Alte und neue soziale Ungleichheiten in der Beruflichen Bildung
Die institutionelle Trennung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung ist ein wesentlicher Grund dafür, dass soziale Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung in Deutschland stark ausgeprägt sind. Daran hat auch die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte wenig geändert. Vielmehr haben sich in ihrer Folge neue Ungleichheitslinien herausgebildet.
Stabilisierung der sozialen Ungleichheit in der Hochschulbildung
Die im deutschen Bildungswesen angelegte Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung, die auch in der Bildungsexpansions und -reformphase nicht aufgehoben wurde (vgl. Teil 1) geht bis heute mit starken Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung und den Bildungschancen der sozialen Schichten einher. In welchem Maße die Hochschule trotz Bildungsexpansion und der mit ihr verbundenen Aufstiegsversprechungen letztlich Domäne der sozial Bessergestellten geblieben ist, wird deutlich, wenn man betrachtet, welche Bildungsabschlüsse Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft in den vergangenen 50 Jahren, also während der Phase der Bildungsexpansion, erreicht haben.i
Bildungsexpansion
Obwohl die Bildungsexpansion seit Mitte der 1960er Jahre zu einer Vervielfachung der Zahl von Studienberechtigten und Studierenden geführt hat, hat sich die Grundstruktur der Bildungs und Ausbildungsteilhabe, wenn man die Betrachtung auf die beiden großen Ausbildungsbereiche Hochschule und berufliche Ausbildung konzentriert, zwischen den sozialen Klassen kaum verändert (vgl. Abb. 1). Folgt man dem sogenannten EGP-Klassenschema (Erikson, Goldthorpe 1992, siehe Infobox) und unterteilt den Zeitraum der Bildungsexpansion bis 2011 in vier Geburtskohorten, so zeigt sich folgendes Bild:
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Das EGP-Klassenschema
Obere Dienstklasse (I): Darunter fallen z. B. freie akademische Berufe, führende Angestellte, höhere Beamte, selbstständige Unternehmer mit mehr als 10 Mitarbeitern, Hochschul- und Gymnasiallehrer.
Untere Dienstklasse (II): Darunter fallen z. B. Angehörige von Semiprofessionen, mittleres Management, Beamte im mittleren und gehobenen Dienst und technische Angestellte mit nicht-manueller Tätigkeit.
Routinedienstleistungen Handel und Verwaltung (III): Darunter fallen z. B. Büro- und Verwaltungsberufe mit Routinetätigkeiten und Berufe mit niedrig qualifizierten Tätigkeiten, die oftmals keine Berufsausbildung erfordern.
Selbstständige (IV): Darunter fallen z. B. Selbstständige aus manuellen Berufen mit wenigen Mitarbeitern und ohne Mitarbeiter und Freiberufler, sofern sie keinen hoch qualifizierten Beruf ausüben.
Facharbeiter und Arbeiter mit Leitungsfunktion (V, VI): Darunter fallen z. B. untere technische Berufe wie Facharbeiter, Vorarbeiter, Meister, Techniker, die in manuelle/technische Arbeitsprozesse eingebunden sind und Aufsichtskräfte im manuellen Bereich.
Un- und angelernte Arbeiter, Landarbeiter (VII): Darunter fallen alle un- und angelernten Tätigkeiten aus dem manuellen Bereich, Dienstleistungstätigkeiten mit geringem Anforderungsniveau und Arbeiter in der Land-, Forst-, und Fischwirtschaft.

Neue soziale Ungleichheiten in der Berufsausbildung
Die Bildungsexpansion ist an der Berufsbildung insofern vorbeigegangen, als sie keine nachhaltigen Reformimpulse für die Berufsbildung angeschoben hat und die Durchlässigkeit zur Hochschule nicht verbreitert wurde. Dies zeigt sich etwa daran, wie gering noch immer der Anteil der Studierenden ist, die über den sogenannten Dritten Bildungsweg an die Hochschule kommen. Zwar gibt es für Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung in allen Bundesländern rechtlich die Möglichkeit, nach mehrjähriger Berufstätigkeit auch ohne (Fach-) Abitur zum Studium zugelassen zu werden. Der Anteil derart beruflich qualifizierter Personen an den Studienanfängerinnen und –anfängern lag 2014 jedoch nur bei 2,3 % an Hochschulen und bei 5 % an Fachhochschulen (vgl. Abb. 4.1 und 4.2).



Nichtsdestotrotz hatte die Bildungsexpansion durchaus langfristige Auswirkungen auf die Berufsausbildung, denn sie hat neue soziale Ungleichheitslinien auch innerhalb der beruflichen Bildung entstehen lassen.
Verengung des Berufsspektrums für Hauptschulabsolventen
Mit dem kontinuierlich steigenden Anteil von Abiturienten/Studienberechtigten unter den Absolventen der allgemeinbildenden Schulen hat sich die Zusammensetzung der Auszubildenden und Arbeitskräfte in den einzelnen Berufen verändert:Viele (Ausbildungs-)Berufe, die vormals prinzipiell jedem Schulabgänger offenstanden, sind im Zuge der Bildungsexpansion nur noch Absolventen mit einem höherem Bildungsabschluss (Abitur, mittlere Reife) zugänglich, mit der Folge, dass Absolventen mit Hauptschulabschluss heute nur noch aus deutlich weniger Berufen wählen können als früher. Für diese Entwicklung waren einerseits erhöhte kognitive Anforderungen der Berufe von Bedeutung (etwa aufgrund von Fremdsprachenerfordernissen oder der Automatisierung und in neuester Zeit der Digitalisierung von Arbeitsprozessen). Anderseits spielen aber auch das erhöhte Angebot an Studienberechtigten und Absolventen mit mittleren Abschlüssen eine Rolle, da Unternehmen auch ungeachtet der tatsächlichen beruflichen Anforderungen in ihren Auswahlverfahren häufig höher qualifizierte Bewerber vorziehen. Da es aber in Deutschland nach wie vor in hohem Maße vom sozialen Hintergrund abhängt, welchen Schulabschluss ein junger Mensch erreicht, verbirgt sich hinter der mit dem Schulabschluss verbundenen Ungleichheit beim Zugang zu Berufen eine Ungleichheit nach der sozialen Schichtzugehörigkeit. Man spricht daher von einer "sozialen Segmentation" der Berufe – d.h. die sozialen Schichten verteilen sich höchst ungleich auf die verschiedenen Segmente (Teile) des Berufsspektrums.
Wo auch immer die Ursachen für die verschlechterten Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen von Personen mit niedrigem Schulabschluss genau liegen, die zunehmende soziale Segmentation und damit gesellschaftliche Ungleichheit in der Berufsausbildung ist unverkennbar. Sie kann mit als Resultat der Bildungsreform der 1960er und 70er Jahre verstanden werden, die in der Traditionslinie des deutschen Bildungs-Schismas die höhere Allgemeinbildung privilegierte und, je größer der Zudrang zu den höheren Bildungsstufen wurde, den Hauptschulabschluss für berufliche Karrieren entwertete. Der Königsweg von Bildungskarrieren in Deutschland blieb die Verbindung von höherer Allgemeinbildung und Studium, die klassische Berufsausbildung dagegen – ungeachtet aller politischen Rhetorik zu ihrer Gleichwertigkeit – eine nachrangige Option mit vergleichsweise geringeren beruflichen Perspektiven und Verdienstaussichten. Es kann daher auch nicht überraschen, dass der Anteil der Studienberechtigten, die eine Berufsausbildung beginnen, seit Ende der 1990er Jahre immer weniger stark wächst, obwohl der Anteil der Studienberechtigten an der Alterskohorte auf über 50 Prozent angestiegen ist (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 124).




Probleme beim Übergang von der Schule in die Berufsausbildung
Die neuen sozialen Ungleichheiten im Zugang zur Ausbildung in den verschiedenen Berufssegmenten verbinden sich mit einem zweiten sozialen Selektionsprozess, der in den letzten beiden Dekaden ein zunächst sehr starkes, ab 2008 ein etwas reduziertes, aber stabiles Gewicht gewonnen hat: die Erschwerung des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in die Berufsausbildung. Sie findet ihren Ausdruck in einer Fülle von jungen Menschen, die nach der Schule eine der zahlreichen berufsvorbereitenden Maßnahmen im sogenannten Übergangsbereich (siehe Infobox) absolvieren, die zu keinem qualifizierten Berufsabschluss führen und unzulänglich mit dem Berufsbildungssystem koordiniert sind (vgl. Autorengruppen Bildungsberichterstattung. Indikator E1 div. Jahrgänge). Damit gerät die einstmals große Stärke des Hauptsektors des deutschen Berufsbildungssystems, der dualen Ausbildung, dass es ein offenes System ohne rechtliche Zugangsvoraussetzungen ist, immer mehr ins Wanken: Zwar gibt es auch heute keine rechtlichen Vorgaben dazu, welchen Schulabschluss ein Schulabgänger benötigt, um eine Ausbildung beginnen zu können, doch wirken sich die faktischen Zugangsschwierigkeiten für Schüler ohne oder mit einem niedrigen Schulabschluss als schwer überwindbare Barrieren aus.i
Übergangsbereich

In diesem Zusammenhang ist auf ein Datenproblem hinzuweisen: Die Berufsbildungsstatistik verfügt nicht über die Art der personenbezogenen Daten, die notwendig wären, um die heterogene Gruppe der Auszubildenden mit Migrationshintergrund vollständig zu erfassen. Informationen etwa zur im Elternhaus gesprochenen Sprache, wie sie in den Fragebögen der PISA-Studie erhoben werden, um Lernende mit Migrationshintergrund zu identifizieren, liegen in der amtlichen Statistik, die wesentlich auf Verwaltungsdaten beruht, nicht vor. Zur Klärung der Frage, in wie weit Jugendliche mit Migrationshintergrund beim Zugang zur beruflichen Bildung benachteiligt sind, kann gegenwärtig nur auf die Kategorie der Staatsbürgerschaft zurückgegriffen werden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 104). Betrachtet man die Gruppe der Auszubildenden ohne deutsche Staatsangehörigkeit ("Ausländer") – jene Untergruppe der Jugendlichen mit Migrationshintergrund also, die sich mit den verfügbaren Daten eindeutig identifizieren lässt – zeigen sich beim Zugang zur Berufsausbildung erhebliche Unterschiede zu Jugendlichen mit deutschem Pass: Bei den deutschen Schulabgängern ohne Abschluss münden 2012 knapp drei Viertel, bei denen mit Hauptschulabschluss noch zwei Fünftel nach Ende der Schulzeit ins Übergangssystem ein; bei den Absolventen ohne deutsche Staatsangehörigkeit liegen die entsprechenden Werte bei 85 bzw. 66 Prozent, also deutlich höher. Selbst mit einem mittleren Abschluss besuchen Letztere zu über einem Viertel (28 Prozent), deutsche zu 15 Prozent Maßnahmen des Übergangssektors. Gerade die Daten zum Zugang der ausländischen Jugendlichen zur Berufsausbildung gewinnen perspektivisch ihre besondere Brisanz daraus, dass heute in der Bundesrepublik insgesamt knapp ein Drittel der Population bis zum 30. Lebensjahr, in Großstädten und Ballungszentren sogar bis zur Hälfte, einen Migrationshintergrund aufweisen.
Fazit
Es erscheint als fraglich, ob die durch das Bildungs-Schisma mit verursachten neuen sozialen Ungleichheiten des deutschen Bildungswesens durch punktuelle Reformen innerhalb der jeweiligen Bildungs- und Ausbildungssegmente gelöst werden können oder ob nicht doch mutigere politische Strukturinterventionen, die das Schisma insgesamt angehen und eine systematische Bildungsförderung im unteren Bereich fokussieren, erforderlich sind.Literatur
Erikson. R./Goldthorpe, J.H. (1992): The Constant flux. Oxford. Clarendon Press.Baumert, J./G. Schümer 2001: Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen, S. 323–407.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016, Bielefeld.
Weiterführende Literatur zur Entwicklung des deutschen Bildungswesens und seines Schismas:
Baethge, M.: (2006): Staatliche Berufsbildungspolitik in einem korporatistischen System. In: Weingart, P./Taubert, N.C. (Hrsg.): Das Wissensministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland, Weilerwist, S. 435-469.
Blankertz, H. (1982): Die Geschichte der Pädagogik von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar.
Cortina, K.S./Baumert, J./Leschinsky, A.(Mayer, K.U./Trommer, L. (2008): (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, Reinbek bei Hamburg, S. 541-597.
Deutscher Bildungsrat (1970): Strukturplan für das Bildungswesen, Stuttgart.
Friedeburg, L. v. (1987): Bildungsreform in Deutschland, Frankfurt/M.
Humboldt, W. v. (1920): Gesammelte Schriften, Bd. XIII, Berlin.
Zur aktuellen Situation:
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016, Bielefeld.