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Neue Gebiete auf der filmischen Landkarte | bpb.de

Neue Gebiete auf der filmischen Landkarte

Rabih El-Khoury

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Im Zuge des Arabischen Frühlings tauchten auch Geschichten aus Ländern auf der filmischen Landkarte auf, die dort bisher nicht unbedingt zu sehen waren. Ähnlich wie in Syrien hatten sich auch in Libyen die Bürgerproteste innerhalb kurzer Zeit in gewaltsame Zusammenstöße verwandelt, bei denen die Sicherheitskräfte Muammar al-Gaddafis und Anti-Gaddafi-Rebellen aufeinandertrafen. Mit der Festnahme und Ermordung des Machthabers im Oktober 2011 breitete sich der Bürgerkrieg nur noch schneller über das Land aus und machte die ursprünglichen Hoffnungen der Protestierenden zunichte. Filmemacherin Naziha Arebi heftete sich an die Fersen dreier libyscher Frauen mit dem gemeinsamen Ziel, Fußball zu spielen und sich in einer von Männern dominierten Gesellschaft zu behaupten. In ihrem Dokumentarfilm Freedom Fields (2018) betrachtet sie Libyen aus der persönlichen Perspektive dieser drei Frauen. Der Film ist in erster Linie eine Koproduktion zwischen Schottland (SDI Productions) und Libyen (HuNa Productions). Doch auch in der arabischen Welt und auf internationaler Ebene stieß Arebis Film auf Aufmerksamkeit. Er wurde durch den IDFA Bertha Fund (Niederlande), das Sundance Film Institute (USA), den Hot Docs Blue Ice Group Documentary Fund (Kanada) sowie in der arabischen Welt durch den AFAC und das Doha Film Institute gefördert. Dies zeigt, dass es ein Interesse an Geschichten aus bisher unbekannten Ländern wie Libyen gibt.

Auch der Jemen wurde zum Schauplatz gewaltsamer Proteste, nachdem sich die Protestierenden zunächst an den Demonstrationen in Tunesien und Ägypten ein Beispiel genommen hatten. Die jemenitisch-schottische Regisseurin Sara Ishaq war gerade mit Filmarbeiten für ihren Dokumentarfilm The Mulburry House beschäftigt, als bei den tragischen Ereignissen in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa am 18. März 2011 etwa 50 friedliche Demonstrierende von Heckenschützen und Sicherheitskräften ermordet wurden. In ihrem kurzen Dokumentarfilm Karama Has No Walls (2012) will Ishaq mit Hilfe der Berichte zweier Väter erläutern, wie es zu diesen Angriffen kommen konnte. Kurz darauf stellte sie ihre persönliche Dokumentation The Mulberry House (2013) fertig, in der sie die Revolution auf den Straßen aus ihrem eigenen Haus beobachtet. Ihre Familie kocht für die Protestierenden vor dem Haus, während die Regisseurin der ganzen Welt von den neuesten Ereignissen berichtet.

Karama Has No Walls wurde 2014 für einen Oscar nominiert (als erster jemenitischer Film in der Geschichte des Filmpreises für den Besten Dokumentar-Kurzfilm), wie auch Jehane Noujaims The Square (Bester Dokumentarfilm) und Hany Abu Assads Spielfilm Omar (Bester internationaler Film, Palästina). Dies ist nach Meinung Ishaqs ein Zeichen für einen echten Wandel:"„Die Tatsache, dass in diesem Jahr drei arabische Filme für einen Oscar nominiert wurden, ist an sich schon eine Sensation. Und es sagt viel über die veränderte Wahrnehmung der arabischen Welt sowie darüber aus, dass in der Region erstklassige Filme produziert werden, die internationale Aufmerksamkeit und Wertschätzung verdienen. Die ausgesprochen negativen Ereignisse haben hier also auch etwas sehr Positives hervorgebracht."

Im Sudan brach im Januar 2011 eine große Protestwelle aus, die etwa zwei Jahre andauerte. Doch erst in den Jahren 2018/2019 gingen die Straßenunruhen der sudanesischen Revolution in ihre zweite Runde und führten am 11. April 2019 zum Sturz des sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir durch einen Putsch des Militärs. Unter dem Übergangsmilitärrat kam es am 3. Juni 2019 zu einem Massaker, bei dem die Rapid Support Forces nach Angaben lokaler Ärzte mehr als 100 friedliche Protestierende töteten, ihre Leichen in den Nil warfen und bis zu 70 Frauen vergewaltigten. Neben der politischen vollzog sich allerdings noch eine weitere Revolution: Nach Jahrzehnten der Dunkelheit, die auf das Verbot von Kinos und Filmarbeiten nach dem Militärputsch von 1989 folgten, tauchten plötzlich Filme aus dem Sudan in der internationalen Festivallandschaft auf. Hajooj Kuka gewann mit seinem Dokumentarfilm Beats of the Antonov (2014) beim Filmfestival in Toronto den Publikumspreis. Sein Film ist eine Hommage an die Kraft der Musik, mit der er die traumatisierten Bevölkerungsgruppen aus den Nuba-Bergen und vom Blauen Nil nach endlosen brutalen bewaffneten Konflikten und Vertreibungen zusammenbringt. Kurz darauf drehte er seinen ersten Spielfilm, die Komödie aKasha (2018), die sich ebenfalls mit den Konflikten in dieser Region auseinandersetzt.

Doch vor allem im Jahre 2019 erfreute sich die noch junge Filmindustrie aus dem Sudan einer zuvor ungekannten Aufmerksamkeit. Talking about Trees (2019) feierte seine Premiere bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin und gewann den Glashütte Original — Dokumentarfilmpreis sowie den Panorama Publikumspreis. Regisseur Souhaib erzählt darin die Geschichte von vier Filmveteranen und ihrem nahezu aussichtslosen Unterfragen, während der Diktatur von al-Bashir ein altes Kino wiederzueröffnen. Im Forum der Berlinale stellte Marwa Zein ihren Film Khartoum Offside (2019) vor. Darin taucht sie in die Welt einer Gruppe junger Frauen ein, die entgegen allen finanziellen, religiösen und gesellschaftlichen Hindernissen ein sudanesisches Team für die Frauenfußball-Weltmeisterschaft aufbauen wollen. Einige Monate darauf wurde Amjad Abu Alala auf den Filmfestspielen in Venedig für You Will Die at Twenty (2019) mit einem Löwen für den besten Debütfilm ausgezeichnet. Ihr Film gehört zu den wenigen direkt im Land produzierten Spielfilmen und erzählt ein modernes Märchen über das Leben im heutigen Sudan.

Moderne und Tradition sind auch das Thema von Dhalinyaro (2019), einem Film über die Emanzipation der Jugend im heutigen Dschibuti: Drei Mädchen im Teenageralter müssen sich entscheiden, ob sie zu Hause bleiben oder im Ausland studieren wollen. Es ist der erste Spielfilm, den die dschibutisch-kanadische Filmemacherin Lula Ali Ismaïl in Dschibutiproduzierte, einem Land, das quasi über keinerlei Filminfrastruktur verfügt. "Im Grunde genommen gibt es keine Filmbranche in Dschibuti", erklärt die Regisseurin. "Es gibt Theater und Dichtkunst, aber nicht wirklich eine lokale Filmindustrie. Erstaunlicherweise habe ich in Dschibuti sowohl für meinen Kurzfilm als auch für meinen Spielfilm öffentliche und private Fördermittel erhalten. Die Menschen in Dschibuti sind also gern bereit, diese Branche zu unterstützen, auch wenn sie dort noch in den Kinderschuhen steckt."

Auch in Saudi-Arabien hatte es bisher keine Filmindustrie gegeben. Im Jahre 2018 genehmigte das konservative Königreich nach einem mehr als dreißig Jahre währenden Verbot die Öffnung des ersten kommerziellen Kinos. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gab es einige zaghafte Versuche der Filmproduktion. Doch vor Wadjda (2012, deutscher Titel: Das Mädchen Wadjda), dem Debüt der Regisseurin Haifa Al Mansour, wurde kein einziger Spielfilm vollständig in Saudi-Arabien gedreht. Außerdem ist es der erste Spielfilm des Landes unter weiblicher Regie. Er erzählt die Geschichte eines 10 jährigen Mädchens, das sich durch nichts davon abhalten lässt, das nötige Geld für ein eigenes Fahrrad aufzubringen, obwohl Mädchen in seiner Heimat das Fahrradfahren nicht erlaubt ist. In seiner Komödie Barakah Meets Barakah (2016), einer Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen aus unterschiedlichen Klassen, widmet sich Regisseur Mahmoud Sabbagh ebenfalls gesellschaftlichen Fragen. Die mittlerweile etablierte Filmemacherin Haifa Al Mansour drehte ihren dritten Spielfilm und ihre zweite Regiearbeit mit der Berliner Produktionsfirma Razor Film in Saudi-Arabien: The Perfect Candidate (2019, deutscher Titel: Die perfekte Kandidatin) feierte Premiere im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig. Doch im Jahre 2019 gab es noch zwei weitere ganz andere filmische Stimmen aus Saudi-Arabien, die für eine neue Generation unabhängiger Filmschaffender aus diesem Land stehen: In Last Visit (2019) von Abdulmohsen Aldhabaan unternehmen Vater und Sohn einen gemeinsamen Ausflug aufs Land. Scales (2019) von Shahad Ameen ist eine von arabischen Mythen und Folklore beeinflusste Fabel, gedreht in Schwarz-Weiß. In dem Film rebelliert Hayat, ein Mädchen im Teenageralter, gegen die patriarchalischen Normen, die in ihrem Fischerdorf herrschen. Aus zwei recht unterschiedlichen Perspektiven befassen sich beide Spielfilme mit dem Thema des Patriarchats und seinen Auswirkungen auf die konservative Gesellschaft. Im Unterschied zu The Perfect Candidate wurden beide Filme ohne europäische Fördermittel produziert. Last Visit ist eine rein saudi-arabische Produktion, Scales eine Koproduktion zwischen Saudi-Arabien, dem Irak und den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Rabih El-Khoury ist als Diversity Manager im Team des DFF - Deutsches Filmmuseum & Filminstitut in Frankfurt am Main tätig. Darüber hinaus arbeitet er als Geschäftsführer am Metropolis Art Cinema sowie als Generalkoordinator des arabischen Filmfestivals The Beirut Cinema Days. Er hat über 20 arabische Filmwochen in der arabischen Welt und Europa organisiert. Seit 2014 ist er Programm-Manager von Talents Beirut und Mitglied des Verwaltungsrats der Metropolis Association. Er war außerdem Kurator des Filmpreises der Robert Bosch Stiftung.