Die historische Zäsur des Arabischen Frühlings
Mitte Dezember 2010 verbrennt sich ein junger Tunesier, weil er keine Lebensperspektive mehr für sich sah. Kurz darauf begann in einem der repressivsten arabischen Länder ein Aufstand, der weite Kreise zog. Muriel Asseburg mit einer Einführung.Über Jahrzehnte galten der Nahe/Mittlere Osten und Nordafrika als Konfliktregion und die arabischen Regime als autoritär und korrupt. Zugleich zeigten sich diese Regime aber als überwiegend stabil und anpassungsfähig. Symbolisiert wurde diese vermeintliche Stabilität durch Herrscher, die seit 20, 30 oder gar 40 Jahren an der Macht waren, wie Präsident Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien, Präsident Hosni Mubarak in Ägypten oder Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi in Libyen. Zudem war das Bild der arabischen Welt geprägt von dynastischen Erbfolgen. Diese wurde nicht nur in den Monarchien der Region praktiziert – etwa in Marokko, Jordanien und Saudi-Arabien –, sondern auch im Präsidialsystem Syriens im Jahr 2000. Gerüchte über eine bevorstehende innerfamiliäre Machtübergabe (konkrete Hinweise darauf) gab es auch in Ägypten, Libyen und im Jemen.
Der Funke der Revolte
Dieses Bild begann sich schlagartig zu verändern, als Mitte Dezember 2010 in Tunesien, einem der repressivsten arabischen Staaten, die Verkrustung aufbrach. Im zentral-tunesischen Sidi Bouzid verbrannte sich der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, weil er keine Lebensperspektive mehr für sich sah. Seinem Fanal folgten Massenproteste, die von der Jugend der Mittelschicht initiiert und von breiten Teilen der Zivilgesellschaft mitgetragen wurden, vor allem von Gewerkschaften und Berufsvereinigungen. Tunesiens Regime versuchte, die Proteste mit massiver Gewalt niederzuschlagen. Doch als sich führende Militärs weigerten, bei der blutigen Unterdrückung mitzuwirken und sich auf Seite der Demonstrierenden stellten, brach die Diktatur erstaunlich schnell zusammen. Ben Ali floh Mitte Januar 2011 aus dem Land.Der rasche Erfolg der Revolten – zunächst in Tunesien, dann in Ägypten, wo sich Präsident Mubarak einen knappen Monat später gezwungen sah zurückzutreten – ermutigte junge Menschen in nahezu allen arabischen Ländern, den Unmut über ihre Lebensbedingungen auf die Straße zu tragen und nicht länger vor der staatlichen Repression zurückzuschrecken. Im Laufe des Jahres 2011 kam es so vor dem Hintergrund vergleichbarer Missstände in fast allen arabischen Ländern zu Protesten und Massendemonstrationen. Selbst außerhalb der arabischen Welt, etwa in China oder im Iran, fanden die Protestierenden Nachahmer bzw. stieß ihr Vorbild dort erneute Demonstrationen an.
Vor allem elektronische Medien, Mobiltelefone und soziale (Online-)Netzwerke befördern und verstärken die Proteste und tragen sie über Landesgrenzen hinweg. Dabei ist insbesondere der katarische Satellitensender Al Jazeera bedeutend. Eine wichtige Funktion haben auch mit Handy-Kameras aufgenommene Bilder – sie sorgen dafür, dass die Proteste an der Zensur vorbei dokumentiert und über Satellitensender oder Internet in die Wohnzimmer der Region und der Welt getragen werden.
Ein Leben in Würde
Auch wenn die konkreten Forderungen von Land zu Land variieren, haben die Proteste in den arabischen Ländern doch eines gemein: Stets verbinden sie soziale, wirtschaftliche und politische Anliegen. Fortschritte in allen drei Bereichen werden als unabdingbar angesehen, damit "ein Leben in Würde" möglich ist.In erster Linie geht es den Protestierenden um bessere Lebensbedingungen und mehr Teilhabe an Wachstum und Entwicklung. Denn obwohl die arabischen Volkswirtschaften in den letzten Jahren mit wenigen Ausnahmen fast durchweg moderate oder sogar hohe Wachstumsraten verzeichnen konnten, ist es ihnen nicht gelungen, ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Dabei stehen alle Staaten vor der Herausforderung, ihre nach wie vor schnell wachsende, junge Bevölkerung in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Schon die Arab Human Development Reports 2002–2009 wiesen darauf hin, dass es in den meisten Staaten der Region nicht gelungen ist, soziale Ungleichheit abzubauen und die menschliche Entwicklung entscheidend voranzubringen. So gibt es nach wie vor arabische Staaten mit erschreckend hoher Armut, niedrigen Alphabetisierungsraten und einem geringen Bildungsniveau. Verschärft hat sich die Situation während der letzten Jahre vor allem in den Staaten, die von Nahrungsmittelimporten abhängen.

Zwar wurden in vielen arabischen Ländern während der vergangenen Jahrzehnte politische Reformen durchgeführt. Allerdings sind dabei keine repräsentativen, freien oder inklusiven politischen Systeme entstanden. So stufte etwa das amerikanische Freedom House Anfang 2011 von den Staaten der Arabischen Liga nur die Komoren, Kuwait, Libanon und Marokko als "teilweise frei" ein, alle anderen fielen in die Kategorie "nicht frei". Im globalen Vergleich schnitt diese Region insgesamt am schlechtesten ab, was den Status politischer Rechte und bürgerlicher Freiheiten betrifft. Manipulierte und gefälschte Wahlen, wie in Jordanien oder Ägypten im Spätherbst 2010, trugen dazu bei, Parlamente und Abstimmungsverfahren in den Augen der Bevölkerungen weiter zu diskreditieren. Brisant war dies auch deshalb, weil in vielen Gesellschaften der Region zunehmend die Wahrnehmung vorherrschte, die bestehende Ordnung werde nicht – im Sinne eines autoritären Entwicklungsstaates – zum Wohl der breiten Masse aufrechterhalten, sondern diene vor allem der Bereicherung einer korrupten Elite. Letztlich hatten viele die Hoffnung aufgegeben, dass ein Wandel durch politische Beteiligung innerhalb der bestehenden autoritären Ordnungen, etwa durch Wahlen, möglich sei.
Je nach Landeskontext ergeben sich daraus unterschiedliche konkrete Forderungen. Dabei reicht das Spektrum von einem Ende ethnischer oder konfessionell begründeter Diskriminierung in den Vielvölkerstaaten der Region über die Erweiterung parlamentarischer Mitspracherechte bzw. einer konstitutionellen Beschränkung von Monarchien bis hin zur vollständigen Beseitigung der Regime durch einen fundamentalen Umsturz der politischen Ordnung. Als Muster zeigte sich schnell, dass sich die Forderungen der Protestierenden immer dann radikalisierten, wenn die Regime mit Gewalt – etwa mit Scharfschützen – gegen Demonstranten vorgingen.