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"Macher, Macht und Medien: Demokratie braucht leistungsfähigen Lokaljournalismus" | Lokaljournalismus | bpb.de

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"Macher, Macht und Medien: Demokratie braucht leistungsfähigen Lokaljournalismus" Keynote auf dem BLITZ-Forum Lokaljournalismus am 16. Mai 2013 in Hamburg

Hans-Josef Vogel

/ 13 Minuten zu lesen

Wo werden die Umbrüche unserer Zeit gestaltet? Auf weltpolitischen Gipfeln? Ganz im Gegenteil! In den Kommunen und Stadtquartieren, das heißt in den lokalen Lebenswelten, werden sich Veränderungen entfalten und ausgehandelt. Damit steigt auch die Bedeutung des Lokaljournalismus als Kommunikator, Moderator, aber auch kritischer Betrachter.

Ein Platz in der Hansestatd Rostock. Das Lokale wird das "Laboratorium der Zukunft". (© picture-alliance/dpa)

Die Bedeutung des Lokalen wird in den nächsten Jahren deutlich zunehmen. Dafür sprechen im Wesentlichen vier zentrale Gründe.

1. Grundlegende Veränderungen unserer Zeit werden lokal gestaltet

  • die demografische Entwicklung (weniger, älter, bunter)

  • die technisch-ökonomischen Entwicklungen (Digitalisierung, Globalisierung, Wissens- und Innovationsgesellschaft, Energietransformation) und

  • die gesellschaftlichen Entwicklungen (Individualisierung, Sensibilisierung für Nachhaltigkeit, Wertewandel und Vielfalt der Lebensentwürfe, Feminisierung der Gesellschaft).

All diese Umbrüche und ihre Auswirkungen haben einen realen Ort. Sie finden statt in unseren Familien, Schulen, Vereinen, Nachbarschaften, Kirchengemeinden, Stadtquartieren, in Feuerwehr und im Einzelhandel, auch in den Zeitungsredaktionen vor Ort. In den lokalen Lebenswelten, "kleinen Lebenskreisen", wie Kurt Biedenkopf sie nennt. Hier nehmen die Veränderungen und Umbrüche Gestalt an und werden dadurch gestaltbar. Und genau hier werden sie auch gestaltet – von den kleinen Lebenskreisen mit Unterstützung der Kommunen, die eine neue Rolle als Agenturen des Wandels und der lokalen Bürgergesellschaft ausüben werden, soweit sie diese Rolle nicht schon heute wahrnehmen. Die Lösungen der neuen Aufgaben werden so vielfältig sein wie die Akteure, um nicht von vorneherein Chancen und Potenziale der Bürgerinnen und Bürger auszuschließen. Um nicht von vorneherein lokales und regionales Lernen zu erschweren oder gar unmöglich zu machen.

2. Der Zentralstaat wird überfordert



Kein Staat wird die Folgen der Umbrüche zentral bewältigen. Der Zentralstaat wird überfordert sein, der großen Vielfalt der Akteure zu entsprechen, mit der unterschiedlichen Verwobenheit der Veränderungen umzugehen sowie die brachliegenden lokalen Potenziale zur konkreten Gestaltung der Umbrüche zu aktivieren. Ein Zentralstaat kann immer nur bürokratisch denken und handeln und muss es auch tun, wie Max Weber gezeigt hat.

  • Drei bis fünf Pflegestufen maximal und Schluss. Oder:

  • 40 Seiten für einen einzelnen Hartz IV-Bescheid – und das jeden zweiten Monat. Oder:

  • komplizierte Bildungs- und Teilhabe-Pakete für Kinder, die neue Bürokratie zur Folge haben.

  • 21 Minuten für die Pflege eines alten Menschen – keine Begleitung, kein Gespräch – dies passt nicht ins Format der Förderung.

3. Die "Kommunale Intelligenz" wird wichtiger



Dem Zentralstaat fehlt eben "Kommunale Intelligenz“. Das heißt: Die vielfältigen Möglichkeiten und Erfahrungen der Kommunen, die vorhandenen Potenziale der Bürgerschaft und damit die Kräfte der Selbstgestaltung der oder des Einzelnen, ihre und seine "kleinen Lebenskreise“ zur Entfaltung zu bringen. "Kommunale Intelligenz“ zu nutzen war Grund für die Einführung der Kommunalen Selbstverwaltung, nachdem Freiherr von Vincke dem damaligen preußischen Reformerkreis um Freiherr vom und zum Stein ein Gutachten über die Prinzipien der englischen kommunalen Selbstverwaltung vorgelegt hatte. Der Begriff der "Kommunalen Intelligenz“ selbst ist neu. Er geht zurück auf den Gehirn- und Lernforscher Gerald Hüther. Er hat den Begriff mit Bezug auf die kommunalen und örtlichen Möglichkeiten zur Potenzialentfaltung von Kindern und Jugendlichen in diesem Jahr eingeführt.

4. Die Kommunen sind innovationsfähig



Für die wachsende Bedeutung der Kommunen wird in diesem Zusammenhang auch sprechen, dass der Zentralstaat in seiner Innovationsfähigkeit deutlich begrenzt ist. Er bedarf mehr oder weniger für alle wesentlichen Veränderungen der Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung.

Fortschritte mittels neuer Produkte, die privat auf dem Markt angeboten werden, brauchen diese nicht. Es muss nur eine Minderheit von Konsumenten überzeugt werden, die dann zum Nachahmen einladen. Das Marktsystem hebelt eine anfängliche Mehrheitsentscheidung gegen das Neue aus. Es bietet dem Neuen auf diese Weise ganz andere Chancen als die Chancen, die die staatliche Politik bieten kann. Aber das Neue kann nicht nur Ware sein, und wird es auch nicht sein.

Die Vielfalt des Dezentralen – also die Vielfalt der Städte und Gemeinden in unserem Land – wird hier und dort und anderswo, nebenbei und unbemerkt oder offen und direkt, Chancen auf Neues und Chancen auf neue Lösungsmöglichkeiten bieten leisten. Kommunen benötigen nicht die Mehrheit der ganzen Gesellschaft des Landes, sondern die Mehrheit in ihrer Stadt, in ihrem Stadtquartier oder in einer bürgerschaftlichen Vereinigung.

Was allerdings notwendig ist, ist die Freiheit, anfangen zu können und Neues zu beginnen, wie Hannah Arendt Politik definiert hat. Beispiel dafür ist der grundlegende Beschluss für die Energiewende, für die Energietransformation. Noch nie hat es so viele Energieproduzenten in den Städten und Gemeinden gegeben wie heute, und ihre Zahl nimmt ständig zu. Einige Städte werden also immer anfangen. Und diese Städte werden dann von anderen imitiert. Nicht umsonst werden Städte als "Laboratorien der Zukunft“ oder "Laboratorien der Moderne“ bezeichnet, was ihre Bedeutung in und für Umbruchzeiten wie diesen noch steigert.

Die Kommune als Agentur für Bürgerschaft



Fassen wir zusammen: Die grundlegenden Veränderungen oder Umbrüche in fast allen Bereichen unseres Lebens führen dazu, dass das Lokale zukünftig klar an Bedeutung gewinnen wird. Dieser Bedeutungszuwachs des Lokalen wird sich unter den Bedingungen gleichbleibenden oder sinkenden materiellen Wohlstandes noch beschleunigen.

Es gibt also in Umbruchzeiten viel zu tun für Lokaljournalisten und für den Lokaljournalismus, nicht zuletzt, weil es die Bürgerinnen und Bürger und ihre kleinen Lebenskreise selbst sind, die den Wandel gestalten und von ihren Kommunen dabei unterstützt werden.

Zukünftig wird es in der Kommune nicht einen oder zwei oder 30 Macher geben, sondern ein neues Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Und ihre Zahl wird groß sein, wie wir aus Umfragen zum bürgerschaftlichen Engagement wissen.

Mit der Bedeutung des Lokalen wird automatisch die Bedeutung lokaler Kommunikation, die Bedeutung und der Wert des Lokaljournalismus, insbesondere der Lokalzeitung wachsen – egal, ob sie gedruckt oder digital erscheint. Dem Lokaljournalismus wird also nicht die Arbeit ausgehen und auch nicht der Leser. Vielmehr wird es mehr zu schreiben, mehr darzustellen, mehr zu erklären und mehr zu bewerten geben als heute.

Ja, eine Stadt gibt grundsätzlich immer Anlass journalistisch zu schreiben, schon weil Komplexität und Unvollständigkeit zu ihrem Wesen gehören. Es wird zukünftig weniger um die Kommune als Verteilungsagentur des Staates gehen. Es wird zukünftig viel mehr gehen um die Kommune als Agentur der Bürgerschaft und des neuen Bürgerengagements. Ein Paar oder auch ein Dutzend "Macher alten Typs“ in der Stadt zu begleiten – das ist einfach für Lokaljournalismus. Aktive Bürger in Umbruchzeiten journalistisch und kritisch zu begleiten – das ist neu und schon deshalb nicht einfach.

Das ist anspruchsvoll, da Lokaljournalismus sich gleichzeitig auch – was Sprache, Kanäle, Formen und Endgeräte angeht – verändern wird.

Fünf Mal: die Bedeutung der Lokalzeitung



Ich möchte kurz fünf Punkte zum Thema "Bedeutung des Lokaljournalismus und der Lokalzeitungen" ansprechen.

1. Stadtbürgerschaftliches Engagement wird ohne Lokalzeitung schwinden



Wir wissen aus Studien der USA, dass in Regionen ohne Lokalzeitung das bürgerschaftliche Engagement und das Engagement in städtischen Organen abnehmen. Die Externer Link: "taz" berichtet am 26.01.2013: "’Immer mehr amerikanisches Leben geschieht im Schatten’, hat Tom Rosenstiel, Medienforscher im Pew Research Center bereits 2009 vor einem Komitee im US-Kongress erklärt. Untersuchungen in Städten, die schon länger keine Tageszeitung mehr haben, zeigen, dass dort die Wahlbeteiligung sinkt, dass weniger Menschen bereit sind, öffentliche Ämter zu übernehmen und dass auch andere Formen von öffentlicher Aktion nachlassen. In den neuen Nachrichtenwüsten der USA schauen keine ReporterInnen mehr Ratsleuten und Bauunternehmen auf die Finger. Die vielerorts entstehenden und meist von den LeserInnen finanzierten Onlineportale haben selten genügend Personal, um die Lücken zu füllen.“ Entsprechende Beobachtungen machen wir zurzeit auch in Mecklenburg-Vorpommern, wo es "lokale Nachrichten“ nicht mehr oder nur eingeschränkt gibt.

2. Ordnen, Erklären und Bewerten werden wichtiger



In Umbruchzeiten bedarf es, was auch in einem Laboratorium wichtig ist: Ordnung im inhaltlichen Sinne – neue Ressourcen, neue Sprache mit Blick auf globale Stadtgesellschaften und Medienformen vom Laptop bis zum Smartphone – Erklärung und Bewertung der Geschehnisse.

Damit sind wir nach Sascha Lobo bei der "DNA“ einer Zeitung – egal ob sie gedruckt ist oder digital erscheint, egal ob die Zeitung von Verlagen herausgegeben oder – und das ist neu und spannend zugleich – von Bürgerinnen und Bürgern im Internet produziert wird. Sascha Lobo macht in der "Zeitungs-DNA“ die Zeitung als die "Kontext-Maschine“ aus. Ja, Lokalzeitung oder Tageszeitung sind "Zusammenhangs-Maschinen“, "Orientierungs-Maschinen“. Sie produzieren das, wonach dem wir uns richten können: Nachrichten. "Nach-Richten“ für unseren Alltag, für unsere Straße, für unsere VHS, für unseren Sportverein, für unseren Arbeitsplatz.

Vergessen wir nicht: Die "DNA“ der Zeitung haben wir quasi verinnerlicht. Zeitung ist in uns drin. Es ist kaum möglich, Nachrichten zu denken und nicht auch Zeitung zu meinen – selbst für die meisten Internet-Fans, die das oft gar nicht mehr bemerken. Ein Rundfunkjournalist ruft wie selbstverständlich die Pressestelle einer Verwaltung oder eines Unternehmens an, auch wenn sie sich "Medienstelle“ nennt. Und die Einteilung in "Ressorts“ – eine Erfindung des Mediums "Zeitung“ – hat ganz offenkundig auch im Internet Zukunft.

3. Die Lokalzeitung wird Chancen größerer Multiperspektiven nutzen

Auslage mit deutschsprachigen Tageszeitungen (© picture-alliance/dpa)

Es ist auch heute immer noch die leistungsfähige Lokalzeitung, die Stadtgespräche initiiert, organisiert und moderiert. Es ist immer noch die gedruckte Zeitung, deren Beiträge zur "Dokumentation“ oder zur Imitation "ausgeschnitten“ oder "ausgerissen“ werden. Beim (verordneten) Sterben oder besser – beim Reden über das Zeitungssterben – wird meist auch vergessen: Die Lokalzeitung hat die größte Reichweite eines Mediums in der Stadt. Und sie kann durchaus mehr an Nachrichten für die ausländischen Bürgerinnen und Bürger leisten. Zumindest die digitale Zeitung hat hier alle und dann auch noch kostenarme Möglichkeiten.

Ein Beispiel: Thema "Bürgerinnen und Bürger mit ausländischen Wurzeln“ – und der Anteil liegt in Deutschland bei rund 20 Prozent. Tageszeitungen und elektronische Medien weisen hier enorme Defizite auf. Es gibt kaum Berichte über gelungene Integration. Es gibt kaum Berichte über die Migrationsvereine und deren Arbeit, über die lokale ethnische Wirtschaft, über muslimische Feiertage und Feste, über die Situation von Älteren in den Migrationsfamilien. Es werden kaum Serviceinformationen von und für die Gemeinschaften der zugewanderten Bürgerinnen und Bürger veröffentlicht. Ist es wirklich so schwer, diese Defizite abzustellen, eine größere Multiperspektive auf den Zeitungs- oder Internetseiten zu schaffen und neue Leserinnen und Leser für das immer spannender werdende Lokale zu gewinnen, auch wenn sie ausländische Wurzeln haben? Den 20 Prozent Menschen mit Migrationsbezug in der Bevölkerung stehen nur zwei bis drei Prozent Berichterstattung in den Medien gegenüber.

Was ist mit einer Kinder-Lokalzeitung? "Dein SPIEGEL“ wird von meiner Tochter und mir gelesen. Und wenn tatsächlich 20 Prozent der 15-Jährigen nicht einmal mehr lesen können, um einen Beruf zu erlernen? Was sollen sie dann allein mit Texten machen? Mit Zeitungen anfangen? Auch hier lohnt das Nachdenken und Ausprobieren.

4. Transparenz und Kritik, Kreativität und Kooperation



Selbstverständlich braucht die überkommene, aber oft noch praktizierte "Hinterzimmer-Kommune“ auch zukünftig Transparenz und Kritik. Selbstverständlich brauchen Stadtpolitik und Stadtverwaltung das öffentliche Mitdenken vieler und damit einen kritischen, hinterfragenden Lokaljournalismus. Selbstverständlich werden Kommunen zukünftig die Bürgerinnen und Bürger, die tatsächlichen "Macher“ einbeziehen und damit Teilhabe neu verstehen. Lokalzeitung kann eine Menge tun, um Teilhabe einzufordern. Sie kann Teilhabe aber auch in ihren vielfältigen Äußerungen darstellen und sie selbst nutzen.

Lokale Kreativität, Kommunikation und Kooperation bedürfen gerade in Umbruchzeiten einer öffentlichen Plattform, Transparenz und Repräsentation der unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und vor allem der Machtlosen, die am Rande stehen.

5. Chronisten-Aufgabe



Die Chronisten-Aufgabe ist eine immens kulturelle Aufgabe, deren Bedeutung wir erst erkennen, wenn sie nicht mehr geleistet wird. Wer kommt der Chronisten-Aufgabe im Internet nach? Wer kommt ihr nach, wenn es keine Tageszeitungen – lokal oder digital – mehr gibt? Wer dokumentiert und archiviert digitale Bürgerzeitungen?

Wird sich das Internet tatsächlich immer erinnern können? Oder wird es eine "digitale Demenz“ geben? Und wie steht es um die Auffindbarkeit in globalen Netzen?

Zahlen & Fakten: Wie Bürger ihre Zeitung sehen

Ein Blick in eine Repräsentativbefragung, von TNS Emnid im Auftrag der "Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement“ (KGSt) im Jahr 2012 erstellt, zeigt für viele Überraschendes: Sieben von zehn Bürgern bekunden Interesse – sowohl generell an Politik als auch an Kommunalpolitik. Sehr interessiert sind rund 25 Prozent und mittelmäßig interessiert 46 Prozent. Wie steht es um die tatsächliche Mediennutzung der Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf kommunale Themen? Lokalzeitungen (inklusive Anzeigenblätter) sind in punkto Reichweite und Nutzungsfrequenz ungeschlagen.

90 Prozent der Befragten geben an, sich aus Lokalzeitungen bzw. aus lokalen Anzeigenblättern informiert zu haben. 46 Prozent tun dies sogar fast täglich. Neben den Online-Auftritten deutscher Kommunen, die von 41 Prozent der Befragten bereits zu Rate gezogen werden, sind alle übrigen abgefragten Online-Kommunikationswege am ehesten den sogenannten "Partikularmedien“ zuzuordnen. Soziale Netzwerke (z.B. Facebook) sowie Internet-Foren zu kommunalpolitischen Themen erreichen lediglich maximal 28 Prozent der Bevölkerung. Bei Mikro-Blogging-Diensten wie Twitter sind es nur sechs Prozent. Allerdings nutzen Jüngere (unter 30 Jahre) zu kommunalen Themen zunehmend Online-Medien (58 Prozent). Doch 87 Prozent nutzen Lokalzeitungen oder lokale Anzeigenblätter. Online-Medien werden bislang ganz offenkundig nur ergänzend zur Lokalzeitung gelesen. Wird sich dies umdrehen?

Auffällig sind die Unterschiede in der Intensität der Nutzung: Bei der Frage, wie häufig man sich normalerweise auf verschiedenen benannten Wegen über seine Kommune informiert, geben von den unter 30-Jährigen 43 Prozent an, mehrmals in der Woche die Lokalzeitung bzw. Anzeigenblätter zu nutzen und 29 Prozent soziale Netzwerke. Bei den über 60-Jährigen nutzen 88 Prozent die Lokalzeitung bzw. Anzeigenblätter mehrmals in der Woche und drei Prozent die sozialen Netzwerke.

25 Prozent fordern den Ausbau der Informationsbestrebungen der Kommunen, und zwar über die bestehenden regionalen Tageszeitungen. Das ist ein sinnvoller Vorschlag, wenn bedacht wird, dass die Printmedien über die größte Reichweite und Nutzungsfrequenz bei den Bürgerinnen und Bürgern der Städte und Gemeinden verfügen. 19 Prozent wünschen sich eine bessere/zeitnahe Information und mehr Offenheit, Ehrlichkeit und Transparenz.

Bürgermedien = "Graswurzel“-Medien


Lokale Bürger-Internetzeitungen sind im Kommen. Sie schließen ganz offensichtlich eine Lücke im Lokaljournalismus, und das zuerst dort, wo Lokales von den Lokalzeitungen wortwörtlich vernachlässigt wurde und wird.

Die Bürger-Internetzeitungen haben kleine Redaktionen mit vorrangig engagierten Journalisten, aber auch zahlreichen kundigen und text- sowie bildgewandten Bürgerinnen und Bürgern. Die Leser können Artikel der Internet-Bürgerzeitungen kommentieren und Themenschwerpunkte wünschen oder selbst bearbeiten.

Info

Der Interner Link: Blogkosmos. Lokale Blogs: Konkurrenz und/oder Ergänzung?


In den Bürger-Internetzeitungen werden ausschließlich lokale bzw. hyperlokale (d.h. nur einzelne Quartiere betreffende) Nachrichten bevorzugt bearbeitet. Eben meine Straße, mein Laden, mein Zuhause, usw.

Meist leisten sie die alten "Ordnungsfunktionen“ der Tageszeitung nach Themen der Ressorts. Beispiele für digitale Bürgerzeitungen oder lokale Internetzeitungen sind: Externer Link: Leipziger Internet Zeitung, Externer Link: Das ist Rostock, Externer Link: Prenzlauer Berg Nachrichten, Externer Link: Jenapolis.

Diese Bürger-Online-Zeitungen liegen quer zu den bestehenden Tageszeitungen bzw. Lokalzeitungen. Das Problem ist: Jenseits des "Prenzlauer Bergs" bzw. jenseits "vom Waid dahoam" sind die Nachrichten der Bürgerzeitung kaum relevant. Die Bürger-Internetzeitungen werden zukünftig also eher komplementäre Funktionen ausüben.

Selbstbedienungsjournalismus als Vision?


Es wird aber auch der "Die Lokalzeitung ist tot“-Ansatz vertreten. Lokalzeitungen seien als "Gemischtwaren-Pakete“ im 21. Jahrhundert nicht mehr verkaufbar. Wer sich für "A“ interessiere, müsse auch "B“ kaufen. Geht es tatsächlich allein noch um "Informations-Selbstbedienung“ im "all-you-can-eat-internet“? Wir werden es erleben: Immer mehr Bürgerinnen und Bürger stellen sich ihre eigene persönliche (Lokal-)Zeitung, ihren eigenen lokalen Nachrichtendienst zum Beispiel über Twitter selbst zusammen. Sie wählen dabei persönliche Schwerpunkte wie Kultur oder Sport. Aber im Grunde setzen diese neuen "Herausgeber“ ihres persönlichen "Twitter-Nachrichtendienstes“ auf den Lokaljournalismus, den sogenannten "Profi-Journalismus“. Und dennoch bekommen die "Twitter-Leser“ "Sachen“ mit, die sie ansonsten in der Lokalzeitung nicht erfahren. Schauen wir näher hin, sind viele "Twitter-Zeitungs-Leser“ "nebenbei“ auch klassische Zeitungsleser. Bei diesem neuen Ansatz der "Selbstbedienung“ braucht man also Lokaljournalismus, aber ohne Redaktionsschluss und Längenbeschränkung.

Eine andere Vorstellung zukünftiger Lokalzeitung ist eine Zeitung, die eine erneuerte soziale "Kontext-Maschine“ (Sascha Lobo) darstellt und mehr zu bieten hat als jedes Partikular-Medium. Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten, Orientierung, ganzheitliches Denken. Also:

Die Zeitung der Zukunft wird eine soziale "Kontext-Maschine“ sein. Das geht über Kommentarfunktionen und Facebook-Einbindungen weit hinaus. Wie sieht die neue (alte) "DNA“ der Zeitung zukünftig aus?

Die lokale Zeitung von Morgen


Wir brauchen Erprobungen von neuen Medien. Die Zeitung der Zukunft ist überwiegend eine Internet-Zeitung und zwar eine Mischung aus Community und öffentlicher Plattform für die Stadtgesellschaft. Die Ordnungsfunktionen liegt in den Händen der Leserinnen und Leser. Viele von ihnen tun dies schon heute, wenn sie ihre Follower (ihre Redakteure) auswählen. Das "Erklären“ wird von einer neuen Form von Redaktion – eben ohne Redaktionsschluss u.a. – geleistet. Es wird eine Art "Nachfolge-Redaktion“ geben – wahrscheinlich mit der Einbindung von unzähligen Bloggern, Gastautoren, "Leserreportern“ und sozialen Netzwerkern. Das Bewerten wird zwischen Leserinnen und Lesern und der Nachfolge-Einrichtung der heutigen Lokalredaktion geteilt oder gemeinsam geleistet. Diese neue "Kontext-Maschine“ kann in Anlehnung an Lobo folgendes Aussehen haben: Schnelle, kurze, tickerhafte Aufbereitung der Schlagzeilen/Themen – vielleicht zum Frühstück. Wie das "Handelsblatt Morning Briefing“.

Lokale Presse = lokale Demokratie



Das Grundgesetz stellt klar: Ohne freie Presse keine Demokratie. Ohne freie lokale Presse keine lokale Demokratie. Das heißt: Der lokale Beitrag einer freien Presse zum Prozess örtlicher Willensbildung ist für die moderne lokale Demokratie unverzichtbar. Und das Grundgesetz erwartet diese Beiträge zum und im Prozess der örtlichen Willensbildung und hat deshalb die Pressefreiheit grundrechtlich im Einzelfall und als Institut geschützt. Die Zeitung – gedruckt oder digital – ist also mehr als eine käufliche Ware; sie ist konstitutiv für die kleine und die große Demokratie. "Zwischen Qualität und Rendite“ war das 21. Forum Lokaljournalismus überschrieben. Erlauben Sie mir bitte einen zweiten Titel oder Untertitel hinzufügen: "Lebenselement lokaler Demokratie oder nur noch käufliche Ware?“

Wenn also (Verleger) Investoren mit dem im Lokalen erzielbaren Profit nicht (mehr) zufrieden sind, können wir sie daran erinnern, dass die Lokalzeitung von ihrer Idee, von ihrem Wesen her nicht Ware ist, sondern lebendiges und zugleich konstitutives Element lokaler Demokratie. Wir können auch auf das "unternehmerische Entdecken“ hinweisen und daran mitwirken. Also: Entscheiden wir uns für die lokale Demokratie und im Zweifel gegen die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Die digitale Gesellschaft der Zukunft wird dazu genügend Möglichkeiten bieten.

Dieser Artikel ist eine leicht gekürzte Fassung des Vortrages von Herrn Vogel auf dem BLITZ-Forum Lokaljournalismus 2013 in Hamburg. Die vollständige Rede finden Sie im Magazin zum Forum auf Externer Link: drehscheibe.org.

Fussnoten

Hans-Josef Vogel ist seit 1999 Bürgermeister der Stadt Arnsberg. Zuvor arbeitete er in Wissenschaft und Verwaltung und zählt zu den Gründungsmitgliedern des Bundes der Energieverbraucher. Darüber hinaus war Anfang der 90er Jahre maßgeblich am Aufbau des MDR in Sachsen beteiligt.