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Vom Täter zum Opfer | Jugendkulturen in Deutschland (1950-2005) | bpb.de

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Vom Täter zum Opfer

Klaus Farin

/ 5 Minuten zu lesen

Denn Angehöriger der rechtsextremen Szene zu sein ist kein Hobby wie Briefmarken sammeln oder Fußball spielen. Sie verlangt den ganzen Einsatz, und das meint nicht nur jederzeit, sondern auch der ganzen Person. "Umgang, Aussehen, Sprache, Persönlichkeit.

Neonazi-Aussteiger-Hotline: EXIT-Deutschland. (© AP)

Angehörige der Neonaziszene sehen sich bevorzugt als Opfer. "Geh ich durch die Straßen, spucken sie mich an / Beschimpfen meine Heimat, ich frag mich, was ich dafür kann / Sie machen auf mich Jagd, sie schlagen auf mich ein / Doch was ist falsch daran, ein Deutscher zu sein?", trifft die Wuppertaler Rechtsrockband Sturmgesang zielgenau die Mentalität ihrer Fans.

Kriminalität – "Ausländerkriminalität" natürlich – ist eines ihrer Lieblingsthemen. Dass die bundesdeutschen Justizvollzugsanstalten mit derzeit mindestens eineinhalbtausend Angehörigen der Neonaziszene bevölkert sind, die wegen rechtsradikaler Gewalttaten, aber auch sehr häufig wegen "normaler" krimineller Taten von Eigentumsdelikten über Vergewaltigung bis zum Drogenhandel verurteilt wurden und es selbst auf internen Veranstaltungen, zum Beispiel bei Rechtsrockkonzerten, regelmäßig zu Diebstählen kommt, wird dabei mit erstaunlicher Verdrängungsleistung ausgeblendet. Auch hier trifft man wieder auf das typische Grundmuster der neonazistischen Ideenwelt: Jeder Mensch und jede Sache, alles ist entweder gut oder böse, schwarz oder weiß; hier ist kein Millimeter Platz für Zwiespältigkeiten und Differenzierungen. Und erst recht nicht für Zweifel an der eigenen Position in diesem Vexierbild.

Widersprüche werden grundsätzlich ausgeblendet, mit Logik und Fakten kommt man bei überzeugten Neonazis nicht weiter. "Logik und die sogenannte Aufklärung sind jüdisch-christliche Erfindungen", wusste schon Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess (zit. nach Moorcock 2003, S. 358). Die Neonaziszene ist im Kern – und dabei gar nicht so weit von ihrem großen Vorbild entfernt – eine tief religiöse Glaubensgemeinschaft. Die Basis ihrer manchmal logisch-rational scheinenden, aber bei genauerer Betrachtung hoch irrationalen, esoterischen Weltanschauung sind Mythen. Mythen argumentieren und belegen nicht, sondern sie verkünden "Wahrheiten", deren kritische Hinterfragung den Gläubigen nicht gestattet ist. Der äußere Druck erstickt restliche Zweifel, schweißt die Szene zusammen, verhindert in vielen Fällen auch den Ausstieg. Denn wer in diesen Zeiten die Szene verlässt, der kann nur ein Verräter sein.

Dennoch ist die Fluktuation erstaunlich hoch. Manche werden einfach älter und merken eines Tages, dass die einstige Faszination der Subkultur nachgelassen hat und durch Langeweile ersetzt wurde. Manche geben dem Drängen ihrer Freundinnen nach, die meist – mangels Frauen dort – nicht aus der eigenen Szene stammen und die Männerkameradschaft häufig als Konkurrenz erleben, bis sie ihren Liebsten eines Tages vor die Wahl stellen: die oder ich. Und nicht wenige bemerken in diesem Moment, dass eine Freundin vielleicht doch spannender ist, als Rudolf Hess zu lieben. Ein sicherer Job (den man nicht riskieren will), das erste eigene Kind und die Alltagssorgen einer Familiengründung oder auch die Entdeckung einer spannenderen Subkultur sind weitere Ausstiegsmotive. Die Formel "Einmal Nazi, immer Nazi" geht nicht auf. Menschen verändern sich (vor allem Jugendliche) – das gilt auch für Neonazis.

Die Umsetzung des einmal gefassten Entschlusses fällt allerdings vielen schwer. Wer bisher quasi jedes Wochenende mit den "Kameraden" verbracht hat, fällt nach dem Ausstieg zunächst einmal in ein tiefes Loch.

Denn Angehöriger der rechtsextremen Szene zu sein ist kein Hobby wie Briefmarken sammeln oder Fußball spielen. Sie verlangt den ganzen Einsatz, und das meint nicht nur jederzeit, sondern auch der ganzen Person. "Umgang, Aussehen, Sprache, Persönlichkeit. Je länger ich dabei war, desto mehr veränderte ich mich", notiert der Ex-Neonazi Stefan Michael Bar in seiner erstaunlichen Autobiografie "Fluchtpunkt Neonazi". "Im Laufe der Zeit reduzierten sich meine Bekanntschaften und Kontakte nur noch auf Nazis und die "Szene", selbst langjährige Freundschaften ließ ich im Sande verlaufen. Wer kein "Kamerad" war, war Feind, egal, wie lange ich denjenigen schon kannte. Die "Bewegung" stand über allem. Ununterbrochen waren wir unter uns, schotteten uns regelrecht ab, schnell verlor man da den Bezug zur Gesellschaft, zu ganz normalen Leuten. Das ganze Leben spielte sich plötzlich nur noch in der Gruppe ab, reduzierte sich darauf, die "Bewegung" drang in alle persönlichen Bereiche vor, ohne Rücksicht auf Privatsphäre" (a.a.O., S. 37).

Der erste Schritt zum Ausstieg aus der rechten Szene ist häufig eine längere räumliche und zeitliche Trennung von den "Kameraden". So bemerkt auch Stefan Michael Bar bereits bei den ersten Treffen mit "Kameraden" nach der Haftentlassung, dass er sich der "Bewegung" entfremdet hat. Die aufgeblasenen Posen und Sprüche erscheinen ihm als Lügen, er fragt sich zum ersten Mal, wofür er eigentlich in den Knast gegangen ist, was sich durch sein "Opfer" verändert hat. "Ich begann, mich abzusondern, die "Kameraden" zu meiden, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Keine drei Monate nach der Entlassung dachte ich zum ersten Mal ans Aussteigen." Doch vom ersten Gedanken bis zur unwiderruflichen Tat ist es noch eine gehörige Strecke Weges, auf dem nicht wenige Neonazis wieder umkehren. Auch für Stefan Michael Bar beginnt ein "langwieriger und schmerzvoller" Abnabelungsprozess. Es wird noch über ein Jahr dauern, bis Bar wirklich "draußen" ist. "Ist man erst mal in der "Szene" drin, ist sie alles. Sie gibt dir Freunde, "Kameraden", Zusammenhalt, Kleidung, Weltbild, Familienersatz, Schutz. Vorausgesetzt, du identifizierst dich voll und ganz damit, stellst keine Fragen, bist nicht kritisch. Ich aber fing an, mir Fragen zu stellen. Mein Weltbild bröckelte. Das erschreckte mich. Mein Weltbild war ins Wanken geraten, das war doch alles, was ich hatte. Dafür hatte ich mich in Haft gesetzt und alles geschluckt, der Nationalsozialismus war meine Religion, das konnte nicht falsch sein, durfte nicht falsch sein! Gegen das Nachdenken habe ich mich gewehrt, wollte das gar nicht zulassen, würde ja heißen, jahrelang auf der falschen Seite gestanden zu haben, der Knast, alles wäre umsonst gewesen" (a.a.O., S.125). Die Zweifel waren da, trotzdem hielt Bar eisern an dem fest, was ihm noch an Glauben verblieben war. "Der Nachdenkprozess hatte eingesetzt, erste Risse in der Ideologie, die heile Welt der "Bewegung" wankte. Wenn´s erst einmal so weit ist, ist die Sache nicht mehr zu retten, erste Risse in der Ideologie sind nicht mehr zu kitten. Auch wenn ich das verzweifelt versucht habe. Die "Szene" ist eine Sucht, über Jahre hinweg wirst du von ihr total abhängig. Du hast ja nichts anderes, lebst für sie, bist in ihr aufgegangen. Der Gedanke, alles aufzugeben, plötzlich ganz allein dazustehen, machte mir Angst. Wie ein Süchtiger hielt ich dran fest" (a.a.O., S. 126).

Denn wer die rechte Szene verlässt, fällt in ein tiefes Loch. Der Ausstieg aus der Szene beendet auch sofort sämtliche individuellen Freundschaften. Der vermeintlich beste Freund von gestern kann nun der Erste sein, der zuschlägt, wenn man sich unverhofft wieder begegnet. Leider erst, nachdem sie ausgestiegen sind, erkennen viele Ehemalige, dass in der rechten Szene bewusst nicht von "Freundschaft" gesprochen wird – sondern von "Kameradschaft". Und das ist etwas völlig anderes.

Quellen / Literatur

Moorcock, Michael: Tochter der Traumdiebe. München 2003.

Fussnoten

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ist Fachautor, Dozent und Leiter des Externer Link: Archiv der Jugendkulturen sowie des gleichnamigen Verlages.