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"Es ist ein großes Unglück, mit leeren Händen zurückzukehren" | Innerafrikanische Migrationen | bpb.de

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"Es ist ein großes Unglück, mit leeren Händen zurückzukehren" Über das Leben nach der Abschiebung

Susanne U. Schultz

/ 7 Minuten zu lesen

Der Blick auf Menschen, die zwangsweise in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden, endet dabei meistens an der Landesgrenze. Wie aber sieht das Leben nach einer Rückführung aus? Welchen Schwierigkeiten begegnen Betroffene? Eine Annäherung am Beispiel Mali.

Frauen auf dem Markt in Segoukoro/Mali. Abschiebungen führen zu weniger Rücküberweisungen, auf die viele Familien angewiesen sind. (© picture-alliance, robertharding)

Seit 2001 hat sich die Zahl der Abschiebungen aus vielen (westlichen) Industrienationen im Vergleich zu den 1990er Jahren zeitweise mehr als verdoppelt. Auch Deutschland und andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union bemühen sich verstärkt um die Rückführung nicht (mehr) aufenthaltsberechtigter MigrantInnen. Insbesondere seit der hohen Fluchtzuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 hat die Zahl der Abschiebungen zugenommen. Die EU bindet zunehmend Drittstaaten in ihre Migrations- und Grenzkontrollpolitik ein und fordert diese auf, irreguläre Migration in Richtung Europa zu unterbinden, u.a. durch verstärkte Abschiebungsbemühungen. Für den afrikanischen Kontinent bedeutete das einen Interner Link: starken Anstieg innerafrikanischer Abschiebungen aus den Transitländern des Maghreb. Insbesondere die Länder Westafrikas, aber auch Ostafrikas, sind vom Anstieg innerafrikanischer Rückführungen sowie Abschiebungen aus EU-Staaten und anderen wichtigen Zielländern afrikanischer MigrantInnen wie Interner Link: Saudi Arabien betroffen.

Unterbrochene Migrationskreisläufe in Westafrika und politische Reaktionen

Interner Link: Westafrika zeichnet sich durch eine besonders hohe, regional ausgerichtete zirkuläre Mobilität und "Migrationskultur" aus. Wo bis vor wenigen Jahrzehnten weite Teile der Bevölkerung nomadisch lebten, sind Migrationen und Mobilität seit jeher Entwicklungs- und Existenzsicherungsstrategien. Angesichts des Interner Link: Klimawandels, der periodische Dürren verstärkt, sowie struktureller Ungleichheiten und mangels Perspektiven vor Ort, emigrieren junge Männer und Frauen zur Unterstützung der Familie oder um für sich eine Ausbildung und ein besseres Leben zu ermöglichen. Interner Link: Rücküberweisungen tragen zur Existenzsicherung von Familien bei und sind häufig die einzige Möglichkeit für sozialen Aufstieg. Restriktive Migrationspolitiken, die mit fehlenden Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten sowie Abschiebungen verbunden sind, schränken die für die Existenzsicherung wichtigen Migrationen ein, unterbrechen sie und kehren sie um. Dies wirkt auch der Entwicklung der Herkunftsländer entgegen.

In vielen (west)afrikanischen Gesellschaften regt sich angesichts mittlerweile tausender unfreiwillig Zurückgekehrter seit Jahren zivilgesellschaftlicher Protest. Dieser wird häufig von selbstorganisierten Abgeschobenen getragen, zum Beispiel in Mali, aber auch in Sierra Leone, Togo, Kamerun, Nigeria oder im Senegal. So war beispielsweise die Association Malienne des Expulsés (AME) (Dt.: Malische Organisation Abgeschobener) entscheidend in Proteste gegen ein Rückübernahmeabkommen mit Frankreich 2009 sowie Ende 2016/Anfang 2017 mit der EU involviert. Beide Abkommen kamen nicht zustande.

In Mali, aber auch in anderen (west)afrikanischen Staaten, sind Abschiebungen mittlerweile ein öffentliches und soziales Thema. Es haben sich Ansätze politischer Strukturen für die Aufnahme und Unterstützung abgeschobener Malier, aber auch anderer Nationalitäten, entwickelt. Aufgrund seiner Lage auf der Migrationsroute Richtung Nordafrika war Mali von 2008 bis 2015 mit dem Centre d’Information et Gestion des Migrations (CIGEM) (Dt.: Zentrum für Information und Management von Migration) afrikanisches Pilotland im Rahmen des EU-Ansatzes "Migration und Entwicklung" . Es diente vor allem der Umsetzung von Ansätzen zur Reintegration von Abgeschobenen und förderte zwischenzeitlich einen regelrechten "Markt" zivilgesellschaftlicher Organisationen, die im Geschäft um Abschiebung um EU-Gelder rangen, die für die Aufnahme und Reintegration Abgeschobener zur Verfügung gestellt wurden. Ein ähnliches Szenario kann aktuell im Wettbewerb um die Gelder des EU Emergency Trust Fund for Africa (Notfall-Treuhandfonds der Europäischen Union für Afrika) beobachtet werden. Dieser soll die Bekämpfung der Ursachen irregulärer Migration sowie Vertriebene in Afrika unterstützen und für Stabilität sorgen. Damit ergänzt er die aktuelle EU-Migrations-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik.

Insgesamt ist der Notfall-Treuhandfonds aktuell mit 2,5 Milliarden Euro ausgestattet, die fast vollständig aus dem Europäischen Entwicklungsfonds stammen. Der Fonds definiert verschiedene Prioritäten, für die Gelder ausgezahlt werden. So erhält beispielsweise Mali für die erste Priorität des Fonds "Prävention irregulärer Migration und Zwangsvertreibungen, Unterstützung von Migrationsmanagement sowie Rückkehr" 79,6 Millionen Euro. Diese Mittel fließen v.a. in Programme zur Rückkehr und Reintegration von MigrantInnen sowie zur Schaffung ökonomischer Perspektiven. Weitere 72 Millionen Euro erhält Interner Link: Mali aufgrund des Konflikts im Norden des Landes für die zweite Priorität "Stabilität und Sicherheit". Sie sollen v.a. für Wiederaufbau und Resilienz (Widerstandsfähigkeit) sowie Grenzmanagement und Sicherheit verwendet werden. Für die meisten durch den Fonds unterstützten afrikanischen Länder überwiegen die Mittel zur Förderung einer restriktiven Migrations- und Rückkehrpolitik.

"Es ist, als würde das Leben auf einmal unbedeutend werden" – zurück in Mali nach der Abschiebung

Nach Mali (zwangsweise) zurückgekehrte MigrantInnen werden von ihren Gemeinschaften und Familien, aber auch Freunden, mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Insbesondere Abschiebungen aus Europa sind von großer existenzieller und symbolischer Bedeutung, nicht zuletzt, da die Reise dorthin meist besonders beschwerlich und teuer war. Einige sind auf eigene Initiative hin losgezogen. Andere wurden von ihren Familien dorthin geschickt. Das Geld, das in manchen Fällen im Familien- oder Gemeinschaftsverbund aufgebracht wurde, um jemanden loszuschicken, gilt als verloren. Die erhofften Rücküberweisungen aus dem Ausland bleiben aus. Für die Migration aufgenommene Schulden können oft nicht zurückgezahlt werden. Teilweise verschlechtert sich dadurch die familiäre sozio-ökonomische Situation. Die Haushaltsstrategie der Großfamilie, durch die "Entsendung" eines ihrer Mitglieder die Einkommensquellen zu diversifizieren, aber ebenso individuellere Projekte, die zu mehr Autonomie und sozialem Aufstieg führen sollten, gehen nicht auf. Mit leeren Händen zurückzukehren gilt für Viele als Inbegriff des Scheiterns. Aus Scham und Angst vor übler Nachrede ziehen es manche RückkehrerInnen vor, nicht wieder bei ihrer Familie zu leben, sondern in der Hauptstadt zu bleiben bzw. eine erneute Auswanderung zu wagen. In vielen Fällen ist die Familie aber einfach nur dankbar, ihren Sohn lebend wiederzusehen; dennoch werden einzelne Abgeschobene auch von ihrer Familie verstoßen. Zugleich erfahren Rückkehrer gesellschaftliche Anerkennung wegen der in der Migration gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen: In weiten Teilen Westafrikas wird die internationale Migration als "Abenteuer" bezeichnet, bei dem es neben Existenzsicherung auch um Erwachsen- und Mannwerdung geht.

Solange die Familie oder Freunde in der Lage sind, einen Rückkehrer finanziell aufzufangen, ist die Chance auf eine Rehabilitation und Reintegration im Herkunftsland um vieles größer. Allerdings berichten selbst diejenigen, die nach ihrer Rückkehr von der Familie oder Freunden unterstützt werden, häufig von Problemen, sich in Mali wieder zu integrieren. Staatliche Reintegrationsangebote existieren bis heute nur in kleinem Rahmen und sind zudem nicht langfristig und nachhaltig angelegt. Eine Abschiebung bedeutet damit nicht zwangsläufig eine dauerhafte Rückkehr ins Herkunftsland, sondern kann Anreiz für eine erneute Ausreise sein. An den ursprünglichen Gründen zu gehen, hat sich nichts geändert: Die soziale Notwendigkeit, durch Abwanderung ein besseres Leben zu ermöglichen, bleibt bestehen. Vielen fehlt dafür allerdings das Geld. So bleibt häufig ein "Sich Sehnen" nach der erneuten Migration sowie das Planen und "Darüber sprechen" Teil des Alltags. Manche wandern nach vielen Jahren wieder aus. Wiederum andere sind so nachhaltig durch die entbehrungsreiche Migration und die Abschiebung geprägt, dass sie es bevorzugen, vor Ort zu bleiben und dort nach Perspektiven zu suchen. Ökonomische Alternativen zur Migration bietet neben der familiären Landwirtschaft oder Kleinhandel in größeren Städten aktuell die gefährliche Tätigkeit im informellen Goldabbau. Entscheidend für die Ermöglichung einer erneuten Ausreise, aber auch das Weiterleben in Mali sind häufig die Geldüberweisungen und andere Unterstützungsleistungen von Verwandten oder Freunden, die vielfach selbst im Ausland leben. Die existenzielle Abhängigkeit und das Selbstverständnis von Migration als fester Bestandteil des Alltags in Mali bleiben also auch nach der (erzwungenen) Rückkehr ins Herkunftsland bestehen.

Freiwillige Rückkehr und Reintegration als Perspektive?

Als eine Alternative zur erzwungenen Rückführung gilt die sogenannte "Interner Link: freiwillige Rückkehr" ins Herkunftsland. Diese wird (in Deutschland) seit Ende den 1970er Jahre durch verschiedene Programme gefördert, u.a. um Ausreisepflichtigen die Möglichkeit einer würdevolleren und nachhaltigeren Rückkehr in ihr Herkunftsland zu geben. Freiwillige RückkehrerInnen erhalten über diese Programme beispielsweise ein kleines Startgeld, um die Reintegration im Herkunftsland zu erleichtern. Faktisch erfolgt die "freiwillige" Ausreise meist angesichts eines Ausreisebescheids.

Für die Debatte in den Herkunftsländern wie Mali ist es zumeist unerheblich, ob jemand abgeschoben wurde oder im Rahmen eines Programms freiwillig zurückgekehrt ist. So spricht die Association Malienne des Expulsés beispielsweise auch im Fall der durch die Interner Link: Internationale Organisation für Migration (IOM) organisierten freiwilligen Rückführungen aus Libyen von "Abgeschobenen". Aufgrund der (weiterhin) fehlenden Perspektiven der RückkehrerInnen in Mali kann selbst im Fall der geförderten Rückkehr nur schwer von einer "freien" Entscheidung gesprochen werden. Inwieweit das verstärkte Engagement verschiedener Akteure für eine Reintegration im Herkunftsland sowie Alternativen zur Migration durch die Schaffung von beruflichen Perspektiven für junge Menschen vor Ort, u.a. durch die aktuellen EU-Programme, fruchten wird, bleibt fraglich. Migration ist ein wesentlicher Bestandteil von Existenzsicherungs-, Ausbildungs- und Entwicklungsstrategien. Deswegen ist davon auszugehen, dass Wanderungsbewegungen innerhalb (West-)Afrikas und in Richtung Europa anhalten und nicht durch eine steigende Zahl an Abschiebungen unterbunden werden.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Innerafrikanische Migrationen.

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Susanne U. Schultz studierte Sozial- und Kulturwissenschaften, arbeitete 2009-2013 für die Internationale Organisation für Migration und ist Mitglied im Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung sowie bei Afrique-Europe-Interact. Aktuell promoviert sie an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS). In ihrem Dissertationsprojekt nimmt sie unfreiwillige Rückkehr und Migrationsdynamiken in Westafrika vor dem Hintergrund der Auslagerung der EU-Migrationspolitik in den Blick und analysiert insbesondere die sozialen Auswirkungen von Abschiebungen in Mali.