die drei Leben des Rudi Dutschke. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1985.

Fetscher, Iring: Utopien – Illusionen – Hoffnungen. Plädoyer für eine politische Kultur in Deutschland. Stuttgart 1990. Hier zitiert nach Geiling 1996, S. 74f.

Lindner, Werner: Jugendprotest seit den fünfziger Jahren. Dissens und kultureller Eigensinn. Opladen 1996.

Lübbe, Hermann: Legitimationsschwäche und Jugendbewegung, in: Jugend in der Gesell- schaft. Ein Symposion. München 1975, S. 42–53.

Mosler, Peter: Was wir wollten, was wir wurden. Studentenrevolte – zehn Jahre danach. Reinbek 1977.

Prinz, Alois: Lieber wütend als traurig. Die Lebensgeschichte der Ulrike Marie Meinhof. Weinheim 2003.

Schülein, J. A.: Von der Studentenrevolte zur Tendenzwende oder der Rückzug ins Private, in: Kursbuch 48, 1977, S. 108–124.

Spiegel 24/1967

Fussnoten

Weitere Inhalte

ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.