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Fazit

Rabih El-Khoury

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Die gesamte arabische Region befindet sich im Umbruch. Die Geschichten der Filmschaffenden werden immer persönlicher, und sie scheuen sich nicht, heikle Themen anzusprechen und kontroverse Diskussionen anzustoßen. Doch die arabische Welt ist noch weit davon entfernt, ihre eigene Stimme zu finden und sich neu zu definieren. Der Arabische Frühling, der eigentlich als Befreiungsschlag unterdrückter Völker gedacht war, erwies sich nicht nur als große Enttäuschung, sondern für einige Länder sogar als weitaus zerstörerischer. Es braucht einen langen Atem, bis arabische Geschichten produziert und gezeigt werden können. Einige der persönlicheren Geschichten erreichen zudem nur schwerlich das einheimische Publikum. In den meisten Ländern der Region spielt Zensur noch immer eine zentrale Rolle. "Die politischen, religiösen oder sexuellen Beschränkungen, die in der Mehrzahl der arabischen Staaten gelten, haben in Beirut keinerlei Bedeutung" , sagt Jad Abi Khalil, Leiter der Beirut Cinema Platform, des Branchenzweigs der Beirut Cinema Days. Trotzdem passieren zahlreiche Filme am Ende nicht die Zensur und können ihr Publikum nicht erreichen. Abi Khalil ist überzeugt, dass es schon immer Zensur gab: "Die Situation war noch nie besser. Jede Ausgabe der Beirut Cinema Days hatte mit Zensurproblemen zu kämpfen. Und jede Veranstaltung ist grundsätzlich immer mit Zensur konfrontiert." Es dauerte zehn Jahre, bis Tamer El Said seinen Film In the Last Days of the City (2016) fertigstellen konnte. Die bewegende Hommage an seine Heimatstadt Kairo tourte durch die ganze Welt, durfte aber nicht vor ägyptischem Publikum gezeigt werden. Und obgleich Zensur in der Regel Regierungssache ist, kann sie auch gesellschaftlich motiviert sein. Nach einer Vorführung von Salvation Army (2013) auf einem Festival in Tanger stellte Taïa fest: "Das Publikum war peinlich berührt. Zum ersten Mal sahen die Zuschauerinnen und Zuschauer einen Film mit einer schwulen Hauptfigur. Sie lachten. Auf der Pressekonferenz waren die Fronten verhärtet. Die Stimmung war äußerst angespannt." Darüber hinaus geht es auch um Offenheit und Akzeptanz. Einige Themen gelten noch immer als Tabu, und eine Mehrheit der Gesellschaft ist weiterhin nicht bereit (oder weigert sich), sie anzunehmen. Nach Angaben der namhaften tunesischen Produzentin Dora Bouchoucha (des bereits erwähnten Films Hedi), "hat sich die direkte Zensur in eine Selbstzensur verwandelt, so wie die Religion die Politik als größtes Tabuthema des Landes ersetzt hat.“

Das Patriarchat und seine gravierenden Auswirkungen auf die Situation, den Status und die Rolle von Frauen in der Gesellschaft liefern eine wichtige Inspirationsquelle, wie die weiter oben besprochenen Filme zeigen. Das vorherrschende korrupte System in mehreren, wenn nicht sogar in den meisten arabischen Ländern, wird in zahlreichen Filmen aus der Region inzwischen offen thematisiert. Dies trifft insbesondere (aber nicht nur) auf die Arbeiten von Filmemacherinnen zu, die sich in ihren jeweiligen Gesellschaften lautstark für eine Gleichstellung der Geschlechter einsetzen. In einem Gespräch über die Herausforderungen von Filmemacherinnen in Marokko spricht Maryam Ben’Mbarek davon, dass die Situation noch immer sehr schwierig ist: "Als Erstes brauchen wir Frauen in zentralen Entscheidungspositionen. Wir müssen in diesem Teil der Branche für Gleichstellung sorgen. Das würde vieles erleichtern. Diesem Thema habe ich mich auch in Sofia (2018) gewidmet - der Tatsache, dass das Patriarchat nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer eine Gefahr darstellt."

Doch es gibt offensichtlich eine neue Generation von Filmschaffenden, die sich an Themen heranwagt, die die jahrzehntelange Tyrannei, die Gesellschaft und ihre unzähligen Probleme, herrschende Moralvorstellungen, archaische Traditionen und Sexualität betreffen. Heute erblicken Geschichten die Leinwand, die bislang selten im arabischen Kino erzählt wurden, die vielfältiger und inklusiver sind und frische Perspektiven vermitteln. Regisseur Abu Bakr Shawky befasst sich in seinem Spielfilmerstling Yomeddine (2018) mit verschiedenen marginalisierten Gemeinschaften in Ägypten über die Geschichte eines älteren Leprakranken, der seine Kolonie zusammen mit einem Waisenjungen verlässt. Rabih ist ein junger blinder Musiker, der sich in Vatche Boulghourjians Spielfilmdebüt Tramontane (2016) auf einer Reise durch seine libanesische Heimat ebenfalls auf die Suche nach seiner wahren Identität begibt. Barakat Jabbour, der in diesem Film die Rolle des Rabih spielt, ist im wahren Leben ein blinder Violinist und Sänger.

Einige Filmschaffende loten die Grenzen der Filmkunst neu aus, wenn sie Geschichten in die Welt tragen, die erzählt, aber auch gesehen werden müssen. Zwar kann man in der arabischen Welt, in der es im Grunde keine Kulturindustrie und nur begrenzte Fördermöglichkeiten gibt, noch nicht von einer echten Filmindustrie sprechen. Doch ungeachtet dessen hat sich im vergangenen Jahrzehnt eine neue Generation aufregender und einzigartiger Stimmen entwickelt, die bereit ist, ihrem Publikum neue Perspektiven zu eröffnen und die bestehenden Normen und den Status Quo in der arabischen Welt unablässig zu hinterfragen.

Rabih El-Khoury ist als Diversity Manager im Team des DFF - Deutsches Filmmuseum & Filminstitut in Frankfurt am Main tätig. Darüber hinaus arbeitet er als Geschäftsführer am Metropolis Art Cinema sowie als Generalkoordinator des arabischen Filmfestivals The Beirut Cinema Days. Er hat über 20 arabische Filmwochen in der arabischen Welt und Europa organisiert. Seit 2014 ist er Programm-Manager von Talents Beirut und Mitglied des Verwaltungsrats der Metropolis Association. Er war außerdem Kurator des Filmpreises der Robert Bosch Stiftung.