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Idealismus und Selbstausbeutung Einblick: Warum Lokaljournalismus mehr Recherche braucht

Christine Kröger

/ 6 Minuten zu lesen

In den letzten Jahren haben auch Lokalzeitungen eigene Rechercheressorts eingerichtet. Dennoch bleiben investigative Recherchen hier eher die Ausnahme, „Schnellrecherchen“ die Regel. Wie ist dieses Defizit zu erklären – und zu verhindern? Ein Einblick von der Bremer Journalistin Christine Kröger.

Bis heute der Inbegriff investigativer Recherche: Durch ihre Aufdeckungen in der Watergate-Affäre wurden die Journalisten der Washington Post Carl Bernstein (l.) und Bob Woodward (r.) weltberühmt. (© AP, Ullstein)

"Viele Chefredakteure wissen gar nicht, worüber wir reden. Wir recherchieren doch alle, sagen sie. Doch die meisten verstehen darunter, dass sie ohne Hilfe der Sekretärin eine Telefonnummer finden." Das provozierende Zitat Hans Leyendeckers, des Ressortleiters für investigative Recherche der Süddeutschen Zeitung, bringt das Dilemma auf den Punkt. Denn tatsächlich arbeitet jeder Journalist nach dem Prinzip: erst recherchieren, dann publizieren. Wie aber sieht Recherche im Lokalredaktionsalltag aus?

In Lokalredaktionen erschöpft sich die sogenannte Recherche häufig darin, etwa bei der Polizei nochmal nachzufragen, ob der beim Verkehrsunfall am Vorabend lebensgefährlich Verletzte noch am Leben ist. Oder darin, nach der Pressekonferenz, auf der der Bürgermeister die Erfolge seiner Sparpolitik verkündet hat, bei der Opposition deren Meinung zu diesen "Erfolgen" nachzufragen. Und selbst derlei "Schnellrecherchen" unterbleiben im stressigen Redaktionsalltag allzu oft.

Welcher Lokaljournalist hat schon die Zeit zu ergründen, ob sich vielleicht an einer jüngst für viele Millionen Euro umgebauten Straßenkreuzung seither die schweren Verkehrsunfälle häufen? Interner Link: Welcher Lokaljournalist wühlt tief genug in dem ebenso trockenen wie komplizierten Zahlenwerk des Kommunalhaushalts, um vermeintliche Sparerfolge als Buchhaltertricks zu entlarven? Genau das aber ist Recherche. Recherche ist kritisch, Recherche deckt Missstände auf.

Die Presse genießt Privilegien, sie hat besondere Auskunftsrechte, besondere Auskunftsverweigerungsrechte und vieles mehr, doch sie verdient ihre Privilegien nicht, indem sie verständlicher formuliert, was Behörden, Politiker und Lobbyisten verlautbaren. Sie verdient ihre Privilegien auch nicht, indem sie unterhaltsame Reportagen oder serviceorientierte Restaurant- und Kinokritiken publiziert. Sie verdient ihre Privilegien vielmehr, indem sie Behörden, Politikern und Lobbyisten ganz genau auf die Finger schaut, mithin die Mächtigen kontrolliert und kritisiert. Anders formuliert: Sie verdient ihre Privilegien nur, weil und so lange sie über unsere Demokratie wacht.

Warum recherchieren Lokalredakteure zu wenig?

Arbeitsüberlastung und damit einhergehender Zeitmangel sind die Gründe, die für das weitgehend unbestrittene Recherchedefizit in Lokalredaktionen genannt werden. Vollkommen zu Recht: Neben Recherchieren und Schreiben haben Lokalredakteure jede Menge weiterer Aufgaben. Sie verwalten und vergeben Termine, redigieren Texte freier Mitarbeiter und Volontäre, suchen Fotos aus, formulieren Überschriften, verhandeln mit Blattmachern über Textlängen, schreiben Vorabmeldungen für den Online-Auftritt ihres Blattes, telefonieren mit unzufriedenen Lesern… Und das alles vor dem Hintergrund, dass aufgrund des Konkurrenzdrucks durch Online-Medien Redakteursstellen eingespart werden. So verdichtet sich die Arbeit für die Redakteure weiter.

Wer im Lokalen investigativ recherchieren und Missstände aufdecken will, braucht Idealismus – um es positiv auszudrücken. Negativ formuliert muss er bereit sein, sich selbst auszubeuten. Zudem braucht er starke Nerven und ein breites Rückgrat, weil die Mächtigen kritische Berichte und ihre Verfasser nicht mögen. Leider stört das einige (zum Glück nicht alle) Kollegen, die keine Lust haben, sich bei Ansprechpartnern, mit denen sie regelmäßig zu tun haben, für kritische Berichte zu "rechtfertigen", sie möchten von diesen lieber gelobt und wertgeschätzt werden. Solche Kollegen belegen leider, was schon Kurt Tucholsky wusste: "Der deutsche Journalist braucht nicht bestochen zu werden – er ist stolz, eingeladen zu sein, er ist schon zufrieden, wie eine Macht behandelt zu werden."

Idealismus und Rückgrat allein reichen aber nicht. Der Rechercheur im Lokalen braucht Kollegen, die ihm im Tagesgeschäft mal den Rücken freihalten, wenn er dicke Bretter bohren und hinter die Kulissen schauen will. Er braucht einen Chefredakteur und einen Verleger, die hinter ihm stehen – und hinter ihm stehen bleiben, wenn der Bürgermeister, der mit ihnen vielleicht im selben Golfclub spielt, nach einem kritischen Bericht demonstrativ zu grüßen vergisst.

Eigenständige Rechercheressorts machen Sinn, weil sie unabhängig von der tagesaktuellen Produktion arbeiten und damit nicht dem täglichen Entscheidungsdruck ausgesetzt sind, ob sie ihr dickes Brett weiter bohren oder doch lieber die "schnelle Geschichte" oder den "knackigen Kurzkommentar" für die morgige Ausgabe verfassen sollen. Trotz Eigenständigkeit müssen Rechercheressorts eng mit den übrigen Ressorts zusammenarbeiten.

Bei schwierigen Recherchen, etwa in der rechtsextremen Szene, können Kooperationen helfen, Recherchekapazitäten zu bündeln. (© picture-alliance/dpa)

Rechercheure brauchen ihre tagesaktuell arbeitenden Kollegen fachlich: Der Kollege im Politikressort hat vielleicht die private Handynummer des gerade nicht erreichbaren Staatssekretärs; und der Kollege im Lokalressort kann beurteilen, ob sich ein Hintergrundgespräch mit dem Baudezernenten lohnen könnte. Rechercheure brauchen ihre Kollegen als Verstärkung: Wenn sie tatsächlich ein "großes Ding" ausgegraben haben, reichen die personellen Kapazitäten des Ressorts (das selbst bei der überregionalen Süddeutschen Zeitung nur dreieinhalb Stellen umfasst) nicht für Bericht- und Folgeberichterstattung. Umgekehrt können Rechercheure ihren Kollegen helfen -mit vielerlei "Service": Sie wissen beispielsweise, ob das Grundbuchamt eine Akteneinsicht zu Recht verwehrt hat; sie können sagen, wie lange man dem vermutlich bestochenen Ratsherrn Zeit zur Stellungnahme geben muss.

Die Zusammenarbeit muss nicht auf das eigene Haus beschränkt bleiben, auch medienübergreifend lassen sich Recherchekapazitäten bündeln und optimieren. Dabei gilt es allerdings häufig, Konkurrenzdenken zu überwinden. Daher bieten sich für solche Kooperationen verschiedenartige Medien wie Print plus Rundfunk, Magazin plus Tageszeitung oder überregionale Zeitung plus Regionalzeitung an. So hat der Weser-Kurier vor der niedersächsischen Landtagswahl Anfang 2008 gemeinsam mit dem Norddeutschen Rundfunk die Broschüre "Rechtsabbieger. Die unterschätzte Gefahr: Neonazis in Niedersachsen" herausgegeben und flächendeckend an den weiterführenden Schulen des Landes verteilen lassen.

Was hilft gegen den Recherchemangel?

Bisher galt investigative Recherche als Domäne weniger Nachrichten- und TV-Politmagazine – wie Spiegel oder Monitor. Seit einigen Jahren denken jedoch immer mehr Journalisten – und glücklicherweise auch ihre Chefredaktionen und Verlagsleitungen – darüber nach, wie sie die Interner Link: Qualität ihrer Berichte verbessern können. Die Branche beginnt, investigative Recherche zu schätzen und sie sich zu "leisten". Eine ganze Reihe von Redaktionen wie die der Süddeutschen Zeitung oder die Welt haben eigenständige Ressorts für Recherche gegründet. Auch die taz und Die Zeit kündigte Ende 2011 an, solche Ressorts einzurichten. Für die Blätter der WAZ-Mediengruppe arbeitet bereits seit 2009 ein Team aus Redakteuren und Reportern investigativ. Dennoch sind solche Ressorts in den Redaktionen von Lokal- und Regionalzeitungen noch die große Ausnahme.

Für diese Ressorts sind Redakteure gefragt, die sich intensiv mit Möglichkeiten, Instrumenten und Techniken der Recherche beschäftigt haben. Das ist keine Banalität, denn an solchen Redakteuren herrscht in den Redaktionen von Lokal- und Regionalzeitungen (noch) großer Mangel. Ursache ist, dass Recherche in der Journalistenausbildung zu wenig bis gar nicht gelehrt wird. So wird in manchem vierwöchigen Kursus für Redaktionsvolontäre der Recherche ein einziger Tag gewidmet, während das Verfassen einer unterhaltsam zu lesenden Reportage an drei Tagen geübt wird. Und im Redaktionsalltag der Volontäre findet Recherche aus den genannten Gründen ebenfalls kaum statt.

Der Bremer Weser-Kurier hat daher 2010 ein Pilotprojekt gestartet und ein eigenständige Ressort Recherche und Ausbildung gegründet. Er ist damit eine der ganz wenigen Regionalzeitungen mit einem eigenständigen Rechercheressort und macht Recherche zugleich zu einem wichtigen Teil der journalistischen Ausbildung. Die ersten Erfahrungen sind gut. Die Nachwuchsjournalisten erleben als positiv, sich "mehr als einen halben Tag lang" eines (komplexen) Themas annehmen zu können. Selbst Volontäre, die ihre Vorliebe bislang eher in unterhaltsamen "Erzählstücken" sahen, "beißen sich fest", hinterfragen kritisch, provozieren (und freuen sich am) Widerspruch – und legen ihre "Ehrfurcht" vor Amt- und Würdenträgern ab. Letzteres ist nicht weniger als die Grundlage für kritischen Journalismus.

Warum brauchen Lokalzeitungen mehr Recherche?

Politiker und Wissenschaftler beklagen seit Jahren, dass immer weniger Bürger sich für Politik interessieren und die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung wächst. Genau darin liegt eine große, wenn nicht die größte Gefahr für unsere Demokratie. Und über genau diese hat die Presse zu wachen.

Gegenüber den wenigen überregionalen Politmagazinen in Print und Fernsehen, die vor allem von Menschen wahrgenommen werden, die ohnehin politisch interessiert sind, haben Regional- und Lokalblätter mindestens zwei Vorteile: Sie erreichen die meisten Bürger und sie verfügen über lokale Kompetenz. In den Lokal- und Regionalredaktionen weiß man, dass der Bürgermeister der Schwager von Bauunternehmer X ist, der auffallend viele Aufträge von der Kommune erhält, oder dass Nachbarn in der Kneipe X stadtbekannte Neonazis ein- und ausgehen sehen. Derlei Wissen haben Lokal- und Regionalzeitungen überregionalen Medien voraus, und dieses Wissen müssen sie viel mehr nutzen, als sie es bisher tun. Nicht nur, um ihrer Wächterfunktion gerecht zu werden, sondern auch aus purem Eigennutz – um ihre Existenz zu sichern. Die Zukunft der Lokal- und Regionalzeitung steht und fällt mit der Qualität ihrer Berichte.

Weiterführende Links

Externer Link: http://www.netzwerkrecherche.de/
Externer Link: http://www.anstageslicht.de

Christine Kröger ist Chefreporterin des Weser-Kurier in Bremen und leitet das Ressort Recherche und Ausbildung. Für ihre Recherchen in der rechtsextremen Szene, im Hooligan- und Rockermilieu wurde sie unter anderem mit dem Theodor-Wolff-Preis (2006) und dem Wächterpreis (2009) ausgezeichnet. 2011 erhielt sie für einen Beitrag über Verstrickungen von Justiz und Polizei ins Rotlichtmilieu und die organisierte Kriminalität den Henri-Nannen-Preis für die beste investigative Leistung.