Externalisierung: von der Linie zum Raum, von Einlass- zu Ausreisekontrolle

Mit der Ausarbeitung der Schengener Abkommen dehnten die für Grenzschutz zuständigen Ministerien der Schengen-Staaten die Grenzsicherung sukzessive von der Grenzlinie zum Grenzraum aus. D.h. die Grenzen werden nicht mehr nur an der Demarkationslinie zwischen zwei Staaten überwacht, die Überwachung reicht immer tiefer ins Landesinnere hinein, verliert zunehmend gar völlig ihren Bezug zur Grenzlinie. 1998 setzte die österreichische EU-Ratspräsidentschaft diese Entwicklung auf die Tagesordnung und schlug das Konzept "konzentrischer Kreise" vor.[1] Zwar wurde dieses Konzept nicht verabschiedet, seine Grundidee prägte jedoch die Ausgestaltung der europäischen Grenzpolitik. Nach dieser Idee sind die Schengen-Staaten ein Kern mit hohem Grenzschutz. Um diesen Kern herum gruppieren sich, wie konzentrische Kreise, Nachbarstaaten und weiter entfernte Staaten, von denen jeder eine Puffer- und damit Schutzfunktion für den Kern ausübt.

Freizügigkeit im "harten Kern"
Im Zentrum der europäischen Grenzpolitik stehen die Schengen-Staaten. An ihren gemeinsamen Grenzübergangsstellen werden Personen nicht kontrolliert; die Schengen-Außengrenzen jedoch werden intensiv nach gemeinsamen Standards überwacht. Die rechtlichen Grundlagen hierfür bildet der sogenannte Schengener Grenzkodex (Verordnung oder VO 562/2006). Dieses Recht gilt nicht nur für Angehörige der Schengen- oder der EU-Staaten sondern für alle, die sich legal in diesem Kern, also im Schengenraum, aufhalten.Die Personenfreizügigkeit ohne Kontrollen war ursprünglich das Herzstück der Schengen-Zusammenarbeit; aus ihr hat sich die Grenzpolitik entwickelt. Diese Freizügigkeit ohne Kontrollen sollte eine der wichtigsten Errungenschaften der europäischen Integration sein. In den letzten Jahren konnte man indes beobachten, wie das Gut der kontrollfreien Freizügigkeit auf der Kippe stand. Im Jahr 2011 forderten mehrere Schengen-Staaten, die Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen wieder leichter einführen zu können. Anlass für diese Auseinandersetzung war, dass Italien zahlreichen über das Mittelmeer Geflüchteten einen Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen gegeben hatte, mit dem diese dann nach Frankreich weiterreisten. [2]
Grenz- und Einwanderungskontrollmaßnahmen im "erweiterten Kern"
Um den "harten Kern" herum gibt es den erweiterten Kern. Hierzu gehören die EU-Staaten, die nicht Schengen-Mitglieder sind. Das sind zum einen Staaten, die an "Schengen" nicht teilhaben wollen wie Großbritannien oder Irland oder auch EU-Staaten, die dem Schengenraum (noch) nicht beitreten dürfen, wie Bulgarien, Rumänien, Zypern und Neumitglied Kroatien [3] (Stand Juli 2013). Zwar werden Personen beim Übertreten der Grenzen zu diesen EU-Staaten noch kontrolliert, die Maßnahmen zur gemeinsamen Sicherung der EU-Außengrenzen vollziehen diese Staaten jedoch weitgehend auch.Einreisebedingungen und Prüfpflichten
Grundsätzlich unterscheidet die EU einreisende Drittstaatsangehörige nach der Art und dem Rechtsstatus ihrer Einreise:
- Geschäftsreisende oder Touristen, die, genau wie EU-Bürger, ohne vorherige Genehmigung einreisen und 90 Tage bleiben dürfen, zum Beispiel Angehörige aus Singapur, den USA oder Chile;
- Geschäftsreisende oder Touristen, die eine Einreisegenehmigung (Visum) benötigen;
- Personen, die in die EU flüchten, weil ihre Sicherheit bedroht ist und sie deshalb einen Schutzantrag (Asyl) stellen;
- Personen, die aus einem visapflichtigen Staat stammen und antizipieren, dass sie keine Einreisegenehmigung erhalten würden; sie reisen deshalb illegal ein.
Visum
Um die Grenzen im Innern offen halten zu können, einigten sich die EU-Staaten auf gemeinsame Einreisebedingungen in diesen gemeinsamen Raum, d.h. in das Gebiet der EU. Dazu gehört zunächst einmal eine Festlegung derjenigen Staaten, deren Staatsangehörige ein Visum beantragen müssen, wenn sie in den Schengen-/EU-Raum einreisen wollen und eine Liste derjenigen, die von der Visumpflicht befreit sind.[4]
Um überprüfen zu können, ob eine Person schon mal einen Visum-Antrag gestellt hat, ließ die EU ab 2004 das sogenannte Visa-Informationssystem (VIS) entwickeln. Das VIS dient der Verhinderung von "Visa-Shopping", wenn also Drittstaatsangehörige Visumanträge in mehreren EU-Staaten stellen, weil ihnen zuvor ein anderer EU-Staat die Ausstellung eines Visums verwehrt hatte. Das VIS kann nicht nur von Einwanderungsbehörden wie dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) genutzt werden. Mit Inkrafttreten des "Gesetzes über den Zugang von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden sowie Nachrichtendiensten zum Visa-Informationssystem (VIS-Zugangsgesetz - VISZG)" am 1.9.2013 erhielten auch Sicherheitsbehörden wie die Polizei Zugriff auf die darin gespeicherten Daten. [5]
Asyl
Personen, die in ihrem Staat verfolgt werden, können in der EU Asyl beantragen (RL 2011/95/EU). [6] Ob einem Asylsuchenden Asyl gewährt wird, wird nach individueller Prüfung entschieden. Welcher EU-Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, wurde 1990 im sogenannten Dublin-Übereinkommen festgelegt. Die EG-Staaten verständigten sich damals darauf, dass derjenige Staat die Prüfung übernimmt, den ein Asylsuchender zuerst betritt. [7] Mit dieser Regelung wollte die EG das damalige "Asyl-Shopping" beenden, also die Antragstellung in mehreren EG-Mitgliedstaaten.
Um feststellen zu können, ob ein Asylsuchender schon einmal einen Antrag gestellt hat, richtete die EG die EURODAC-Datenbank (lat. dactylos – Finger) ein. Darin werden die Fingerabdrücke eines jeden Asylsuchenden gespeichert. Stellt eine Person einen Asylantrag, muss sie ihre Fingerabdrücke abgeben. Im System kann die Behörde dann feststellen, ob diese Person in irgendeinem anderen EG- (heute EU-)Staat schon einen Antrag gestellt hat. Wenn dies der Fall ist oder wenn die Behörde dem Asylsuchenden nachweisen kann, dass er über einen anderen EG-Staat eingereist ist, wird er dorthin "überstellt". Eine Ausnahme bildet hier derzeit Griechenland. Die Bundesregierung hat 2011, noch bevor das Bundesverfassungsgericht eine anhängige Klage dazu entschieden hatte, beschlossen, keine Asylbewerber, die über Griechenland eingereist sind, zur Durchführung des Asylverfahrens zurückzuschicken. Grund dafür sind die menschenunwürdigen Zustände, unter denen Asylbewerber in Griechenland leben müssen.
Grenz- und Einwanderungskontrollmaßnahmen in der "Nachbarzone"
Um die EU herum gruppieren sich ihre Nachbarstaaten, die wie alle Nicht-EU-Staaten auch als Drittstaaten bezeichnet werden. Es handelt sich dabei sowohl um Länder mit einer Beitrittsperspektive als auch um Länder ohne eine solche. Während die sichere Drittstaats- und Herkunftsstaatsregelung [8] eine Maßnahme der Einwanderungskontrolle ist, involviert die EU ihre Nachbarn auch direkt in die Grenzsicherung und schafft so eine Pufferzone. Die Idee dahinter ist, ihre Nachbarn dafür zu gewinnen, ihre Grenzen in Richtung EU nach EU-Standards zu kontrollieren und zu überwachen. Die Nachbarstaaten sollen verhindern, dass weder Migranten illegal noch Straftäter über diese Drittstaaten in die EU einreisen. Hierbei handelt es sich um eine Art Geschäft. Zu einem Geschäft gehört jedoch eine Leistung beider Vertragsparteien. Die jeweilige "Gegenleistung" sieht je nach Status des Nachbarlandes anders aus:
Bei EU-Nachbarstaaten mit einer Beitrittsperspektive ist dieses Geschäft klar definiert. Eine Beitrittsperspektive bedeutet, dass ein Staat von der EU signalisiert bekommt, eines Tages Mitglied der EU werden zu können. Unter dem Namen pre-accession instruments bieten die EU und ihre Mitgliedstaaten den EU-Beitrittskandidaten zahlreiche Maßnahmen zur Vorbereitung ihres Beitritts in die EU an. Diese setzen sich aus den Komponenten Geld, Fähigkeiten und Ausrüstung zusammen. Am Beispiel der letzten großen EU-Erweiterung 2004 soll dies kurz skizziert werden:
Geld: Finanziell wurden die Beitrittsstaaten durch das PHARE-Programm [9] der EU unterstützt. Zusätzlich bekamen die Beitrittsstaaten zwischen 2004 und 2006 für die Aufrüstung der Grenzkontrollen 961 Millionen Euro aus einer Sonderfinanzierung, der sogenannten Schengen-Faszilität. [10]
Fähigkeiten: Die EU stellt Mittel zur Verfügung, welche die EU-Mitgliedstaaten nutzen können, um die Beitrittsstaaten durch sogenanntes Twinning bei der Vorbereitung auf den Beitritt zu unterstützen. Diese Twinning-Maßnahmen sind Partnerschaften eines EU-Staates mit einem Beitrittskandidaten zur Unterstützung beim Aufbau der Grenzsicherung nach Schengen-Standard und bestehen vorwiegend aus Ausstattungshilfe (z.B. Geräte und Ausrüstung) und Training. Hiervon haben die EU-Staaten rege Gebrauch gemacht. Nicht zuletzt, weil dies ihnen die Gelegenheit gab, ihre eigenen Sicherheitsvorstellungen, Methoden und ihre Technik – die sich zum Teil erheblich von denen der anderen EU-Staaten unterscheiden – den mittel- und osteuropäischen Staaten nahezubringen.
Ausrüstung: Mit dem Programm "Argo" unterstützte die EU nicht nur die Ausbildung von Grenzsicherungsexperten, sondern auch den Aufbau operativer Zentren zur Grenzsicherung. Deutschland war im Vorfeld der "großen Erweiterungsrunde" um zehn mittel- und osteuropäische Staaten [11] im Jahr 2004 besonders engagiert. Zwischen 1992 und 2004 unterstützte die Bundesregierung Polen beim Aufbau seines Grenzschutzes mit insgesamt 6 Millionen Euro. [12]
i
Schengen-Faszilität Rumänien und Bulgarien
(1) Es wird eine Cashflow- und Schengen-Fazilität als zeitlich befristetes Instrument eingerichtet, um Bulgarien und Rumänien ab dem Tag des Beitritts bis zum Ende des Jahres 2009 bei der Finanzierung von Maßnahmen an den neuen Außengrenzen der Union zur Durchführung des Schengen-Besitzstandes und der Kontrollen an den Außengrenzen und bei der Verbesserung der Liquidität in den nationalen Haushaltsplänen zu unterstützen.
(2) Für den Zeitraum 2007 bis 2009 werden Bulgarien und Rumänien die folgenden Beträge (Preise von 2004) in Form von Pauschalbeträgen aus der zeitlich befristeten Cashflow- und Schengen-Fazilität bereitgestellt (in Mio. Euro zu Preisen von 2004):
2007 | 2008 | 2009 | |
Bulgarien | 121,8 | 59,1 | 58,6 |
Rumänien | 297,2 | 131,8 | 130,8 |
Quelle: Akte über die Bedingungen des Beitritts der Bulgarischen Republik und Rumäniens und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge - VIERTER TEIL: BESTIMMUNGEN MIT BEGRENZTER GELTUNGSDAUER - TITEL III: FINANZBESTIMMUNGEN - Artikel 32; Amtsblatt Nr. L 157 vom 21/06/2005, S. 0215 - 0215; http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:12005SA032:DE:HTML |
i
Antrag auf EU-Mitgliedschaft
Grenzregime mit Nachbarn ohne Beitrittsperspektive: Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) und Mobilitätspartnerschaften
Es gibt aber zum einen auch europäische Staaten, die (noch) keine Beitrittsperspektive haben (zum Beispiel Weißrussland, die Ukraine oder die Republik Moldau) und zum anderen die südlichen Nachbarn der EU, die Mittelmeeranrainer [13]. Hier kann die Gegenleistung der EU nicht in einer Beitrittsperspektive bestehen. Stattdessen bietet die EU diesen Partnern "privilegierte Beziehungen" an.
Diese "privilegierten Beziehungen" sind zunächst in der sogenannten Europäischen Nachbarschaftspolitik [14] festgeschrieben. Dies bedeutet, dass die EU diese Staaten finanziell unterstützt, damit sie
- demokratische Strukturen und verantwortungsvolle Regierungsführung (good governance) aufbauen,
- Gesetze reformieren und Kapazitäten in der Verwaltung aufbauen sowie
- Maßnahmen zur Verringerung von Armut umsetzen können.
Überwachung des gesamten Mittelmeerraums: EUROSUR
Die vorerst letzte Stufe der geografischen Ausweitung der Grenzüberwachung ist das Vorhaben der EU, ihre Außengrenzen im Mittelmeer durch Satelliten aus dem Weltall zu überwachen. Das Überwachungssystem heißt Eurosur heißen und wird von Frontex gesteuert. Seit Dezember 2013 ist es in EU-Staaten mit Außengrenzen zum Mittelmeer und nach Osteuropa in Betrieb. In den anderen Staaten (u.a. Deutschland) soll es ein Jahr später in Kraft treten. [16]Eurosur soll ein pan-europäisches Grenzüberwachungssystem werden, das nach EU-Angaben drei Ziele verfolgt:
- die Zahl illegaler Einreisen in die EU reduzieren,
- die Zahl von Migranten, die bei ihrer Überfahrt über das Meer ertrinken, reduzieren und
- die innere Sicherheit der EU durch die Verhinderung grenzüberschreitender Kriminalität erhöhen. [17]
Die Kosten, die für die Jahre 2014-2020 für Eurosur veranschlagt wurden, belaufen sich auf 339 Millionen Euro.[21] Mit Eurosur manifestiert sich die eingangs erwähnte Trendwende in der Einwanderungskontrolle zur "intelligence-led", d.h. erkenntnisgestützten Risikoanalyse. Mit Eurosur will die EU sämtliche Menschenbewegungen im Mittelmeerraum auswerten, um daraus fundierte Risikolagebilder zu erstellen. [22]
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers "Frontex und das Grenzregime der EU".