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Migration und Entwicklung – eine neue Perspektive?

Albert Kraler Marion Noack

/ 8 Minuten zu lesen

Nicht erst seit der hohen Fluchtzuwanderung 2015 ist Migration ein politisches Thema auf globaler Ebene und Gegenstand von diversen multilateralen Initiativen. Tatsächlich wurde Migration seit den frühen 1990er Jahren zunehmend als Thema internationaler und vor allem multilateraler Politik aufgegriffen. Erst die Verknüpfung von Migration mit Entwicklung jedoch ermöglichte es, Migration als Thema auf globaler politischer Ebene zu verankern.

Die neu eingerichtete Trinkwasserversorgung durch eine Internationale Vereinigung hat das Leben in einer Ortschaft bei Benin, Nigeria revolutioniert: Das Wasser-Depot ermöglicht den regelmäßigen Schulbesuch, Krankheiten durch verseuchtes Wasser sind fast verschwunden, neue landwirtschaftliche Genossenschaften unterstützen die Familienwirtschaft und Frauen sind bereits in das soziale Gefüge des Dorfes involviert. (© picture-alliance, NurPhoto)

Die Zusammenhänge zwischen Migration und Entwicklung werden auf globaler Ebene einerseits im Rahmen spezifischer, auf Migration und Entwicklung fokussierter Initiativen diskutiert, wie dem Interner Link: Globalen Forum für Migration und Entwicklung (GFMD), dessen Vorsitz sich 2017-18 Deutschland und Marokko teilen. Andererseits sind sie auch Thema innerhalb breiter angelegter Initiativen – etwa den Interner Link: "Zielen für Nachhaltige Entwicklung" (englisch Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen – oder Zusammenschlüssen, wie etwa der Interner Link: Gruppe der 20 (G20), die sich 2017 unter deutscher Präsidentschaft ebenfalls zentral dem Thema Migration und Entwicklung widmete.

Die Debatte zu den Zusammenhängen zwischen Migration und Entwicklung ist keineswegs neu. In gewisser Weise ist der Zusammenhang ursächlich: Migration (oder ihre Abwesenheit) ist immer auch Ausdruck von (fehlender) Entwicklung, ein Zusammenhang, der bereits im 19. Jahrhundert thematisiert wurde. Durch die Erkenntnis, dass staatliche Lenkungsmaßnahmen Entwicklung befördern können, wurden Wanderungsbewegungen mit ihren positiven und negativen Auswirkungen auf Entwicklung wahrgenommen, etwa im kolonialen Zusammenhang oder in Debatten über "Brain Drain" (negative Auswirkungen durch Abwanderung von Arbeitskräften) in den 1960er und 1970er Jahren.

Seit den späten 1990er Jahren heben sich die Debatten zu Migration und Entwicklung inhaltlich von früheren deutlich ab: So stehen besonders die positiven Beiträge von MigrantInnen auf die Entwicklung ihrer Herkunftsregionen im Mittelpunkt, zuvor wurden eher die negativen Folgen thematisiert oder der Nutzen von (Arbeits-)Migration für Aufnahmestaaten hervorgehoben. Wie kam es dazu, dass die Verknüpfung von Migration und Entwicklung seit etwa einem Jahrzehnt einen fixen Bestandteil sowohl von Politikdebatten zu Migration als auch zu Entwicklung auf internationaler Ebene darstellt? Welche Initiativen trugen dazu bei, diese Debatte zu institutionalisieren? Im Folgenden wollen wir uns diesen Fragen widmen. Wir schließen mit einem kurzen Ausblick auf die Zukunft der Debatte im Kontext der Krise des liberalen Multilateralismus und der Rückkehr ausdrücklich nationalistischer Interessenpolitik, gerade auch im Kontext von Migration.

Warum wurde Migration zu einem zentralen Thema auf globaler Ebene?

Veränderungen der Migrationsdynamiken, geopolitische Umwälzungen im Zuge des Endes des Ost-Westkonflikts, die Politisierung von Migration in westlichen Zuwanderungsländern sowie institutionelle Veränderungen auf globaler Ebene trugen dazu bei, dass Migration auf globaler politischer Ebene zu einem Thema werden konnte.

So stieg die Anzahl der weltweiten MigrantInnen deutlich an, von etwa 99 Millionen weltweit (oder 2,2 Prozent der Weltbevölkerung) im Jahr 1980 auf rund 155 Millionen (2,9 Prozent) im Jahr 1990 und 244 Millionen (3,3 Prozent) in 2015. Insbesondere wuchs die Zuwanderung in die industrialisierten Länder und hier besonders nach Europa. Doch nicht nur die Zahlen veränderten sich, die Migrationsbewegungen wurden auch heterogener in Bezug auf die Herkunft der Wandernden, Migrationsmotive und den rechtlichen Status der ZuwanderInnen.

Das Ende des Ost-West-Konfliktes und der Zusammenbruch der kommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas hatten direkte Auswirkungen auf das Migrationsgeschehen in Europa und machten aus Migration eines der zentralsten politischen Themen. Die Politisierung von Migration ab den 1990er Jahren ging auch mit einem deutlichen Internationalisierungsschub einher: Interner Link: Im europäischen Kontext kam es zu einer Koordinierung hauptsächlich von Asyl- aber auch Migrationspolitik und global entstanden eine Reihe von Dialogprozessen zwischen Herkunfts- und Zielstaaten auf regionaler Ebene zu Migrationsfragen. Viele internationale Organisationen begannen sich auf Migration zu konzentrieren, prägten globale Debatten zu Migration und traten als Wissensproduzenten in Erscheinung.

Meilensteine des Migrations-Entwicklungs-Nexus

Die Internationale Konferenz zu Bevölkerung und Entwicklung 1994 in Kairo wird gemeinhin als der Auftakt der gegenwärtigen Debatten zu Migration und Entwicklung angesehen. Die Konferenz war auch ein erster Schritt dazu, Migration und Entwicklung auf der Ebene der Vereinten Nationen (United Nations, UN) als Thema zu verankern. Aufgrund divergierender Interessen scheiterte allerdings der Versuch, eine internationale Konferenz ausschließlich dem Thema Migration zu widmen.

Kofi Annan setzte als Generalsekretär der Vereinten Nationen Migration in seiner zweiten Amtszeit auf die internationale Entwicklungsagenda, die 2003 schließlich in der Entscheidung gipfelte, einen UN High-Level Dialogue on International Migration and Development (UNHLD) abzuhalten, ohne jedoch damit konkrete Absichten auf bestimmte Verhandlungsresultate zu verbinden. Ebenfalls auf Initiative Kofi Annans wurde 2003 die Global Commission on International Migration eingesetzt, die 2005 ihren Endbericht veröffentlichte und eine Reihe von Grundsätzen zu Migration und Entwicklung identifizierte.

Zeitleiste – Meilensteine in der Debatte zu Migration und Entwicklung (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)

Der erste UNHLD fand im September 2006 mit der Zielsetzung statt, die "multidimensionalen Aspekte von Migration und Entwicklung" zu debattieren, "um geeignete Ansätze und Wege zu identifizieren, die positiven Entwicklungseffekte zu maximieren und die negativen Auswirkungen zu miniminieren". Ein Ergebnis des UNHLD war die Einrichtung des Interner Link: Global Forum on Migration and Development (GFMD) als eine informelle Plattform, in deren Rahmen staatliche EntscheidungsträgerInnen und zivilgesellschaftliche Akteure Politikmaßnahmen und Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Migrations-Entwicklungs-Nexus diskutieren können.

Thematische Schwerpunkte


Die politische Debatte zu Migration und Entwicklung in Folge des ersten UNHLD und u.a. im Rahmen der daraufhin stattfindenden GFMD-Konferenzen stellte vier verschiedene Themenbereiche in den Fokus.

Zentrale Themenbereiche in der Debatte um den Migrations-Entwicklungs-Nexus (Interner Link: Grafik zum Download) (© bpb)

Beim Themenkomplex Mobilität von Humankapital geht es zentral um die Auswirkungen der Abwanderung von Arbeitskräften auf das Herkunftsland. Dies kann im Herkunftsland einen großen Verlust für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung darstellen ("Brain Drain"), aber für Zuwanderungsstaaten einen Gewinn sein ("Brain Gain"). Negative Auswirkungen können durch entsprechende Maßnahmen wie z.B. Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in den Herkunftsländern, Förderprogramme im Bildungsbereich, Partnerschaften zwischen Herkunfts- und Zielländern und Ansätze der ethischen Anwerbung gemildert werden. Zunehmend geht es auch um die Frage, ob MigrantInnen in der Migration ihr Humankapital entsprechend einsetzen können (Debatten zu Dequalizifierung und "Brain Waste") bzw. wie das Humankapital von MigrantInnen durch bessere Erfassung und Interner Link: Anerkennung von Qualifikationen bzw. Vermittlung von MigrantInnen am besten genutzt werden ("Skills Assessment", "Skills Matching") oder durch Maßnahmen vor der Einreise ("Pre-Departure Trainings") optimiert werden kann.

Die Rolle von MigrantInnen als Entwicklungsakteure steht im Zentrum der Diskussion zu Diasporas. Der Ausgangspunkt der Diskussion ist die Beobachtung, dass MigrantInnen mitunter intensive Beziehungen zu Herkunftsländern pflegen und Entwicklungsprojekte umsetzen. Viele Länder haben diese Entwicklung erkannt und eine Reihe von Maßnahmen und Einrichtungen geschaffen, die sich auf die Zusammenarbeit mit der Diaspora spezialisiert haben, wie beispielsweise die Etablierung entsprechender Ministerien in Armenien, Mali oder Senegal.

Rücküberweisungen (finanzielle Transfers von MigrantInnen, sogenannte Remittances) sind seit etwa einem Jahrzehnt eines der zentralsten Themen innerhalb der Diskussion zu Migration und Entwicklung. Der offensichtlichste Grund ist ihre schiere Größenordnung – weltweit rund 429 Milliarden US-Dollar im Jahr 2016 und damit fast dreimal mehr als die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA).

Rückkehrende MigrantInnen können die durch die Migration und Tätigkeiten im Aufnahmeland gewonnene Erfahrungen und Qualifikationen im Herkunftsland einsetzen und somit zu positiven Entwicklungseffekten beitragen. Gemeint ist jedoch nicht nur die dauerhafte Rückkehr, sondern auch die zeitlich beschränkte oder die sogenannte virtuelle Rückkehr, bei der MigrantInnen im Zielland bleiben und unter Nutzung von modernen (Kommunikations-)Technologien einen Beitrag zur Entwicklung in den Herkunftsländern leisten, beispielsweise durch den Transfer von Knowhow.

Der Fokus der Debatten um die Zusammenhänge von Migration und Entwicklung liegt auf den positiven Entwicklungseffekten von Migration auf die Herkunftsländer. Besonders im EU-Kontext bildet jedoch das Ziel der Beseitigung von Migrations- und Fluchtursachen ("Root Causes") ein weiteres zentrales Element in Debatten zu Migration und Entwicklung. Sie stellte bereits in den ersten Ansätzen zu einer externen Migrationspolitik und der Kooperation mit Drittstaaten in den 1990er Jahren einen wichtigen Eckpfeiler dar. In Folge der Interner Link: Syrienkrise, des massiven Interner Link: Anstiegs der weltweiten Flüchtlingszahlen und der anhaltend hohen Interner Link: irregulären Migrationsbewegungen über das Mittelmeer erlebt der Fokus auf eine Eindämmung von Migration durch Entwicklungshilfe derzeit erneut Aufmerksamkeit. Die Wiederentdeckung von "lokaler Integration", das heißt die Integration von Vertriebenen in ihrem zumeist in der Herkunftsregion gelegenen Erstaufnahmeland als eine der vom Interner Link: Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) propagierten dauerhaften Lösungsansätze für Flüchtlingssituationen, kann als Ausdruck dieser Rückwendung verstanden werden. Deutlich wurde dies etwa im Zusammenhang mit dem im Rahmen des UN-Migrationsgipfels vom September 2016 entwickelten Comprehensive Refugee Response Frameworks. Auch das Aufsetzen von gut dotierten EU-Programmen, wie dem EU-Hilfsfonds für Afrika (EU Emergency Trust Fund for Africa) , oder die im Rahmen des Interner Link: Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei bereitgestellten Mittel unterstreichen die politischen Bestrebungen, Geflüchtete in den Herkunftsregionen zu halten und eine Weiterwanderung nach Europa zu verhindern.

Ausblick

Aktuell gerät der auf die positiven Entwicklungseffekte von Migration fokussierte Diskurs zum Migrations-Entwicklungs-Nexus zunehmend unter Druck. Hintergründe für diese Entwicklung bilden die polarisierten Debatten zu Migration in Folge des Interner Link: Migrationsjahres 2015, die anhaltend hohen irregulären Migrationsbewegungen über die zentrale Mittelmeerroute, der massive Anstieg an Vertriebenen weltweit und nicht zuletzt die Renaissance von auf nationalen Interessen und Machtgewinn ausgerichteten geopolitischen Strategien zentraler politischer Akteure wie den USA, Russland oder der Türkei. Nichtsdestotrotz bleiben multilaterale Ansätze in der Lösung von Herausforderungen, die sich durch Migration ergeben, bestehen.

Dass die angesprochenen Handlungsfelder im Migrations- und Entwicklungsnexus zu strukturellen Veränderungen in Ländern des globalen Südens führen werden, ist jedoch unwahrscheinlich. Unbestritten bleibt allerdings, dass Migration für viele Staaten einen zentralen Stellenwert für allgemeine soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklungsprozesse haben kann. Die Verknüpfung von Migration mit Entwicklung hat außerdem dazu geführt, einen notwendigen Diskussionsprozess zwischen Staaten des "Nordens", des "Südens" sowie zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteuren auf globaler Ebene einzuleiten und MigrantInnen als Akteure in den Vordergrund zu rücken.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration und Entwicklung.

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Albert Kraler ist Politikwissenschaftler und Afrikanist und Senior Researcher am International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien, wo er mit Unterbrechungen seit 2001 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig ist. Von 2011 bis 2015 war er Leiter des Forschungsprogramms.. Im Rahmen seiner Tätigkeit am ICMPD war er an zahlreichen internationalen vergleichenden Studien zu unterschiedlichen Migrationsthemen beteiligt, darunter an Studien zu irregulärer Migration und Menschenschmuggel, Regularisierung, Familienmigration, Migrationspolitik in Österreich und der EU sowie Daten und Statistiken zu Migration.

Marion Noack hat an der Universität Wien Internationale Entwicklung studiert. Seit 2011 ist sie Mitarbeiterin am International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) und in der Policy Unit tätig. Ihre Publikationen widmen sich umweltinduzierter Migration, Migrations- und Entwicklungspolitiken in europäischen Ländern sowie MigrantInnen- und Diasporaorganisationen.