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Welchen Ort hat die Menschheit in den Ordnungen der Welt? Ethische und philosophische Überlegungen zum Anthropozän

Wolfgang Lucht

/ 20 Minuten zu lesen

Der Mensch nimmt im Anthropozän eine Macher- und eine Schöpferrolle ein. Seine Verantwortung, sein Denken und Handeln ist gefordert. Denn auf dem Spiel stehen die für die Moderne zentralen Ideen wie Freiheit und Gerechtigkeit. Doch die ökologische Frage darf das „wie“ der Ziele nicht aus den Augen verlieren. Ökologische Politik wird die Freiheits- und Gerechtigkeitskämpfe der Moderne aufnehmen müssen.

Stadt in Europa (© picture-alliance/dpa)

Der Begriff „Anthropozän“ ist eine geologische Bezeichnung: die Wirkungen des Menschen auf die Prozesse der Erde sind so weitreichend geworden, dass sie sich als geologische Ablagerungen eigener Qualität zeigen. Jedoch impliziert der Begriff als Ausdruck unseres wachsenden Wissens über die Erde, ihre Geschichte und künftige Entwicklungen grundlegende Fragen nach den Ordnungen der Welt und nach Position, Aufgabe und Verantwortung des Menschen. Solche Fragen sind so alt wie die Menschheit, stellen sich aber im Anthropozän auf neue, den Planeten umfassende Weise.

Nicht nur der Zustand der globalen Umwelt, des Klimas und der Biosphäre drohen in einen Zustand zu geraten, welcher in der jüngeren Erdgeschichte ohne Beispiel ist. Auch die Gesellschaften der Menschen erleben eine historisch nie dagewesene Beschleunigung von Entwicklungen: eine um das Mehrfache erhöhte Bevölkerungszahl, weitreichende technologische Fähigkeiten und weltweite Vernetzung. Die Menschheit findet sich an einem Punkt wieder, an dem die Verhältnisse auf der ganzen Erde, in Natur, Kultur und Zivilisation zur Verhandlung mit uns selbst stehen.

Die Menschheit kann in dieser Lage ihre größte Stärke nutzen und zumindest den Versuch unternehmen, mit der Herausforderung reflektiert umzugehen. Sie kann ihre ganze analytische, ethische und moralische Kraft einbringen, welche vielfältig in den Praktiken und Traditionen der verschiedenen Kulturen verankert ist.

Folgende Fragen werden erläutert:

  • In welchem Verhältnis stehen Bewahren und Gestalten zueinander?

  • Welchen Prinzipien sollten die Menschen hierbei folgen?

  • Was ist notwendig, was wünschenswert?

  • Worin besteht Gerechtigkeit im Anthropozän und wie fördert und sichert man sie?

  • Welches Verhältnis besteht zwischen Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen?

  • Welche Verantwortung tragen wir einzeln und gemeinsam und was folgt aus ihr?

  • Und nicht zuletzt: Was fangen wir mit unserer Freiheit an, einzeln und gemeinsam?

  • Wie groß ist diese Freiheit überhaupt?

Das Wesen des Anthropozäns

Wissenschaftliche Forschung zum Wesen des Anthropozäns ist die notwendige Grundlage einer solchen gesellschaftlichen Selbstreflexion. Ohne die Ergebnisse der Wissenschaft der letzten 250 Jahre wüsste die Menschheit heute weder, welcher Art der Planet ist, auf dem wir leben, welche Eigenschaften er hat, noch von der Komplexität der Entwicklungen, welchen wir gegenüberstehen. Einige kurze Schlaglichter auf ikonografische Beispiele aus der jüngsten Forschung zeigen, welche grundsätzliche Qualität die Veränderungen haben, vor deren Hintergrund die ethische und philosophische Diskussion über das Anthropozän stattfindet.

Eis und Eiszeit

Schon heute gibt es Anzeichen dafür, dass größere Eisregionen am Rand der polaren Eismassen infolge der einsetzenden Erwärmung instabil geworden sind oder es in den nächsten Jahrzehnten werden könnten. Einmal begonnen, wären Schmelz- und Auflösungsprozesse oft unumkehrbar. Würden alle heute bekannten fossilen Energieträger verbrannt und das entstehende Kohlendioxid in die Atmosphäre entlassen, würde der antarktische Kontinent nahezu vollständig eisfrei werden. Für das völlige Abschmelzen Grönlands werden Schwellwerte von weniger als 2 Grad Erderwärmung diskutiert. Insgesamt würde der Meeresspiegel durch den Verlust dieser Eisschilde um über 60 Meter ansteigen, was katastrophale Auswirkungen auf den Verlauf der Küsten der Welt hätte. Das Antlitz der Erde selbst wäre für immer verändert, nicht nur an den Polkappen.

Zum Glück schmilzt Eis langsam: es würde einige Jahrtausende dauern, bis die Schmelze komplett wäre. Aber nur bis etwa zur Mitte dieses Jahrhunderts besteht ein letztes Zeitfenster, diesen Vorgang durch einen kompletten Ausstieg aus der fossilen Energie zu verhindern. Das gilt auch für neue Forschungsergebnisse, die in noch grundsätzlichere Tiefe reichen: ein fortschreitender Anstieg der Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre würde sogar den stärksten und größten Zyklus der derzeitigen Phase der Erdgeschichte unterbrechen, den Eiszeit-Zyklus.

Aufgrund der astronomischen Verhältnisse leben wir seit 12.000 Jahren in einer ungewöhnlich langen und stabilen zwischeneiszeitlichen Warmzeit, welche den Aufstieg der Hochkulturen begünstigte, während in der jetzigen Phase der Erdgeschichte normalerweise ein anhaltender Eiszeit-Zustand der Normalzustand ist. Statt in ca. 50.000 Jahren zuende zu gehen, zeigen die neuesten Forschungsergebnisse nun, dass der Eintritt der nächsten Eiszeit in einer anthropogen aufgewärmten Erde um nicht weniger als 100.000 Jahre verschoben werden würde – für einen Zeitraum also, der doppelt so lang ist wie die gesamte bisherige Geschichte des modernen Menschen (homo sapiens) in Europa. Dies ist ein gewaltiger Eingriff der Menschheit in die planetaren Abläufe auf der größten denkbaren Bühne: die Unterdrückung einer der großen Oszillationen der Erdgeschichte.

Wenn irgendein Vorgang symbolisch für die Bezeichnung Anthropozän stehen kann, dann ist es diese Geschichte des Eises. Er steht für die Macht der Menschen, den Planeten umzuformen und seine Geschichte auf einen veränderten Pfad zu setzen. Es ist unvorstellbar, dass eine solche Perspektive, einmal erkannt, auf verschlungenen Wegen nicht auch eine Revolution im Selbstbild des Menschen auslösen sollte, welche auf Dauer auch Vorbote sozialer und politische Umwälzungen in der Folge dieser Erkenntnisse sein könnte. Es ist vor diesem Hintergrund, dass sich Fragen nach Verantwortung und Freiheit im Anthropozän mit großer Dringlichkeit stellen.

Eine unmittelbare Bedrohung

Nach einem Tsunami über dem Midway Atoll sitzen überlebende Laysanalbatros-Küken inmitten von Plastikmüll. (© picture-alliance, WILDLIFE)

Zu den größten unmittelbaren Gefahren des Klimawandels zählt dabei nicht einmal die Veränderung der mittleren Temperatur und Niederschläge und ein steigender Kohlendioxid-Gehalt in der Atmosphäre, sondern die Gefahr, dass sich Zirkulationsströmungen in Atmosphäre und Ozean verändern. Diese sind komplexe, selbstorganisierende Muster des Erdsystems mit fundamentalem Einfluss auf den Energietransport zwischen Weltregionen. Für Komplexitätswissenschaftler ist es nicht überraschend, dass solche Muster verschiedenartige Zustände einnehmen und in manchen Wertebereichen selbst auf kleinere Verschiebungen empfindlich reagieren können. Die Auswirkungen auf regionale Erwärmungen und Dürren, Überflutungen oder Stürme sind sowohl für Tiere und Pflanzen als auch für die Gesellschaften des Menschen viel gravierender als die Veränderung der Mittelwerte.

Es gibt zum Beispiel erste Anzeichen dafür, dass sich die Nordatlantikzirkulation des Ozeans in den vergangenen Jahren verlangsamt hat Diese transportiert tropische Wärme in unsere mittleren Breiten, weshalb es in Europa milder als in entsprechenden geographischen Breitens Kanadas oder Sibiriens ist. Umso mehr Besorgnis macht die Beobachtung, dass eine hierfür kritische Region des Nordatlantiks der einzige Ort der Erde ist, welcher sich in den vergangenen Jahren nicht erwärmt, sondern leicht abgekühlt hat: offensichtlich stockt die Nachfuhr von Wärme aus der Ozeanströmung, welche in ihrer Stärke nachlässt. Dies hat auf längere Sicht Auswirkungen auf die Wetterlagen der gesamten westlichen Nordhalbkugel.

Strömungsmuster verändern sich aber nicht nur im Ozean, sondern auch in der Atmosphäre. Immer häufiger lassen sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten extreme Wetterlagen beobachten, die ungewöhnlich stabil sind. Diese entstehen durch ein Resonanzphänomen zwischen Wellen, die sich natürlicherweise in der Atmosphäre bilden, aber heute häufiger als zuvor für einige Wochen wie eingefroren stehenbleiben statt in ihre Normallage zurückzukehren. Dann strömt vermehrt heiße Luft aus dem Süden in den Norden oder, je nach Region und Fall, kalte Luft umgekehrt aus dem Norden in den Süden und erzeugt in den betroffenen Gegenden starke Extremwetterperioden. Ein Zusammenhang dieses Phänomens mit der abnehmenden Temperaturdifferenz zwischen den Tropen und der nördlichen Polarregion, wie sie der Klimawandel mit sich bringt, wird als denkbar erachtet.

Unterirdische Wasservorräte in der Wüste El Ejido ermöglichen die Bewirtschaftung der weltweit größten Anbaufläche unter Plastik-Folien. (© dpa-Report)

Es ist zudem natürlich nicht nur das Klima, das im Anthropozän unter die Räder zu geraten droht. Die Biosphäre der Erde mit ihren ökologischen Vernetzungen und Vielfältigkeiten befindet sich ebenfalls in einer massiven, durch den Menschen bewirkten Umgestaltung, da weltweit Landschaften durch die Nutzung des Menschen transformiert und natürliche Abläufe verändert werden. Auf dem Spiel steht hier die Funktionsfähigkeit der aus der Evolution hervorgegangenen biologischen und ökologischen Systeme der Erde ebenso wie jene der von ihnen abhängigen gesellschaftlichen Organisationen des Menschen. Die Landschaften der Erde sind zudem das Substrat, auf dem Gesellschaften ihre Kulturen entwickelt haben. Veränderungen der Landschaften im Anthropozän führen zu Veränderungen der Kultur und des Selbstbilds der betroffenen Gruppen. Dies gilt nicht nur für Einwohner überweideter Halbwüstenzonen der Erde oder die Inuit der abschmelzenden Arktis, sondern in allen Klimazonen.

Die Kraft wissenschaftlicher Welterkenntnis

Wissenschaftliche Entdeckungen haben schon oft revolutionär auf das Selbstverständnis des Menschen gewirkt, obwohl ihre konkrete Bedeutung für das alltägliche Leben häufig völlig irrelevant war. Als Nikolaus Kopernikus folgerte, dass die Körper des Himmels keineswegs alle um die Erde kreisen oder Charles Darwin argumentierte, dass Tier wie Mensch evolutionär aus Prozessen der tiefen Erdgeschichte hervorgegangen seien, brachte dies weder Brot auf den Tisch noch heilte es Krankheiten, weder beendete es Kriege noch entwickelte es Wohlstand.

Dennoch markierten diese Erkenntnisse Durchbrüche zur mentalen Moderne und hatten enorm weitreichende Folgen, da bestehende soziale und kulturelle Ordnungen durch das neu entstehende Selbstverständnis durchbrochen wurden. Der Mensch wurde durch Wissen in eine kosmologische Ohnmacht entlassen, die ihm aber Freiheit und Verantwortung ebenso übertrug wie große weltgestaltende Macht. Die neuen Auffassungen von der Welt entwickelten ihre revolutionäre Sprengkraft gerade deshalb, weil unser Selbstbild der ursprünglichste Antrieb jeder Politik, Moral und Ethik und damit Ursprung der öffentlichen Ordnungen ist.

Um wie viel bedeutsamer müssen dann die Erkenntnisse der heutigen Zeit über das Anthropozän sein, welche uns und unser künftiges Leben ganz direkt betreffen: Erkenntnisse wie die Entschlüsselung des Atoms, der Genetik des Lebens – und der Erde als einem komplexen, sich verändernden Planeten mit langer, wechselvoller Geschichte. Nun, da erstmals nicht nur das Schicksal von Regionen in den Händen unserer Entscheidungen liegt, sondern der Zustand des Planeten als Ganzem, stellen sich die alten Fragen nach Freiheit, Verantwortung und Gerechtigkeit mit großem Nachdruck und mit Kulturen überspannender Dringlichkeit.

Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist ein zentraler operativer Begriff jeder Verhandlung über die Zukunft, welche demokratischen Vorstellungen folgt, umso mehr für Selbstverhandlungen der Gesellschaften der Erde angesichts der in Gang gesetzten planetaren Umgestaltung. Diese betrifft verschiedene Menschen auf verschiedene Weisen, wurde von verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise verursacht, und ist auch nur auf unter Menschen verschiedene Weise zu begrenzen oder abzufedern. Wer bezahlt die Schäden, wer bezahlt die Gegenmaßnahmen, wer muss mit welchen Veränderungen leben?

Räumliche und zeitliche Gerechtigkeit

Stau auf der Autobahn (© picture-alliance/dpa)

Auch in den fortlaufenden Verhandlungen um einen Weltklimavertrag zur Begrenzung des Klimawandels spielen Aspekte der Gerechtigkeit eine zentrale politische Rolle. Es geht um Fragen der räumlichen Verteilungsgerechtigkeit ebenso wie um Gerechtigkeit über Generationen hinweg. Wenn das Ausmaß des Klimawandels auf einen festgelegten Wert begrenzt werden soll, folgt daraus eine maximale Menge an Kohlendioxid, welches bis zum Erreichen der Grenze in die Atmosphäre entlassen werden kann. Auf der Zeitskala von Jahrzehnten spielt es dabei kaum eine Rolle, in welcher Weltregion und wann die Emissionen geschehen, es kommt lediglich auf ihre Gesamtsumme über die Zeit an. Von dieser hängt das Maß der Erwärmung des Klimas der Erde nahezu linear ab.

Damit stellt sich die entscheidende Frage:

  • Wer darf noch wie lange wie viel emittieren?

  • Wer bekommt welchen Anteil am verbleibenden Volumen der begrenzten Kohlendioxid-Mülldeponie namens „Atmosphäre“?

  • Dürfen Länder, welche schon lange fossile Energieträger verbrannt haben und damit zu Wohlstand gekommen sind, nur noch sehr wenig emittieren, weil sie ihren Anteil schon lange aufgebraucht haben, wogegen andere noch Nachholbedarf haben?

Nachdem bei vorherigen Klimakonferenzen wie jener von 2009 in Kopenhagen Versuche scheiterten, das begrenzte Emissionsbudget im Rahmen vereinbarter Ziele in Form von Kontingenten unter Staaten aufzuteilen, setzen die aktuellen Vereinbarungen auf das Prinzip der freiwilligen Selbstverpflichtung. Das Ziel, den Klimawandel auf weniger als 2 Grad zu begrenzen, wird dabei derzeit noch deutlich verfehlt. Jedoch wurde die Entwicklung von Prozeduren zur Überwachung der Entwicklung, zur Meldung der Beiträge und zur Nachverhandlung während der Vertragslaufzeit vereinbart. Auf diese Weise wurde einerseits durch das Prinzip der Freiwilligkeit die Gerechtigkeitsdebatte vermieden: während die Größe der notwendigen Ambition, d.h. der kollektiven Selbstbeschränkung, definiert wurde, wurde die Verteilung der Reduktionen auf Länder und Regionen ausgeklammert.

Andererseits stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit bezüglich der verbleibenden, nicht unerheblichen Lücke zwischen Ambition und Selbsterklärung erneut. Wessen Verantwortung ist es, sie zu schließen? Und was geschieht, wenn die Ziele verfehlt werden? Ein Scheitern des Unterfangens, den Klimawandel zu begrenzen, ist damit aufgrund der Ausklammerung der Gerechtigkeitsfrage eine reale Möglichkeit. Die Gerechtigkeitsfrage ist und bleibt neben Fragen der Machbarkeit der zentrale Punkt einer wissenschaftlich begründeten Debatte um das Anthropozän.

Der Wunsch nach Bewahrung eines holozänartigen will sagen: relativ stabilen Zustandes der Erde ist dabei vor allem durch Sorgen um das Ausmaß der denkbaren Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte bestimmt, sowohl bezüglich der Abwehr des Klimawandels als auch seiner Auswirkungen. Die Vermeidung eines umfassenden Umweltwandels ist jedoch vermutlich eine Grundvoraussetzung für die Lösung anderer drängender Menschheitsprobleme wie der Erhaltung geopolitischen Friedens oder der weiteren Zurückdrängung von Armut und unwürdiger Lebensbedingungen.

Seine Hoffnung setzt das Klimaabkommen von Paris auf das Prinzip der sozialen Selbstverstärkung. Es soll versucht werden, einen Schneeball der Transformation in Gang zu bringen, welcher eine Lawine auslöst, die bei Erfolg selbstverstärkt den fossilen Energiesektor zum Kollaps und einen Übergang zu vollständig erneuerbaren Energiesystemen herbeiführt. Wenn die Attraktivität und ökonomische Opportunität von erneuerbaren Energiesystemen deutlich wird, so das Kalkül, und breite soziale Bewegungen aufgrund der damit verbundenen Vorteile diese Technologien durch Forderungen unterstützen, würde die fossile Verbrennungstechnologie des 19. und 20. Jahrhundert umschlagartig obsolet und sich damit die ungelöste Gerechtigkeitsfrage nicht mehr stellen.

Sollte der Prozess des Klimavertrages jedoch nicht erfolgreich verlaufen, so bestünde hingegen ein erhebliches Gerechtigkeitsproblem zwischen heutigen und kommenden Generationen, welches nur deswegen noch immer tagespolitisch nicht akut ist, weil die künftigen Generationen ebenso wie die Tier- und Pflanzenwelt nicht für sich sprechen können. Potenzielle Gründe für ein denkbares Scheitern aller Anstrengungen zum Klimaschutz sind vielfältig:

  • die Freiwilligkeit der Zusagen,

  • die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der zuständigen Institutionen,

  • die Trägheit und das auf kurzfristige Gewinne orientierte Wesen des Investitionsmarktes,

  • die Langfristwirkung gebauter Infrastruktur

  • und die Inflexibilität vieler politischer, sozialer und kultureller Prozesse.

Im schlimmsten Falle würde ein ungebremster Klimawandel die Welt bis zum Ende des Jahrhunderts in ein überhitztes Anthropozän mit weltweiten Schwierigkeiten führen, weil nicht nur in einigen Regionen, sondern weit verbreitet die Grenzen der Belastbarkeit überschritten würden. Selbst für den Fall, dass ein Ausstieg aus Treibhausgasemissionen erfolgreich entstünde, jedoch zeitlich etwas zu spät, würde die Bürde, mit den Folgen der resultierenden Überschreitung der Klimaziele umzugehen oder gar mit gigantischer und problematischer Technologie zur Klimamanipulation die Fehlentwicklungen nachträglich zu korrigieren, den künftigen Generationen auferlegt.

Solche Diskurse um globale Verteilungs-, Lasten- und Ressourcengerechtigkeit sind dabei aber auch eine große Chance: angesichts der Belastungsgrenzen des Planeten wird auf Dauer vermutlich eine ganze Reihe von Stoffen und Materialien einem globalem Management durch die kollektive Menschheit unterworfen werden müssen. Der vergleichsweise einfache Fall des Kohlenstoffs kann dabei als Pionier-Diskussion genutzt werden, um die ethischen, juristischen und organisatorischen Prinzipien zu erkunden, welche dies ermöglichen. Auf diese Weise kann die Vermeidung negativer globaler Umweltentwicklungen die Herausbildung einer globalen Zivilgesellschaft mit eigenen Institutionen unterstützen. Dass diese nicht ohne eine Verständigung über Fragen der Gerechtigkeit und der Integration von unterschiedlichen Ansichten zwischen Weltkulturen auskommen, ist offensichtlich.

Verantwortung

Ein Huanaco ruft in einem von Waldbränden betroffenen Gebiet in Chile nach seiner Familie. 15.000 Hektar wurden durch Feuer zerstört. (© picture-alliance/dpa)

Verantwortung gegenüber Mitmenschen und Mitgeschöpfen entsteht vor dem Hintergrund der Vergangenheit und angesichts der Zukunft aus ethischen, moralischen oder spirituellen Grundüberzeugungen. Über verschiedenen Kulturen hinweg besteht im Anthropozän aufgrund der umfassenden Natur der Herausforderung und der wachsenden globalen Vernetzung die Notwendigkeit, auch in diesen Fragen nach Gemeinsamkeiten und damit Anknüpfungspunkten zu suchen statt historische und geographische Differenzen in den Auffassungen zu betonen.

Würde des Menschen, Würde der Natur

Weit verbreitet ist in verschiedenen Kulturen die Überzeugung, dass Mensch und nichtmenschliche Natur eine eigene Würde besitzen. Es könnte daher die These genutzt werden, dass menschliche Würde ohne eine Würde der Natur nicht denkbar ist. Die Würde der Natur (selbst natürlich ein Produkt menschlicher Weltinterpretation) äußert sich unabhängig von bestimmten philosophischen oder kulturellen Systemen in vielfältiger Weise in den Augen der Menschen: als Muster der Landschaften, als Eigenleben der Tiere, als Eigenlogik natürlicher Vorgänge – selbst in menschlich gestalteten oder überformten Landschaften. Während magische Naturauffassungen die Würde der Natur in ihrer spirituellen Eigenexistenz sehen und mythisches Weltverständnis in ihr göttliche Ordnungen gespiegelt sieht, produzieren auch rationalistische Formen der Weltbetrachtung zahlreiche Vorstellungen über das essentielle Wesen der ursprünglichen Natur. An diese kann auch in einer umgestalteten Welt des Anthropozäns immer wieder angeknüpft werden.

Wenn die Würde des Menschen ohne eine Würde der Natur nicht denkbar ist, ob im Zugriff auf ihre Ressourcen oder in respektvoller Distanz, folgen Konsequenzen für den Rang der Natur in den politischen Ordnungen: sie muss Teil dieser Ordnungen sein, ebenso wie bezüglich des Mitmenschen die soziale Gemeinsamkeit Teil dieser Ordnungen ist.

Damit nähert man sich bereits den klassischen Dimensionen der Nachhaltigkeit aus ökonomischer, sozialer und ökologischer Verantwortung, begreift aber die Naturdimension als grundlegende Voraussetzung für soziale und wirtschaftliche Entwicklung und greift aus diesem Blickwinkel die Diskussion um das Verhältnis von Umweltschutz und Entwicklung im Zuge einer Agenda der nachhaltigen Entwicklung neu auf. Für Umweltpolitik im Anthropozän bedeutet dies, von einer Politik des Umweltschutzes und der Umweltfürsorge zu einer transformativen Umweltpolitik zu kommen, also zu einer Politik, in welcher Umweltbewahrung und Umweltgestaltung Teil einer umfassenderen Agenda der gesellschaftlichen Transformation zur Nachhaltigkeit sind.

Wissenschaft im Anthropozän

Wo historische Erfahrungen keine verlässlichen Wegweiser mehr für künftige Entwicklungen sind, weil sich sowohl Umwelt als auch Gesellschaft auf geschichtlich analogieloses Neuland begeben, ist vorausschauende wissenschaftliche Analyse ein unentbehrliches Werkzeug für die ethische und politische Diskussion über verantwortliche Wege der Entwicklung. Künftige politischen Ordnungen der Welt sind daher ohne eine besondere Rolle der Wissenschaft nicht länger denkbar.

Ko-Design und Ko-Produktion von Wissen in einem Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sind dabei zentrale Begriffe. Es ist von der Möglichkeit eines neuen Gesellschaftsvertrags zwischen Wissenschaft und Gesellschaft gesprochen worden: wenn sich Wissenschaft dazu bekennt, Fragen von gesellschaftlicher Relevanz mit Priorität aufzugreifen, so erklärt sich die Gesellschaft dazu bereit, die gewonnenen Erkenntnisse stärker in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Wissenschaft soll dabei nicht nur relevanter und anwendungsbezogener werden, sondern über Wissen auch die Gesellschaft verändern, indem Wissenschaft zum Teil des gesellschaftlichen Dialogs über die Zukunft wird. Hier sind Umrisse neuer theoretischer Begründungen der Delegation gesellschaftlich wichtiger Funktionen an konstitutionell begründete Gruppen außerhalb des Bereichs der Politik und der direkten Machtausübung angelegt. Im Anthropozän wird man sich um diese Frage nicht herum winden können.

Aus rein wissensproduzierender Wissenschaft wird damit eine transformative Wissenschaft, welche selbst elementarer Bestandteil notwendiger Transformationsprozesse in der Gesellschaft ist. Dagegen ist kritisch eingewendet worden, dass die implizierte Politisierung der Wissenschaft, welche ihre Kehrseite im Regieren durch Expertenkommissionen hat, eine Entpolitisierung der eigentlichen Politik zu diesen Themenfeldern nach sich zieht). Damit nähmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Aufgaben wahr, für welche sie nicht mandatiert sind, während umgekehrt Expertenwissen die politische Willenserklärung unterminiert. Dies sind jedoch vermutlich Scheingefechte, wie ein Blick auf den ähnlichen Fall der Ingenieurswissenschaften zeigt. Sollte die Gesellschaft auf problemorientierte Expertise der Institutionen der Wissenschaft zugunsten reiner Grundlagenforschung verzichten? Wie alle Bereiche der öffentlichen Debatte gibt es hier Prozesse der wechselseitigen Beeinflussung, die der Sache positiv dienen, solange sie transparent sind.

Wissenschaft kann selbständig und exzellent sein und dennoch relevant und problemorientiert. Auch muss nicht das gesamte Wissenschaftssystem der transformativen Wissenschaft zugeordnet werden. Jedoch braucht eine solche Positionierung der Wissenschaft auch neue politikwissenschaftliche Begründungen, welche ihrerseits auf philosophische und ethische Grundpositionen zur Stellung des Menschen in den Ordnungen der Welt rekurrieren.

Vor allem aber verpflichtet Wissen die Wissensträger zu Verantwortung, und dies angesichts der Dringlichkeit der Weltveränderungen im Anthropozän ganz besonders. Die Lage ist mit jener der Atomphysiker/innen und der Genetiker/innen zu vergleichen: Wissen ist auf diesen Feldern nicht mehr neutral, sondern muss im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext immer wieder neu verantwortet und gelebt werden. In dieser Verantwortung stellen sich ethische und politische Fragen, die diskursiv ebenso wie individuell gelöst werden müssen und unter den Bedingungen der jeweiligen staatlichen Verfasstheit ihre systemische Legitimation erhalten müssen.

Bewahren und Gestalten

Bewahren und Gestalten sind zwei Pole, welche in der Debatte um Nachhaltigkeit im Anthropozän immer wieder umstritten sind. Sind die Begriffe „Anthropozän“ und „Nachhaltigkeit“ sogar als einander gegensätzlich anzusehen, weil der erste eher gestaltete Veränderung, der zweite bewahrende Kontinuität betont? Ist das gestaltete Anthropozän ein Zeichen von zum Scheitern verurteilter menschlicher Hybris oder einer neuen zivilisatorischen Epoche? Ist eine die Natur bewahrende, respektierende Nachhaltigkeit angesichts der vorherrschenden Dynamik überhaupt möglich? Zu diesen Fragen gibt es derzeit sehr kontroverse Positionen. Was die einen Zukunftsoptimismus nennen, nennen andere Gefährdung der gesellschaftlichen Lebensgrundlagen. Auf welchem Wege Zukunftsfähigkeit, und damit Nachhaltigkeit liegen, ist unentschieden. Sicher sind nur jene Erkenntnisse der Wissenschaft, welche von der Unumkehrbarkeit wichtiger planetarer Entwicklungen zeugen. Sicher ist gleichzeitig, dass die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit menschlicher Gesellschaften, insbesondere komplex strukturierter Zivilisationen, begrenzt ist.

Beispielhaft zeigen sich verschiedene Ansätze in Positionen der katholischen und protestantischen Kirchen. In sich ebenfalls uneinheitlich und nicht auf einfache Standpunkte reduzierbar, neigt katholische Weltinterpretation eher dazu, auf eine Korrektur menschlicher Irrwege auch im Umgang mit der Umwelt zu setzen und darin die Voraussetzung auch für einen Fortschritt in den menschlichen Verhältnissen zu sehen. Eine erneuerte Harmonie zwischen Menschheit und Natur wird auf der Basis einer gestärkten sozialen Ökologie für möglich erachtet. Protestantische Weltauffassung dagegen ist sich weniger sicher, ob Dissonanzen und Widersprüche in der Entwicklung der Zeit auflösbar sind. Das Handeln wird zwar von Verheißungen eines denkbaren Friedens geleitet, ist in der konkreten Wirklichkeit aber den Entscheidungen und Diskursen des Menschen anheimgestellt. Damit taucht in beiden Fällen der Topos der Verantwortung erneut auf, aus welcher die Menschen nicht entlassen werden und die sich jeweils in einer Verbindung aus Umkehr und Zuversicht ausdrückt.

Freiheit

Der italienische Pianist Ludovico Einaudi spielt ein selbst komponiertes Stück, während riesige Eisbrocken ins Meer brechen. Die Umweltorganisation Greenpeace will mit der Aktion auf einen stärkeren Schutz der Arktis aufmerksam machen. (© picture-alliance/AP)

Das Anthropozän ist als Phänomen koevolutionär aus Erd-, Menschheits- und Zivilisationsgeschichte hervorgegangen. Aus dem Substrat der Biologie ist eine auf viele Einzelindividuen und Gruppen verteilte, aber vernetzte mentale Welt entstanden, welche sich in sozialen, materiellen und technologischen Makrostrukturen ausdrückt. Deren Dynamiken mit ihren planetaren Makrotrends sind es, welche das Anthropozän zu einem geologischen und gesellschaftlichen Phänomen werden ließen. Aber welchen Einfluss haben wir Menschen, einzeln und kollektiv, auf diese Entwicklung? In welchem Ausmaß können wir als reflexive, eine Zukunft antizipierende Wesen den Gang der weiteren Entwicklungen durch Entscheidungen beeinflussen? Sind wir längst Gefangene der Binnenlogik der von uns geschaffenen technologischen und institutionellen Systeme oder steuern wir diese noch?

Einerseits begegnet man oft der Ansicht, dass es vor allem auf das Wollen der Menschen ankomme: wo Einsicht, Wissen und Willen zum Handeln herrschen, dort sei möglich, was machbar ist und daher die Zukunft eine Frage der Wahl. In demokratischen Wahlen wird regelmäßig kollektive Willensbildung abgefragt und in Politik umgesetzt. Jedoch sind die Erfahrungen realer Ohnmacht in den komplexen Systemen der Moderne ebenso weit verbreitet. Seien es die Mechaniken des Finanzmarktes, die Notwendigkeiten der materiellen Versorgung gesellschaftlicher Einrichtungen oder die Zwänge bürokratischer Verwaltungsstaaten, oft erscheint unklar, auf welche Weise und in welchem Ausmaß diese, einmal geschaffen, beherrschbar sind. In welchem Verhältnis stehen solche sozialen Makrosysteme zu den Individuen?

Solche Fragen stellen sich auch für die technischen Systeme, welche die Menschheit geschaffen hat. Deren ökonomische Steuerbarkeit wird oft behauptet, aber wo findet diese ihre Grenzen? Verschiedentlich wurde die These aufgestellt, dass technologischen Makrosystemen physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten eigen sind, welche den Einfluss des Menschen auf ihre Entwicklung aus naturgesetzlichen Gründen erheblich begrenzen. Einerseits wird argumentiert, dass die unumgängliche Aufrechterhaltung thermodynamischer Gefälle in technischen Systemen deren makroskalige Eigenschaften nur eingeschränkt modifizierbar macht. Andererseits habe eine Skalenentkopplung zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene stattgefunden: der Einzelne kann zwar Teil der Verursachung technischer und sozialer Makrosysteme sein, es ist aber nicht offensichtlich, dass er nachfolgend deren Eigenlogik erheblich beeinflussen oder steuern kann. Dafür wurde der Begriff der Technosphäre geprägt, die eigenen Gesetzen folge und sich damit nicht nur von Geosphäre und Biosphäre, sondern zunehmend auch von der Anthroposphäre abhebe.

Es bedaf in Zukunft einer Analyse der Vernetztheit der Menschheit und ihrer Systeme untereinander und der dynamischen Komplexität, welche solche Systeme aufweisen können. Erst dann wird ein Bild davon entstehen, welche Freiheiten die Menschheit angesichts der entstandenen Makrostrukturen noch hat und wo diese ihre Grenzen in den Eigenlogiken der neuen Systeme findet.

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt der Debatte um Freiheiten im Anthropozän, welcher zurück zu den mentalen und kulturellen Wurzeln des Phänomens Mensch führt. Der Mensch ist wie alle Primaten mit hoher sozialer Intelligenz ausgestattet und permanent in Prozessen der Konstruktion der eigenen Identität begriffen. Zusätzlich ist er technologisch begabt und vermag es, umweltliches und materielles Wissen mit sozialem Wissen zu verbinden. Daher finden Vorstellungen vom Selbst beim Menschen Ausdruck nicht nur in sozialen Beziehungen sondern auch in materieller Kultur. Mentale und materielle Fragen sind eng miteinander verknüpft und daher heute, im Zeitalter weltweiter Wirkungen, so brisant. Materielle und mentale Konsequenzen der Auseinandersetzung mit dem Anthropozän stehen daher im Zentrum der Risiken, aber auch der Chancen des Anthropozän. Ihr Urgrund aber sind Selbstbilder des Menschen von sich.

Darin liegt der Grund, warum im Anthropozän analytische Systemwissenschaft mit kultureller Weltdeutung in Resonanz treten muss, so dass sie gemeinsam verändernd wirken. Hierfür könnte man den Begriff „neue Kosmologien“ wählen: Deutungssysteme für die Welt, welche nicht im Widerspruch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der Zeit stehen. Diese Deutungssysteme wachsen auf dem Substrat der bestehenden Kulturen. Allen aber ist gemeinsam, dass sie im Kern die Frage reflektieren: Was fangen wir Menschen mit unserer Freiheit an? Welchen Ort haben wir in den Ordnungen der Welt?

Ob und wie die Menschheit mit dem Anthropozän umgehen kann, ist daher nicht alleine eine Frage der materiellen Techniken der Menschheit und ihrer Umweltauswirkungen als vielmehr auch eine Frage dieser kulturellen Selbstverhandlung, der Verständigung zwischen Weltauffassungen und Weltdeutungen auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse, und einer Neuformulierung der kulturellen Antworten auf Wissen im Lichte der Herausforderungen. Darin liegt eine Chance – die Geschichte bleibt nicht stehen.

Ordnungen des Anthropozän

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in den neuen Ordnungen des Anthropozäns das Sozial-Kulturelle politisch eng mit dem Ökologisch-Naturräumlichen der erdsystemaren Eigendynamik verbunden werden müsste, wenn ein nachhaltiges Anthropozän das Ziel ist. Um dorthin zu gelangen, ist eine transformativ aufgefasste Umwelt- und Sozialpolitik erforderlich, welche einerseits die vorhandenen, sich fortlaufend weiterentwickelnden Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Gesellschaft mit den Möglichkeiten wissenschaftlicher Analyse im Auge behält, andererseits aber erkennt, dass die entscheidende transformative Kraft aus den ethischen und philosophischen Selbstverhandlungen der Menschen über sich selbst und ihre Zukunft entsteht.

Wissenschaftlich gesehen führte der systemanalytische Beitrag zum Durchdenken des Anthropozäns zum Konzept der Planetaren Belastungsgrenzen: Es geht dabei um normative Systemgrenzen, welche einen holozänartigen Zustand des Erdsystems beschreiben, jenseits welchem das Risiko unbeherrschbarer Folgen der Veränderungen unverantwortlich groß ist. Kulturell gesehen sind die Mindeststandards des Anspruchs des Menschen auf eine humanitär verantwortbare Lebenssituation, auf ein „gutes Leben“, derzeit in den Nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen zum Ausdruck gebracht worden.

Grundlegend sind dabei Narrative von uns selbst und der Welt, welche uns auch im Anthropozän den Ort der Menschheit in den Ordnungen der Welt erneut bestimmen und durchdenken lassen. Da durch ihren materiellen Ausdruck die mentale Existenz der Menschen in die physische Welt eingebunden ist, wird jede Anpassung, Transformation oder Revolution hin zu einem humanitär tolerablen statt miserablen Anthropozän von diesen Prozessen der Selbstbestimmung abhängen. Nur so lassen sich möglicherweise auch Eigenlogiken technischer oder institutioneller Prozesse durchbrechen. Das Anthropozän entsteht aus den Möglichkeiten des Menschen und wirkt sich letztendlich wieder bei ihm aus. Beeinflusst werden kann es vor allem durch seine Fähigkeiten zur Selbstdefinition. Hier sind die Möglichkeiten unendlich viel größer, als in Anbetracht tagtäglicher Handlungszwänge gern angenommen wird.

Der Urgrund des Anthropozäns ist damit kein geologischer, sondern ein philosophisch-ethischer. Wer sind wir? Wer wollen wir sein? Was fangen wir mit unserer Freiheit an? Diese Fragen, auf welche in Zeiten neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse über das Wesen des Planeten, des Menschen und der Mechanismen unserer Zeitepoche nur kosmologisch geantwortet werden kann, stehen im Zentrum der Herausforderungen eines diversen, die Zivilisationen der Erde kollektiv herausfordernden Anthropozäns. Eines ist sicher: die Zukunft wird nicht ein Abbild der Vergangenheit sein, aber ist ohne ein Bewahren essentieller Grundfunktionen des Planeten kaum vorstellbar.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. vgl. Crutzen, 2002; Waters et al., 2016

  2. vgl. Costanza et al., 2007; Steffen et al., 2007, 2015

  3. vgl. Mengel und Levermann, 2014; Levermann und Feldmann, 2015

  4. vgl. Winkelmann et al., 2015

  5. vgl. Robinson et al., 2012

  6. vgl. Ganopolski et al., 2016

  7. vgl. Lenton et al., 2008

  8. vgl. Rahmstorf et al., 2015

  9. vgl. Petoukhov et al., 2013

  10. vgl. Ostberg et al., 2015

  11. vgl. Ellis, 2015

  12. vgl. IPCC, 2013

  13. vgl. Griggs et al., 2013; Gescher 2015 (Griggs et al. etabliert das Fundamentale des Ökologischen im Nachhaltigkeits-Dreieck im Vorfeld des SDG-Diskussion, Gescher diskutiert Fragen von Weltordnung, auch der Rolle der Natur in diesen Ordnungen, für die chinesische Geschichte mit dem Postulat, dass aus dieser chinesischen Kulturdebatte der Westen viel über Zukunftsfragen lernen könne.)

  14. vgl. Jacob et al., 2015

  15. vgl. Future Earth, 2014

  16. vgl. WBGU 2011

  17. vgl. Strohschneider, 2014

  18. vgl. Grunwald, 2015

  19. vgl. Jahn et al., 2015; Görg, 2016

  20. vgl. Papst Franziskus, 2015

  21. vgl. Jähnichen et al., 2016

  22. vgl. Elder-Vass, 2010; Geels, 2010

  23. vgl. Garrett, 2014; Jarvis et al., 2015

  24. vgl. Haff, 2013

  25. vgl. Heitzig et al., 2016

  26. vgl. Fischer-Kowalski und Weisz, 1999

  27. vgl. Schellnhuber, 1998

  28. Rockström et al., 2009; Steffen et al., 2015

  29. vgl. Raworth, 2012

Weitere Inhalte

Wolfgang Lucht ist Erdsystemwissenschaftler und Nachhaltigkeitsfoscher mit Interesse an systemischen und strategischen Fragen. Er ist Ko-Leiter der Abteilung "Erdsystemanalyse" am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und bekleidet die Professur "Alexander von Humboldt Chair in Sustainability Science" am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2016 ist er Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung. Er ist Mitglied des Deutschen Komitee für Future Earth der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ko- und Leitautor der Berichte des UN-Weltklimarates und zahlreicher wissenschaftlicher Fachveröffentlichungen. Ursprünglich als Physiker ausgebildet und später in den USA für die NASA in der Umweltbeobachtung aus dem Weltraum tätig, sind die Schwerpunkte seiner Arbeit heute unter anderem die Biosphäre, Landnutzung, Klimawandel und Strategien der Zukunftsfähigkeit im nationalen und internationalen Kontext.