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Hintergrund – "Den Krieg durch die Augen eines Kindes sehen" | "Lauf Junge Lauf" | bpb.de

"Lauf Junge Lauf" "Laufe Junge Lauf" – Subjektive Verlusterfahrung als Geschichtszeugnis Hintergrund – Du musst deinen Namen vergessen Hintergrund – "Den Krieg durch die Augen eines Kindes sehen" Interview mit Pepe Danquart Video / Trailer Arbeitsblatt Links Redaktion

Hintergrund – "Den Krieg durch die Augen eines Kindes sehen" Zur filmischen Vermittlung subjektiver Holocausterfahrungen in "Lauf Junge Lauf"

Andreas Busche

/ 6 Minuten zu lesen

Anlässlich der Weltpremiere von Pepe Danquarts Film "Lauf Junge Lauf“ in Polen erklärte Yoram Fridman, auf dessen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg die gleichnamige Romanvorlage und deren Verfilmung basieren, dass er alle Szenen des Films "genau so" erlebt habe. Da Roman und Film Fridmans Lebensgeschichte fiktionalisieren, wirft seine Äußerung Fragen nach der Rolle des subjektiven Erlebens von geschichtlichen Zusammenhängen auf. Denn die persönlichen Erfahrungen und die mit ihnen verbundenen Geschichten von Opfern des Holocausts werden in Geschichtsbüchern nur selten überliefert. "Lauf Junge Lauf" erweitert eine auf Fakten und Daten gestützte Geschichtsschreibung um den Aspekt der subjektiven Erfahrung und ermöglicht es auf diese Weise, die Bedeutung historischer Ereignisse empathisch zu vermitteln.

Filmstill aus "Lauf Junge Lauf" (© NFP marketing & distribution)

Die Erzählstrategie von "Lauf Junge Lauf"

"Gib niemals auf! Du musst deinen Namen vergessen. Du darfst niemandem sagen, wer Du wirklich bist, aber Du darfst niemals vergessen, dass du ein Jude bist!" In Pepe Danquarts Film "Lauf Junge Lauf" sind das die letzten Worte des Vaters an seinen achtjährigen Sohn Srulik, bevor er von Soldaten der Wehrmacht erschossen wird. Srulik hört die Schüsse nur aus der Ferne, ihm bleibt jedoch keine Zeit, den Verlust seines Vaters zu betrauern. Regisseur Pepe Danquarts etabliert in dieser frühen Szene zwei zentrale Themen des Films, der von der dreijährigen Odyssee des jüdischen Waisenjungen Srulik durch das im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten besetzte Polen handelt: die traumatische Erfahrung des Holocaust und die Verleugnung der eigenen Identität als einzige Chance, um zu überleben. "Lauf Junge Lauf" nimmt zur Veranschaulichung seines historischen Sujets eine subjektive Perspektive ein. Danquart schildert die Geschehnisse durch die Augen des jungen Srulik, die im Film als emotionales Motiv fungieren: Die Welt spiegelt sich im Blick eines Jungen, der kein Kind mehr sein darf, aber noch nicht erwachsen ist.

"Lauf Junge Lauf" adressiert ein jüngeres Publikum und setzt bei diesem keine tiefergehenden Kenntnisse über die Hintergründe des nationalsozialistischen Regimes und des Holocausts voraus. Seine Geschichte kontextualisiert der Film historisch nicht durch eine Bezugnahme auf ausdrücklich genannte Daten, sondern er wählt eine emotionale Form der Vermittlung von historischen Ereignissen. Darin vertraut "Lauf Junge Lauf" in erster Linie auf das naturalistische Spiel der Zwillingsbrüder Andrzej und Kamil Tkacz, die sich die Rolle von Srulik teilen. Ihre unterschiedlichen Temperamente verleihen der fiktionalisierten Lebensgeschichte des Holocaust-Überlebenden Yoram Fridman eine lebensnahe Authentizität. Pepe Danquarts Fokus auf die Darstellung eines individuellen Schicksals bestimmt auch die Auswahl der visuell-narrativen Stilmittel des Films. Die Gesichter der beiden Hauptdarsteller sind ein zentrales erzählerisches Element, um die Zuschauenden in die Geschichte von "Lauf Junge Lauf" hineinzuführen. Dabei setzen Regisseur und Figur gleichermaßen auf das Prinzip der Empathie. So wie das Überleben Sruliks vom Mitgefühl seiner Mitmenschen abhängig ist, lebt auch die Glaubwürdigkeit der Erzählung von der Identifikation der Zuschauenden mit der Figur.

Besonders nachdrücklich wird diese Erzählstrategie in jenen Szenen deutlich, in denen Srulik auf seiner Flucht an die Türen der Bauernhäuser klopft: Wenn der Junge um eine Unterkunft oder um etwas Essen bittet, appelliert sein ernster, trauriger Blick an das Mitgefühl der Bewohner. Auch die Großaufnahmen von Sruliks Gesicht erfüllen dieselbe Funktion: Sie erzeugen beim Betrachter Anteilnahme an den lebensgefährlichen Situationen, denen die Figur auf ihrer Flucht ausgesetzt ist.

"Lauf Junge Lauf" kommuniziert die Gefühlswelt Sruliks primär über den Austausch von Blicken. Als ihm die Bäuerin Magda zum Abschied einen Rosenkranz in die Hand drückt, verharrt die Kamera für einige Sekunden ruhig auf seinem Gesicht und verstärkt so die emotionale Wirkung des Augenblicks. Als Srulik von der SS gefangen genommen wird, insistiert er darauf, kein Jude zu sein. Die widerständige Haltung des Jungen imponiert dem vernehmenden SS-Offizier und führt zu einem Aufschub der zunächst angesetzten Hinrichtung. Durch die Inszenierung von Blicken gelingt es dem Film, moralische Werte wie Solidarität und Menschlichkeit zu etablieren. Diese finden ihren Widerklang auch in den religiösen Bezügen des Films. Im Haus der Bäuerin und später im Krankenhaus positioniert die Kamera Srulik vor einem Kreuz beziehungsweise einem Bild Marias, während sein Blick mit einem Anflug von Hoffnung zu den religiösen Symbolen wandert. Christlich konnotierten Insignien stellen so ikonografische Elemente des Films dar. Im Filmverlauf stehen sie symbolisch für den Schutz, den Srulik durch die Annahme einer christlichen Identität erhält.

Der Schrecken des Zweiten Weltkrieges vermittelt sich in "Lauf Junge Lauf" also nicht anhand von als "objektiv" markierten Bildern von Massendeportationen und Hinrichtungen, wie sie als Sujet sogenannter "Holocaust-Filme" oftmals zur Authentifizierung historischer Ereignisse herangezogen werden. Der Film zeigt Bilder aus dem Warschauer Ghetto nur in einer kurzen Rückblende, Gewalt gegenüber Menschen (wie etwa die Erschießung des Vaters) findet im Off statt. Es sind Sruliks persönliche Erfahrungen wie die Amputation seines Armes, durch die den Zuschauenden die traumatischen Verlusterfahrungen während seiner Flucht vermittelt werden.

Die Inszenierung der Flucht

Um die permanente Bedrohung durch die Soldaten der deutschen Wehrmacht zu verdeutlichen, bedient sich Danquart einer dynamischen, figurennahen Kameraführung, die die Ruhelosigkeit und Gehetztheit Sruliks für die Zuschauenden unmittelbar erfahrbar macht. Das Motiv der Flucht, das auch im Filmtitel anklingt, wird visuell umgesetzt in den Sequenzen mit erhöhter Mobilität. Die Kamera zeigt wiederholt, wie Srulik auf der Flucht vor Bauern oder herannahenden Soldaten durch die Wälder rennt. Eine lange Parallelmontage, die Szenen der Aufnahme Sruliks bei polnischen Familien und Großaufnahmen seiner über die Felder und durch den Schnee stapfenden Füße alterniert, vermittelt das Gefühl des Getriebenseins prägnant und überträgt es auf die Zuschauenden. Stillstand bedeutet für Srulik höchste Gefahr. Die Warnung "Bleib nirgendwo!", die ihm die Bäuerin Magda zum Abschied mit auf den Weg gibt, erweist sich somit gleichsam als Motto einer Inszenierungsstrategie der Ruhelosigkeit.

Die Erzählform Abenteurfilm

Die narrative Struktur der Filmgeschichte von "Lauf Junge Lauf" zeigt Einflüsse des Genrekinos. Insbesondere bei Abenteuerfilmen, zu denen der Film erzählerisch Nähe sucht, handelt es sich um ein filmgeschichtlich traditionell beliebtes Erzählformat, um soziale und politische Themen niedrigschwellig zu vermitteln. Abenteuergeschichten beinhalten häufig Riten des Übergangs, wie den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter. Sruliks Flucht – auf filmpsychologischer Ebene eine Reise ins Unbekannte - steht symbolisch für einen inneren Reifeprozess, den er im Verlauf des Films durchlebt. Die Erfahrungen von Tod und des Verlustes seiner Familie stehen für den Abschied von einer Kindheit, die unwiderruflich verloren ist.

Audiovisuell orientiert sich "Lauf Junge Lauf" an den Genrekonventionen von Abenteuerfilmen im Jugendfilmbereich: Mithilfe dieser vertrauten Erzählform kann der Film Jugendliche an ein historisches Thema heranführen, das für die Zielgruppe unter Umständen zu sehr in der Vergangenheit verhaftet scheint. In dem Abenteuer-Aspekt von "Lauf Junge Lauf" verbindet sich ein Naturalismus in der Inszenierung mit einer klaren, allgemein verständlichen Bildsprache, deren gestalterischen Mittel nicht von der Geschichte ablenken.

"Lauf Junge Lauf" im Vergleich mit "Die Abenteuer des Huckleberry Finn"

Danquart selbst vergleicht in Interviews "Lauf Junge Lauf" mit Mark Twains Roman "Die Abenteuer des Huckleberry Finn", der im Verlauf der Reisebewegung seiner beiden Hauptfiguren ebenfalls das Gesellschaftsbild einer bestimmten historischen Epoche zeichnet. Beide Geschichten ähneln sich in ihrer Erzählstruktur, die einen stark episodischen Charakter aufweist. Auch die Reise von Huckleberry Finn und Jim führt zu einer Vielzahl von Begegnungen mit Menschen, die das gesamte Spektrum der damaligen Gesellschaft umfassen. Aber noch mehr als diese formalen Ähnlichkeiten verbindet "Lauf Junge Lauf" und "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" das zentrale Motiv des Waldes. Die Natur ist im Film mehr als bloße Kulisse: Pepe Danquart inszeniert den Wald als einen der Hauptfigur ebenbürtigen Protagonisten. Darsteller, Kamera und Natur gehen eine filmische Symbiose ein, die dem Filmthema des Überlebens eine märchenhafte Anmutung verleiht.

Der Wald als Zufluchtsort

"Der Wald beschützt uns", sagt eines der polnischen Waisenkinder einmal zu Srulik. Danquart visualisiert den Wald als ein sicheres Refugium vor den Soldaten der deutschen Wehrmacht, die sich aus Angst vor Partisanen nicht in das unübersichtliche Gelände wagen und inszeniert die Szenen der Kinder im Wald in einem unbeschwerten Stil - trotz der unmittelbaren Gefahr, in der diese schweben - mit Pinkelwettbewerben, kleinen Beutezügen und Lagerfeueratmosphäre. Pepe Danquart setzt den Wildwuchs des Waldes als freundliches Bildelement ein: der undurchdringliche Wald gewährt Srulik und seinen Freunden Schutz, die Natur mit ihrem üppigen, tief grünen Blätterdach hat sich gemeinsam mit ihnen gegen die Eindringlinge verschworen.

Nach Sruliks Flucht aus dem Ghetto

Film und Geschichtsschreibung

"Lauf Junge Lauf" nutzt narrative Elemente aus Abenteuererzählungen der Jugendliteratur, und schafft so einen fiktionalen Rahmen, um eine auf wahren Begebenheiten beruhenden Lebensgeschichte zu erzählen. Durch die Einbindung von Yoram Fridman verweist der Film an seinem Ende auch auf das Verhältnis von offizieller, datengestützter Geschichtsschreibung und dem subjektiven Erleben historischer Ereignisse. Auf diese Weise wird deutlich, dass "Geschichte" beide Aspekte beinhaltet und nur im Spannungsfeld zwischen "objektiver" und "subjektiver" Geschichtsvermittlung erfahrbar gemacht werden kann."

Andreas Busche arbeitet seit fünfzehn Jahren als freier Journalist und Filmkritiker in Berlin, war zwischenzeitig als Filmrestaurator in Holland tätig und ist derzeit verantwortlicher Redakteur von Externer Link: www.kinofenster.de