Anerkennung und Respekt - Geschlechterpolitik jenseits des Gender Trouble - Essay
Geschlechterpolitik kann nicht länger von der Idee homogener Geschlechtergruppen ausgehen. Im Sinne des Diversity Management muss sie die Vielfalt unter Frauen und Männern annehmen und benachteiligungsfrei gestalten.
Einleitung
"Frauen in Europa" - unter diesem Titel will die vorliegende Ausgabe der APuZ die Situation von Frauen in unterschiedlichen Ländern Europas darstellen und den Stand der Gleichstellung von Frauen analysieren.Aber ist dies überhaupt möglich, gibt es überhaupt eine Geschlechtergruppe "Frau" oder eine Geschlechtergruppe "Mann" mit einheitlichen Alltagserfahrungen und Lebenslagen? Ist Geschlecht denn nicht nur eine soziale Konstruktion ohne jede materielle Basis? Kann es dann überhaupt eine Frauenpolitik oder Geschlechterpolitik geben?
Homogenität oder Heterogenität
Eine erste Antwort auf diese Fragen innerhalb der Geschlechterforschung gibt die sogenannte Race-Class-Gender-Debatte, die darauf hingewiesen hat, dass das Merkmal Geschlecht sich immer mit anderen Merkmalen überlagert und "vielfache Dominanzsysteme" existieren.[1] Die Hierarchisierung von Menschen entlang von Geschlecht ist Bestandteil umfassender "Dominanzkulturen",[2] die generell Unterschiede etablieren und bewerten, wobei je nach Kontext jeweils unterschiedliche Merkmale zu Diskriminierungsfaktoren werden. Das Merkmal Geschlecht fungiert nicht immer und überall als primäres Diskriminierungsmerkmal. So zeigen geschichtswissenschaftliche Studien, dass das primäre Differenzierungsmerkmal, das während der Zeit des Nationalsozialismus die Behandlung von Personen und den Zugang zu Ressourcen bestimmte, die Klassifizierung von "höherwertig" oder "minderwertig" darstellte.[3] Wirtschaftswissenschaftliche Arbeiten aus den USA machen deutlich, dass im Rahmen von industriellen Restrukturierungsprozessen je nach Region und Branche bisweilen das Qualifizierungsniveau der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bedeutender war als deren Geschlecht.[4] Nach Befunden der PISA-Studien bildet im deutschen Schulsystem nicht Geschlecht das primäre Diskriminierungsmerkmal, sondern soziale Herkunft: Es sind insbesondere die jungen Männer aus bildungsfernen Milieus, welche die Bildungsverlierer sind. Die Universalkategorie "Frau" ist also nichts weiter als eine Abstraktion, sie nutze - wie afroamerikanische Feministinnen kritisierten - vor allem den weißen, gut ausgebildeten Mittelschichtfrauen, ihre Interessen durchzusetzen. Ziel dieser Frauen ist jedoch nicht die Aufhebung von Diskriminierungsstrukturen im Allgemeinen, sondern die Gleichstellung "mit den Männern ihrer Klasse".[5]Ebenso wie der Race-Class-Gender-Ansatz betonte auch die Männerforschung seit Anbeginn, dass Männer keinesfalls eine homogene Geschlechtergruppe sind, sich unterschiedliche Männlichkeitsentwürfe gegeneinander differenzieren und hierarchisieren.[6] Das historisch und kontextuell jeweils dominierende Modell von Männlichkeit, das gewissermaßen beschreibt, was ein "richtiger Mann" ist, wird in der Männerforschung als "hegemoniale Männlichkeit" bezeichnet.[7] Hegemoniale Männlichkeiten finden sich insbesondere in den Führungspositionen von Unternehmen und bestimmen dort Leistungs- und Karrieremuster - und zwar für Frauen und Männer gleichermaßen. Diese Muster bauen insbesondere auf einer Abwertung und Ausklammerung weiblich konnotierter Tätigkeiten und Bereiche wie Hausarbeit und Kinderbetreuung auf; das sogenannte Vereinbarkeitsproblem hat hier eine seiner wesentlichen strukturellen Ursachen. Vor diesem Hintergrund wird immer wieder auf die Gefahr hingewiesen, dass klassische Gleichstellungspolitiken, die über eine Quote ausschließlich auf eine zahlenmäßige Erhöhung des Anteils von Frauen in Führungspositionen zielen, ohne dabei gleichzeitig einen Wandel von Organisationskulturen anzustreben, auf eine Anpassung von Frauen an hegemoniale männliche Habituskulturen hinauslaufen. Die Familienunfreundlichkeit von Organisationen - die Ausklammerung des Lebendigen - und die damit verbundenen Selektivitäten im Hinblick auf spezifische Lebens- und Karrieremuster bleiben auf diese Weise erhalten.[8]
Geschlecht als soziale Konstruktion?
Aber nicht nur die Existenz von homogenen Genusgruppen, sondern die Existenz von zwei Geschlechtern überhaupt wird seit Beginn der 1990er Jahre in Zweifel gezogen. Ausgangspunkt für das Konzept der "sozialen Konstruktion von Geschlecht" waren insbesondere die Arbeiten von Judith Butler.[9] Die sich auf Butler berufende sogenannte Queer-Theorie geht gegenwärtig sogar soweit, die Zweigeschlechtlichkeit als gesellschaftliche Norm insgesamt infrage zu stellen. Ins Blickfeld von Geschlechterpolitik rücken in diesem Zusammenhang vor allem Geschlechtsidentitäten und Geschlechterrollen, wobei angenommen wird, diese beliebig modifizieren zu können. Ihren politischen Niederschlag finden diese Ideen zum Beispiel in Maßnahmen wie dem Girl's und dem Boy's Day sowie in all den Programmen zur Veränderung des Berufs- und Studienfachwahlverhaltens von Frauen. Allerdings hat sich dieses in den vergangenen Jahren auf europäischer Ebene ebenso wenig verändert wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung oder das geschlechtsspezifische Muster in der Versorgung von kleinen Kindern.Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, sich die theoretischen Wurzeln des sozial-konstruktivistischen Gender-Konzepts in Erinnerung zu rufen. Diese finden sich in einem psychologischen Ansatz, der in den 1920er Jahren ausgebildet wurde und unter dem Begriff des Behaviorismus eng mit den Namen Budrus F. Skinner und J.B. Watson verbunden ist. Der Behaviorismus geht davon aus, dass menschliches Verhalten in einem Reiz-Reaktions-Muster ausschließlich durch die Umwelt bestimmt wird, wobei gleiche Umweltbedingungen zu ähnlichen Verhaltensmustern führen sollen. Individuelle kognitive Bewusstseinsprozesse als Determinante von Verhalten erkennen die Behavioristen nicht an, jeder Mensch ist bei Geburt eine tabula rasa. Die empirische Grundlage dieser basalen Annahmen der behavioristischen Psychologie bilden dabei im Wesentlichen Experimente mit Tauben, Ratten und Hunden - die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Menschen bleibt doch eher fraglich. Es ist erstaunlich, dass dieser Aspekt im Queer-Diskurs niemals einer ebensolchen kritischen Reflexion unterzogen worden ist wie die Ergebnisse der Primaten-Forschung oder der Evolutionspsychologie.[10]
Der Behaviorismus verkennt in seiner einseitigen Perspektive auf die Umwelt als Verhaltensdeterminante zudem, dass die soziale Umwelt, die auf die Individuen einwirkt und ein bestimmtes Verhalten evoziert, immer das Produkt der Handlungen eben dieser Individuen, dieser Frauen und dieser Männer, ist. Und dann stellt sich die Frage, wovon das Handeln dieser Individuen bei der Gestaltung der sozialen Strukturen, die wiederum genau das Verhalten hervorbringen, das wir beobachten können, letztendlich bestimmt wird. Bei der Beantwortung dieser Frage wird deutlich, dass der Queer-Diskurs ein bedeutendes Moment des sozialkonstruktivistischen Ansatzes dauerhaft übersieht - nämlich die Biologie des Menschen: "Biologische Fakten beschränken die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Einzelnen. Aber die gesellschaftliche Welt, die vor jedem Einzelnen ist, beschränkt auch das, was für den Organismus biologisch möglich wäre."[11] Soziale Konstruktionsprozesse entwickeln sich Peter Berger und Thomas Luckmann zufolge immer im Spannungsfeld von Natur und Kultur. Ein solcher Blick auf Männer und Frauen als Lebewesen wird von der sozialwissenschaftlichen Geschlechterforschung und der Geschlechterpolitik bedauerlicherweise vorschnell als "biologistisch" abgetan - dies nicht selten ohne ein genaues Verständnis davon, was Biologie eigentlich ist oder in weitgehender Gleichsetzung von Biologie mit genetischem Determinismus.[12] Auf diese Weise wird dann ein Faktum völlig übersehen, das für das Geschlechterverhältnis und für Geschlechterpolitik von zentraler Bedeutung ist: der Aspekt der Reproduktion beziehungsweise der Fortpflanzung.