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Rechtsruck in Frankreich – Der Versuch einer Ursachenforschung

Michaela Wiegel

/ 4 Minuten zu lesen

Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch. Das verändert die Parteienlandschaft in Frankreich, aber auch in Deutschland. Bei den bevorstehenden Präsidentenwahlen könnte der "Front National" als stärkste Kraft im ersten Wahlgang abschneiden. Wie ist der politische Rechtsruck in Frankreich zu erklären?

(© picture-alliance/dpa, MAXPPP)

Ein Wahlsieg Interner Link: Marine Le Pens am 7. Mai ist nicht mehr unmöglich. Die 48 Jahre alte Rechtspopulistin ist dem Einzug in den Elysée-Palast näher gerückt, als es bei ihrer Wahl an die Parteispitze des Interner Link: Front National (FN) im Januar 2011 vorherzusehen war. Innerhalb von sechs Jahren hat Le Pen ein engmaschiges politisches Netzwerk in Rathäusern, Départementsräten und Regionalräten in fast allen Landesteilen aufgebaut. In der Nationalversammlung und im Senat bleibt ihre Partei aufgrund des Mehrheitswahlrechts dennoch unterrepräsentiert. Zugleich hat Le Pen sich in den Interner Link: französischen Medien einen Platz als respektierte Gesprächspartnerin erobert. Das wiederum hat die Debatte über ihre Ideen enthemmt. Noch deutet vieles darauf hin, dass Le Pen nicht genügend Wählerreserven im entscheidenden Stichwahlgang mobilisieren kann, um die 50-Prozent-Hürde zu überspringen. Ein Wahlsieg bleibt damit unwahrscheinlich. Nur eine ungewöhnlich geringe Wahlbeteiligung würde ihr den Weg an die Staatsspitze ebnen.

Gedankengut des Front National beeinflusst auch andere Parteien

Die kulturelle Schlacht um ihre Ideen hat Le Pen jedoch bereits gewonnen. Das sagt kein anderer als Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron. Der Kandidat der Progressisten, der die traditionelle Kluft zwischen Rechts und Links zu überwinden verheißt, wirft den beiden Regierungsparteien, den Sozialisten und den Republikanern, jahrelange intellektuelle Faulheit vor. Da sie sich mit den Ideen Le Pens nicht ernsthaft auseinandergesetzt, sondern nur auf moralische Verurteilung gehofft hätten, sei eine "Lepenisierung" der Köpfe möglich geworden. Tatsächlich setzt Le Pen seit Monaten die Themenschwerpunkte in der politischen Debatte, ob in Fragen von Terrorismusbekämpfung, Einwanderung oder der Zukunft der EU. Dies hat zu einem erheblichen Rechtsruck bei den Republikanern geführt, die (damals noch unter dem Namen UMP ) von 1995 bis 2012 ununterbrochen den Präsidenten stellten. Doch selbst die regierenden Sozialisten haben sich in ihrer zögerlichen, zurückhaltenden Flüchtlingspolitik vom Gedankengut des Front National beeinflussen lassen.

Das Nachdenken über den Islam verursacht französische Identitätskrise

Die wirtschaftliche Abwärtsspirale Frankreichs mit hoher Arbeitslosigkeit, wachsender Schuldenlast und aufgeblähtem Staatsapparat allein vermag den Erfolg der Rechtspopulisten nicht zu erklären. Zwar rekrutiert sich Le Pens Anhängerschaft hauptsächlich bei jenen, die sich für Externer Link: Globalisierungsverlierer halten. Le Pens Breitenwirkung jedoch fußt auf einer tiefer liegenden Identitätskrise, deren erstes deutliches Symptom der Streit um die Externer Link: Kopftücher muslimischer Schülerinnen war. Drei junge Französinnen wurden in Creil im Norden von Paris im Oktober 1989 vom Unterricht ausgeschlossen, weil sie sich geweigert hatten, ihr Kopftuch im Klassenzimmer abzunehmen. Die Debatte zeigte, wie angespannt das Verhältnis zur muslimischen Minderheit damals bereits war. Die Interner Link: Laizität, die 1905 per Gesetz durchgesetzte Trennung von Staat und Kirche, wurde neu interpretiert. In den Diskussionen war deutlich das Unbehagen zu spüren, das ein Großteil der Franzosen einem sichtbaren Interner Link: Islam entgegenbrachte – und dies lange vor den ersten großen Terroranschlägen. Es zeigte sich, wie die nur ansatzweise aufgearbeitete Interner Link: Kolonialvergangenheit auch den Blick auf die religiöse Identität der Einwanderer aus Nordafrika verstellte. Das Integrationsmodell, auf das Frankreich lange stolz war, versagte dabei immer mehr. Die Aufstiegschancen der Neu-Franzosen nahmen ab. Das Buch "Die verlorenen Territorien der Republik" dokumentierte 2002 das Scheitern in den staatlichen Schulen, alle Kinder mit Einwanderungshintergrund zu bejahenden, gebildeten Interner Link: Bürgern mit Berufschancen zu erziehen.

Ausgrenzung führt zu religiösen Gegenreaktionen

Im April 2002 zog Jean-Marie Le Pen überraschend in den zweiten Wahlgang der Präsidentenwahl ein. Im März 2004 verabschiedete das französische Parlament ein Gesetz, mit dem religiöse Insignien aus allen öffentlichen Schulen verbannt wurden. Offiziell betraf dieses Gesetz Christen, Juden und Muslime gleichermaßen. Für letztere war aber eindeutig, dass sie damit gemeint waren. Seither ist keine Entspannung eingetreten. Ein gesetzliches Burka-Verbot verstärkte den Eindruck einer Fokussierung des Gesetzgebers auf den Islam. Das Gefühl der fortbestehenden Ausgrenzung unter den meisten Nachfahren der Einwanderer führte allmählich zu einer religiösen Gegenreaktion, die der Interner Link: Islamforscher Gilles Kepel in mehreren Büchern beschrieben hat. Insbesondere nach den Interner Link: banlieue -Unruhen im Spätherbst 2005 haben Salafisten und andere islamische Eiferer in benachteiligten Wohnvierteln mit hohem Einwandereranteil Fuß gefasst.

Terrorismus spielt Rechtspopulisten in die Hände

Die blutigen Terroranschläge zwischen 2015 und 2016 mit 238 Toten und mehreren tausenden Verletzten haben viele Franzosen für das von Le Pen verbreitete Misstrauen gegen Fremde muslimischen Glaubens empfänglich gemacht. "Nicht alle Muslime sind Terroristen, aber alle Terroristen waren Muslime": Mit Parolen wie diesen hat Le Pen eine schockierte Nation für sich eingenommen. Hinzu kommen Fehler der Zentralregierung bei der Raumordnungspolitik. Der Staat hat sich aus vielen Landesteilen abseits der Metropolen und sozialen Brennpunkte der banlieue zurückgezogen und eine vom Industriewandel besonders betroffene Peripherie geschaffen, die Le Pen als "Frankreich der Vergessenen" umwirbt. Hier sind die Menschen für EU- und Globalisierungskritik offen, weil sie die Vorzüge von Öffnung und Reisefreiheit nicht erfahren.

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Michaela Wiegel berichtet seit 1998 aus Paris für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Frankreichs Politik und Gesellschaft.