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"Wenn junge Männer sozial eingebunden sind, Perspektiven haben, verlieren Vorstellungen von gewaltaffiner Männlichkeit an Attraktivität" | Migration und Männlichkeit | bpb.de

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"Wenn junge Männer sozial eingebunden sind, Perspektiven haben, verlieren Vorstellungen von gewaltaffiner Männlichkeit an Attraktivität"

Dr. Christian Walburg

/ 9 Minuten zu lesen

Warum werden junge Männer häufiger kriminell als andere Bevölkerungsgruppen? Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Migration und Kriminalität? Ein Interview mit dem Kriminologen Dr. Christian Walburg.

Junge Männer sind die Bevölkerungsgruppe mit dem höchsten Kriminalitätsrisiko. (© Photoshot | Luigi Innamorati/Sintesi )

Kurz-ZusammenfassungMigration und Kriminalität

Auch wenn nur ein kleiner Teil der in Deutschland lebenden Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte straffällig wird, zeigen Kriminalitätsstatistiken dennoch, dass Migrant*innen und ihre Nachkommen etwas häufiger mit Straftaten auffallen als Nichtmigrant*innen. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen, die der Kriminologe Christian Walburg in einem Interner Link: Beitrag ausführlich erläutert und die hier zusammengefasst werden:

  1. Geschlechter- und Alterszusammensetzung: Herkunftsübergreifend zeigt sich, dass junge Männer häufiger Straftaten begehen als andere Personengruppen – also z.B. ältere Männer oder junge Frauen. Unter Migrant*innen – insbesondere unter Geflüchteten – sind junge Männer prozentual überrepräsentiert und sind demnach potenziell häufiger in Kriminalitätsstatistiken zu finden.


  2. Belastende Lebensumstände: Menschen in belastenden Lebensumständen werden tendenziell häufiger kriminell als jene, die sich nicht in einer solchen Situation befinden. Migrant*innen sind häufiger mit belastenden Lebensumständen konfrontiert als Nichtmigrant*innen. So ist beispielsweise das Armutsrisiko unter Migrant*innen höher als unter Nichtmigrant*innen. Eingeschränkte Möglichkeiten der Teilhabe – z.B. am Arbeitsmarkt –, geringe soziale Bindungen, Gewalterfahrungen im Herkunftsland, auf der Flucht und im Ankunftskontext zählen ebenfalls zu belastenden Faktoren.


  3. Unterschiedliche Sichtbarkeit von Straftaten: Minderheitenangehörige werden häufiger angezeigt als Täter*innen, die weniger "fremd" erscheinen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund häufiger polizeilich kontrolliert werden als Menschen ohne äußere Merkmale, die auf eine Migrationsgeschichte hinweisen. Wo mehr Kontrollen stattfinden, können auch mehr Straftaten aufgedeckt und statistisch erfasst werden.


  4. Täter*innen-Gruppen: Nicht alle in der Statistik von ausländischen Staatsangehörigen verübten Straftaten werden von Menschen begangen, die in Deutschland leben. So erfasst die Kriminalitätsstatistik auch Straftaten, die von Tourist*innen begangen werden, und von Ausländer*innen, die gezielt vorübergehend nach Deutschland kommen, um hier eine Straftat zu begehen.


  5. Spezifische Gesetze für nichtdeutsche Staatsbürger*innen: Nicht in allen statistischen Vergleichen zwischen Deutschen und Nichtdeutschen wird zudem berücksichtigt, dass Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht nur von ausländischen Staatsangehörigen begangen werden können – z.B. Einreise ohne Visum oder Aufenthalt ohne Aufenthaltstitel. So reisen etwa Geflüchtete mangels legaler Alternativen in der Regel ohne ein Visum nach Deutschland ein. In diesem Fall erhöht sich der prozentuale Anteil von Straftaten, die von Migrant*innen verübt werden, ohne dass für die nichtmigrantische Vergleichsgruppe diese Gesetze gelten. Mögliche Strafverfahren wegen illegaler Einreise von Geflüchteten werden aber regelmäßig eingestellt, weil die Genfer Flüchtlingskonvention (Artikel 31) die Bestrafung illegaler Einreisen von Geflüchteten verbietet.

Trotz dieser Aspekte, die bei der Betrachtung von Kriminalitätsstatistiken zu beachten sind, hat sich in öffentlichen Debatten das Bild der "kriminellen Migrant*innen" etabliert. Das liegt auch daran, dass über Straftaten, an denen Migrant*innen oder Geflüchtete beteiligt sind, in den Medien öfter und überproportional häufig mit Nennung der Staatsangehörigkeit berichtet wird. So entsteht das, auch über Soziale Medien verbreitete, Zerrbild eines Landes, in dem immer mehr Straftaten verübt würden. Kriminalitätsstatistiken belegen dies nicht.

In politischen Debatten, vor allem aber in der medialen Berichterstattung werden Migration und Kriminalität häufig in Verbindung zueinander gesetzt. Gibt es aus wissenschaftlicher Sicht einen begründeten Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität?

Die Zusammenhänge zwischen Migration und Kriminalität sind komplex und Interner Link: erfordern daher eine differenzierte Betrachtung. Es kommt beispielsweise stark darauf an, unter welchen Umständen und in welcher Form Migration stattfindet. Zudem sind die Verhältnisse und Integrationsmöglichkeiten im Aufnahmeland entscheidend. Es gibt Erfahrungen, die zeigen, dass eine verstärkte Zuwanderung mit rückläufigen Kriminalitätsraten zusammenfällt und Zugewanderte der ersten Generation unterdurchschnittlich an Straftaten beteiligt sind. Dies schien in den letzten Jahren zum Beispiel in den USA der Fall gewesen zu sein. Es gibt aber auch Beispiele, etwa historische oder aus anderen Regionen, wo Zugewanderte überdurchschnittlich häufig mit Straftaten aufgefallen sind. Auf Westeuropa trifft das nach allem, was man aus Kriminalstatistiken und Befragungsstudien erkennen kann, momentan tendenziell zu. Man kann diese Frage also nicht pauschal beantworten. Es muss immer die konkrete Situation betrachtet werden.

Unabhängig von Nationalität und Herkunft wird jungen Männern ein höheres Kriminalitätsrisiko zugeschrieben als älteren Männern oder gleichaltrigen Frauen. Was sind mögliche Erklärungen hierfür?

Dass junge Männer ein höheres Kriminalitätsrisiko aufweisen als andere Bevölkerungsgruppen, gilt orts- und zeitunabhängig. Dahinter stecken zwei Phänomene. Einerseits der Geschlechterunterschied, also die Frage, warum Männer stärker an Kriminalität beteiligt sind als Frauen. Und andererseits das Alter, das heißt die universelle Alters-Kriminalitäts-Kurve. Versuchen wir das getrennt zu betrachten:

Bezüglich der Alters-Kriminalitäts-Kurve lässt sich beobachten, dass Interner Link: einige Formen von Kriminalität hauptsächlich im Jugendalter vorkommen. So treten Gewaltdelikte, Sachbeschädigung oder Diebstahl bei Jugendlichen häufiger auf als Betrug, Steuerhinterziehung oder Wirtschaftskriminalität, welche primär von Menschen im Erwachsenenalter begangen werden. Es geht bei jungen Menschen also hauptsächlich um Straßenkriminalität.

Jugendliche verbringen ihre Freizeit häufiger als andere Altersgruppen im öffentlichen Raum. Hier steigt dann die Wahrscheinlichkeit, dass Straftaten begangen werden, die manchmal auch entdeckt und angezeigt werden. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, wenn man das sogenannte Hellfeld der Kriminalität betrachtet, also die Delikte, die in offiziellen Kriminalitätsstatistiken auftauchen. Das ist bei jugendtypischen Delikten eher der Fall als bei Delikten von Erwachsenen, die stärker auf Verheimlichung angelegt sind – beispielsweise Betrügereien.

Dass Jugendliche häufiger durch die genannten Straftaten auffallen, liegt in den Besonderheiten dieser Lebensphase begründet. Junge Menschen befinden sich in Sozialisationsprozessen, werden selbständig und entwickeln eine eigene Persönlichkeit. Im Jugendalter besteht oft eine besondere Abenteuerlust, es werden Grenzen ausgetestet und ein eigenes Werte- und Normengerüst entwickelt. Zusätzlich spielt die Peer-Gruppe eine große Rolle. Wenn Jugendliche Straftaten verüben, geschieht das häufig aus dem Freundeskreis heraus, selten alleine. Aus neurowissenschaftlicher Sicht wäre noch darauf hinzuweisen, dass die Gehirnentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, was sich letztlich auf die Selbstkontrolle auswirken kann. Diese bildet sich dann bis zu Beginn der dritten Lebensdekade aus. Bei den allermeisten jugendlichen Straftätern ist die Beteiligung an Kriminalität ein vorübergehendes Phänomen im Rahmen sozialer Reifungsprozesse.

Zu den Geschlechterunterschieden lässt sich feststellen, dass diese mit der Schwere des Deliktes zunehmen. Das heißt, bei leichteren Delikten gibt es geringere Unterschiede. Ladendiebstähle werden genauso häufig von Mädchen wie von Jungen begannen. Aber je schwerer die Delikte, je schwerer auch die Gewalt, desto eher gibt es einen Männerüberhang. Auch hier spielen wieder verschiedene Aspekte eine Rolle: Die Akzeptanz von Gewalt ist bei Jungen weiter verbreitet als bei Mädchen. Dies hängt wiederum mit der Sozialisation und durchaus auch mit dem vermittelten Verständnis von Männlichkeit zusammen.

Migrantische junge Männer kommen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, haben vielfältige Erfahrungen gesammelt, unterscheiden sich mit Blick auf Bildungsniveaus, Zukunftsperspektiven, Wertvorstellungen, Weltanschauungen und Herkunftsländer. Gibt es trotzdem Hinweise darauf, dass junge migrantische Männer häufiger straffällig werden, als die Vergleichsgruppe in der Mehrheitsgesellschaft?

Hierzu gibt es zahlreiche Untersuchungen im In- und Ausland. International ist das Bild nicht ganz einheitlich. In den USA beispielsweise kann man feststellen, dass sich junge migrantische Männer eher nicht überdurchschnittlich an Delikten beteiligen. Das gilt vor allem für die erste und bedingt auch für die zweite Generation. In Westeuropa ist das Bild aktuell anders. Das ergeben sowohl Kriminalstatistiken als auch Befragungsstudien. Hier fallen junge Männer aus Einwanderungsfamilien häufiger durch Straftaten auf und berichten auch häufiger als Menschen ohne Migrationshintergrund, selbst an Straftaten beteiligt gewesen zu sein. In der dritten bzw. vierten Generation nimmt dann die Kriminalitätswahrscheinlichkeit wieder ab.

Worin liegen aus wissenschaftlicher Sicht mögliche Gründe für die erhöhte Delinquenz unter jungen migrantischen Männern?

Jugendliche mit Migrationshintergrund sind im Schnitt häufiger von benachteiligten und schwierigen Lebensumständen betroffen, welche allgemein Kriminalität im Jugendalter begünstigen. Hierzu zählt zum Beispiel, dass in den Familien weniger Ressourcen zur Verfügung stehen, um Perspektiven zu entwickeln, gefördert und beaufsichtigt zu werden. Herkunftsunabhängig vergrößert das Aufwachsen in benachteiligten Verhältnissen die Wahrscheinlichkeit, dass junge Männer eine geringere Normbindung entwickeln. Hier greift die sogenannte Marginalisierungsthese, die besagt, dass Perspektivlosigkeit, strukturelle Benachteiligung und Diskriminierungserfahrungen Gewalt fördern. Es fehlt an Teilhabe und damit auch an Anerkennungserlebnissen. Wenn solche Erlebnisse in der Schule, im Elternhaus oder der Freizeit ausbleiben, kann es gerade für junge Männer attraktiv sein, Interner Link: mit Gewalt die eigene (männliche) Persönlichkeit zu inszenieren, sich als stark zu beweisen, um dadurch zumindest in der Clique Anerkennung zu erfahren.

Kriminelles Verhalten wird in öffentlichen Debatten häufig kulturalisiert, d.h. es wird z.B. behauptet, dass migrantische Männer deshalb gewalttätig werden würden, weil ein solches Verhalten in den Herkunftskulturen akzeptabel sei. Kann aus wissenschaftlicher Sicht dieser kausale Zusammenhang festgestellt werden?

Die Frage, welche Rolle die soziokulturellen Verhältnisse im Herkunftsland nach der Migration für die Straffälligkeit spielen, wird auch in der Wissenschaft seit Langem diskutiert. Zunächst einmal muss man hier differenzieren, über welche Generation man spricht. So sind die zweite und dritte Generation nicht mehr direkt von den Verhältnissen im Herkunftsland geprägt. Diese können allenfalls indirekt über die Eltern vermittelt werden. Allerdings ist in der ersten Generation die Straffälligkeit zum Teil geringer als in der zweiten Generation, was eher gegen stärkere herkunftsbezogene Erklärungen sprechen würde. Eine Ausnahme bildet zum Beispiel Partnergewalt, die in der ersten Generation weiter verbreitet zu sein scheint als in der zweiten und dritten Generation. Hier liegt also die Vermutung von gewissen Herkunftseffekten nahe. Dazu muss man aber verschiedene Aspekte mit einbeziehen, um andere Faktoren ausschließen zu können: Liegt es tatsächlich an der Herkunft aus bestimmten Kulturen, oder sind andere Faktoren nicht viel bedeutsamer, insbesondere eine konfliktbehaftete Lebenssituation im Aufnahmeland?

Generell gilt, dass die zentralen strafrechtlichen Normen, wie beispielsweise, dass man nicht töten, rauben oder stehlen soll, in vielen Ländern ähnlich sind. In manchen Gesellschaften ist aber beispielsweise eine gewaltsame Erziehung weiter verbreitet als heutzutage in Westeuropa. In Deutschland berichten etwa 15 Prozent der Jugendlichen aus Einwandererfamilien von solchen Erfahrungen, bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund liegt der Wert etwa halb so hoch. Mögliche Gründe könnten ein erhöhtes Stresslevel im Migrationskontext sein, zum Teil aber eben auch eine größere Verbreitung von Gewalt in der Erziehung im Herkunftsland. Allgemein gilt: Gewaltsame Erziehung begünstigt eigenes Gewalthandeln. Das ist kein Automatismus, aber eine Tendenz. Die meisten Kinder, die in der Erziehung Gewalt erfahren, werden später nicht selbst gewalttätig. Aber es macht es wahrscheinlicher.

Auch Akkulturationsprobleme – d.h. Prozesse der Aneignung von Werten, Ideen, Wertvorstellungen einer bisher fremden Kultur – im Aufnahmeland können eine mögliche Erklärung für gewalttätiges Verhalten sein. So kann die Entwicklung einer Persönlichkeit und eines Zugehörigkeitsgefühls, das für die Normbindung wichtig ist, für Jugendliche aus Einwandererfamilien herausfordernder sein als für Jugendliche ohne Migrationshintergrund aus vergleichbaren sozialen Verhältnissen.

Schaut man sich speziell Gewalttaten an, welche von den Tätern subjektiv durch das Ziel der Aufrechterhaltung "der Ehre” des Mannes oder der Familie legitimiert werden, findet man in der Wissenschaft relative Einigkeit, dass die soziokulturellen Verhältnisse im Herkunftsland bei diesen Delikten eine Rolle spielen. Hier kommen spezifische Legitimationsmuster zum Tragen, die man so heute in westeuropäischen Gesellschaften ansonsten selten findet. Die Frage ist dann aber, inwieweit diese typisch sind für alltägliche Formen von Jugendgewalt, bei denen es häufiger um den "Kick" und Anerkennungserlebnisse geht. Dafür sprechen auch neuere international-vergleichende Studien, wonach Jugendliche im Aufnahmeland höher belastet sind als vergleichbare Jugendliche in den jeweiligen Herkunftsgesellschaften. Ehrdelikte kommen im Übrigen auch nur in bestimmten Milieus der Herkunftsgesellschaften vor, und die ihr zugrundeliegenden Ehrvorstellungen werden natürlich nicht von allen Männern im Herkunftsland geteilt.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Es gibt Anhaltspunkte, dass Kultur und Herkunftsgesellschaft für die Kriminalitätsbelastung junger Menschen nicht vollkommen irrelevant sind. Diese Erklärung allein reicht aber nicht aus, und sie ist wohl auch nicht zentral. Letztlich ist es immer ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Sowohl für junge Männer aus Einwandererfamilien als auch für männliche Jugendliche ohne Migrationshintergrund gilt: Wenn sie sozial eingebunden sind, Perspektiven haben und Anerkennung erfahren, verlieren Vorstellungen von gewaltaffiner Männlichkeit an Attraktivität.

Wir haben nun viel über Gewalt gesprochen. Wie stark hängen Männlichkeitsvorstellungen und Akzeptanz von Gewalt zusammen?

Wenn man Interner Link: Männlichkeitsvorstellungen betrachtet, ist die Verknüpfung mit Gewalt eher gegeben als z.B. bei Ladendiebstählen. Männliche Ehrkonzepte und -vorstellungen können Gewaltdelikte begünstigen. Es geht darum, körperliche Stärke zu zeigen, sich zu beweisen, um Anerkennung zu erfahren. Bei Diebstählen geht es eher um Risiko und Abenteuerlust – zumindest in einer Wohlstandsgesellschaft, wo Armutskriminalität nicht im Vordergrund steht. Mit Blick auf Gewaltdelikte findet man aber die größten Unterschiede zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund. Generell gilt aber, schwere Delikte, Raub und schwere Körperverletzung sind relativ selten, auch unter männlichen Jugendlichen ausländischer Herkunft. Am weitesten verbreitet sind unter jungen Männern Diebstähle, Sachbeschädigungen und leichtere Körperverletzungsdelikte.

Welche Rolle spielt das häufig reproduzierte Bild des "kriminellen, männlichen Migranten” für die Selbstwahrnehmung migrantischer Männer?

Es gibt Untersuchungen in der Tradition der Labelling-Perspektive , die darauf hindeuten, dass Zuschreibungen, Stereotype und Fremdwahrnehmungen in das eigene Selbstbild, die eigene Identität übernommen werden können. Man muss sich zu diesen Zuschreibungen positionieren. Eine Option ist, sie zumindest ein Stück weit zu übernehmen. Gewisse Effekte sind da also denkbar.

Spielen der Migrationsgrund – beispielsweise Flucht, Arbeit, Ausbildung, Familie – und die daraus resultierenden Aufenthaltsrechte eine Rolle für delinquentes Verhalten?

Bezüglich der Auswirkungen des Migrationsgrundes gibt es bislang leider wenig Erkenntnisse. Eine Unterscheidung nach Migrationsgrund scheint jedoch wichtig, da sich die sozialen Ausgangslagen etwa von Arbeitsmigranten und Geflüchteten stark unterscheiden. Die Fluchterfahrung als solche ist ein einschneidendes Erlebnis, das mit besonderen Belastungen und auch mit Gewalterfahrungen einhergehen kann. Der Einfluss dieser fluchtspezifischen Erfahrungen wird untersucht. Beispielsweise analysieren Psychologen, inwieweit eigene Gewalt- und Interner Link: Traumaerfahrungen aggressives Verhalten begünstigen können. Zudem sind Geflüchtete im Ankunftsland zunächst in einer ganz anderen Situation als Menschen, die wegen ihrer Berufstätigkeit migrieren. Ein Faktor ist die mögliche Unsicherheit und ggf. Frustration bezüglich des eigenen Aufenthaltsstatus und langer Verfahren. So deutet die Forschung darauf hin, dass das Risiko, straffällig zu werden, unter Geflüchteten mit sicherem Aufenthaltsstatus geringer ist als bei Menschen, deren Asylantrag noch geprüft wird oder abgelehnt worden ist. Über den Einfluss der Bleibeperspektive weiß man im Grunde aber noch zu wenig.

Grundsätzlich würde ich aber schon sagen, dass der Migrationsgrund besonders für die erste Generation bedeutsam sein kann. So macht es einen Unterschied, ob Jugendliche unbegleitet oder mit ihrer Familie nach Deutschland kommen. Besonders unbegleitete Minderjährige sind durch den Wegfall des sozialen Umfelds, das sie unterstützen kann und eine gewisse Kontrolle ausübt, mit großen Herausforderungen konfrontiert. Und das in einer Phase, in der sie selbst in der Entwicklung sind. Gerade zu dieser besonderen Situation von Interner Link: unbegleiteten Minderjährigen gibt es jedoch noch kaum kriminologische Forschung.

Welche Gedanken möchten Sie den Lesern und Leserinnen mit Blick auf den Themenkomplex Männlichkeit, Migration und Kriminalität abschließend gerne mit auf den Weg geben?

Erstens muss man mit Pauschalisierungen und Generalisierungen sehr vorsichtig sein. Gewalt begünstigende Vorstellungen von Männlichkeit dürfen nicht vorschnell und einseitig auf Migration zurückgeführt werden. Diese gibt es auch bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Delinquenz hat viel mit der Lebenssituation zu tun.

Zweitens sollte man bedenken, dass eine Orientierung an traditionellen Geschlechterrollen nicht gleichbedeutend ist mit einer Befürwortung von Gewalt.

Schließlich sollte man nicht vergessen, dass Einstellungen und Orientierungen, Identitäten und Selbstbilder etwas sind, das sich entwickeln und verändern kann – und zwar in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die man beim Aufwachsen macht, dem eigenen sozialen Status und dem persönlichen Umfeld. Delinquentes Verhalten verliert in der Regel in der dritten Lebensdekade selbst bei vorher intensiv Straffälligen an Bedeutung.

Die Fragen stellte Violetta Siering.

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Über den Interviewpartner:
Dr. Christian Walburg ist Rechtswissenschaftler und Kriminologe und forscht seit vielen Jahren zum Thema Migration und Kriminalität. Er ist an der Universität Leipzig tätig.