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Soziale Bewegungen in Lateinamerika | Lateinamerika | bpb.de

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Soziale Bewegungen in Lateinamerika

Martina Kaller-Dietrich David Mayer Martina Kaller-Dietrich und David Mayer

/ 13 Minuten zu lesen

Es begann mit indigenen Erhebungen gegen die spanische Kolonialmacht, es folgten die Unabhängigkeitsrevolutionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Später kamen Bauernerhebungen hinzu. Die sozialen Bewegungen in Lateinamerika können auf eine lange Tradition verweisen. Heute kämpfen Gewerkschaften für mehr Arbeiterrechte, Frauen für ihre Gleichstellung und Aktivisten für Aufklärung über frühere Menschenrechtsverletzungen.

Tausende von Plantagenarbeitern protestieren im November 2002 gegen den jahrelangen Einsatz des Pestizids Nemagon und für Entschädigung durch den amerikanischen Hersteller. Nach Angaben der Demonstranten sind mehrere hundert Arbeiter durch den Einsatz des Pestizids ums Leben gekommen, vor allem treten Krebs, Unfruchtbarkeit und Mißbildungen bei Neugeborenen als Folge des Einsatzes auf. (© AP)

Soziale Bewegungen gibt es in Lateinamerika seit der Kolonisierung: Indigene Erhebungen gegen die spanische Kolonialmacht, Sklavenaufstände, die Unabhängigkeits-
revolutionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, regionale Revolten und Bauernerhebungen im 19. und 20. Jahrhundert, Mobilisierungen um und für regionale Caudillos – dies sind nur einige Beispiele für das Auftreten der "geschichtslosen" Mehrheit der lateinamerikanischen Bevölkerung. Im 20. Jahrhundert spiegelte sich die Dynamik sozialer Bewegungen in verschiedensten Phänomenen wider: Gewerkschaften und Arbeiterparteien, in nationalistisch-populistischen Bewegungen, in Land- und Stadt-Guerillas und in Studentenbewegungen. Die Indígena-, die Frauenbewegungen und die Menschenrechtsaktivitäten, die sich seit den 1990er-Jahren ihren Platz in der politischen Öffentlichkeit erkämpft haben, gehören zu den so genannten Neuen Sozialen Bewegungen.

Definitionen

Verschiedenste Kriterien für den Versuch einer Analyse von sozialen Bewegungen und für den Vergleich zwischen ihnen können herangezogen werden. Solche Vergleichskriterien ändern nichts an der Tatsache, dass es sich bei der Annäherung an soziale Bewegungen immer um eine standortgebundene, nicht neutrale Interpretation handelt. Gerade bei den sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts müssen die politischen Haltungen des Betrachters berücksichtigt werden. Lateinamerika ist zudem eine Region, in der das Engagement in sozialen Bewegungen ein enormes persönliches Risiko – Verfolgung, Folter und nicht selten den Tod – mit sich bringen kann. Die Geschichte der sozialen Bewegungen in Lateinamerika muss daher auch als Geschichte von unten geschrieben werden. Dabei stehen die kämpfenden Menschen, ihre Wahrnehmung und ihre Motive im Vordergrund.

Revolutionen in Lateinamerika als Auslöser, Ausdruck und Folge von sozialen Bewegungen

Mexikanische Revolution (von 1910 bis 1917)

Die Mexikanische Revolution war – nach den Ereignissen in Russland 1905 - die zweite große Revolution seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihre Charakterisierung fällt in der Literatur unterschiedlich aus. Welche Perspektive man auch wählen mag, entscheidend für Heftigkeit, Verlauf und Länge dieser Revolution ist die Mobilisierung vor allem der bäuerlichen Massen und ihr Eingreifen in das politische Geschehen. Diese Mobilisierung ist nur vor dem Hintergrund der sozialen Gärung zu verstehen, welche das Regime vor der Mexikanischen Revolution – das nach dem Diktator Porfirio Díaz benannte Porfiriat (1876–1910) – mit sich brachte. Die für den Ausbruch der Revolution wichtigste Dynamik war die enorme Landkonzentration während des Porfiriats. Die Ausdehnung des Hazienda-Besitzes ließ die liberale Gesetzgebung von 1857 vollständig wirksam werden. Die enorme Bodenkonzentration für die exportorientierte Agrarproduktion (Zucker, Kaffee, Sisal) vollzog sich auf Kosten der indianischen Dorfgemeinden im Süden und der bäuerlichen Kleinbesitzer im Norden.

1910 kam es zu einem Staatsstreich der Anhänger von Porfirio Díaz. Gegen diesen Putsch erhob sich spontan eine Volksbewegung. Im Norden sammelte sich diese um Pancho Villa und Pascual Orozco, im Süden bildeten sich Revolutionsarmeen um Emiliano Zapata. Diese Bewegungen verbanden sich mit Oppositionszirkeln, die sich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb der vorhandenen Eliten herausgebildet hatten. Dies gilt insbesondere für die 1902 gegründete Liberale Partei der Brüder Flores Magón. Von anarchistischen Vorstellungen beeinflusst, spielten sie eine wichtige Rolle bei den Streiks in der Textil- und Bergbauindustrie im Norden Mexikos (1906/1907). Ab 1910 entwickelte sich um den liberalen Großgrundbesitzer Francisco Madero ein weiterer Oppositionszirkel, der sich gegen die Wiederwahl Porfirio Díaz einsetzte.

Einige der typischen Komponenten eines revolutionären Zyklus finden sich auch in der Mexikanischen Revolution wieder: die treibende Kraft sozialer Bewegungen (Volksbewegung); die mehrfachen Wechsel in der politischen Hegemonie bei den führenden Kräften (von gemäßigten hin zu konsequenteren Kräften); die Abfolge von Revolution und Konterrevolution und die radikalisierende Rolle der Konterrevolution; das anfängliche Bündnis sozial heterogener Kräfte; das Auseinanderfallen des Bündnisses von agrarrevolutionären Bauern und bürgerlich-liberaler Führung; die Herausbildung von Formen der Doppelmacht; die Durchsetzung eines bestimmten Flügels und damit die Entscheidung über den Ausgang der Revolution.

Die Geschichte sozialer Bewegungen ist auch die Geschichte von Niederlagen und nicht wahrgenommenen Chancen. Einer dieser Momente ist die Eroberung Mexiko Citys durch Emiliano Zapata und Pancho Villa im Dezember 1914. Aus der Perspektive der sozialen Bewegungen ist dies der eigentliche Höhe- und Kulminationspunkt der Mexikanischen Revolution. Beim Konvent von Aguascalientes (Oktober 1914) war es zum politischen Bruch zwischen dem bürgerlich-liberalen Venustiano Carranza auf der einen Seite sowie Zapata und Villa auf der anderen Seite gekommen. Den wichtigsten Grund dafür stellten die unterschiedlichen Auffassungen zur Agrarfrage dar. Der darauf folgende Einzug von Zapata und Villa in Mexiko City eröffnete eine kurze Phase der Doppelmacht. Die Agrarrevolutionäre verfügten jedoch über kein systematisches Programm, keine Strategie und vermochten kein Bündnis mit der Arbeiterbewegung zu schmieden. Das Gesetz des Handelns fiel an Carranza zurück. So kann man mit dem mexikanischen Historiker Adolfo Gilly die Mexikanische Revolution daher als revolución interrumpida, als unterbrochene Revolution bezeichnen.

Kubanische Revolution (1959)

Mit der Interner Link: Kubanischen Revolution ging die am tiefsten greifende politische und soziale Transformation in der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte einher. Im engeren Sinne ist diese Revolution auch ein Produkt sozialer Bewegungen. Dass eine relativ kleine Gruppe bewaffneter Männer und Frauen die Macht übernehmen und die Gesellschaftsstruktur so intensiv verändern konnte, wäre ohne die Dynamik und den Druck sozialer Mobilisierung nicht denkbar gewesen.

Die Kubanische Revolution übte auch einen großen Einfluss auf andere soziale Bewegungen in Lateinamerika aus: Die propagandistische Selbstdarstellung der Revolution als Bauern- und Guerillaumwälzung bestimmte die Vorstellungen einer ganzen Generation über das "Wie" gesellschaftlicher Veränderungen. Eine lange Welle von Guerillabewegungen war die direkte Folge der Kubanischen Revolution.

Als die kubanische Guerillaarmee um Fidel Castro Anfang Januar 1959 triumphierte, wurde zunächst eine "humanistische Revolution" ausgerufen, die das bestehende sozioökonomische System nicht in Frage stellte und anfänglich sogar Wohlwollen in den USA fand. Die Ursache der Radikalisierung des revolutionären Prozesses in Kuba bis hin zur offiziellen Ausrufung einer sozialistischen Revolution im Frühjahr 1961 ist einerseits im Widerstand der kubanischen besitzenden Eliten und der USA gegen die Umsetzung der Reformversprechen (Agrarreform, Umverteilung etc.) zu finden, andererseits lag es ebenfalls an der Dynamik von sozialen Bewegungen: Streiks, Landbesetzungen und Demonstrationen versetzten den Inselstaat bis Ende er 1960er-Jahre in allgemeine soziale Unrast.

In Wechselwirkung damit stand die neue Revolutionselite um Fidel Castro, die ab Beginn der Sechzigerjahre schrittweise versuchte, ihre Position zu stabilisieren und über die Gesellschaft eine staatlich-bürokratische Kontrollmacht zu etablieren: Das Castro-Regime brauchte eine verlässliche soziale Basis, trachtete jedoch gleichzeitig danach, deren Autonomie einzuschränken. Wichtige Schritte auf diesem Weg waren die Vereinigung mit der Partido Socialista Popular (=PSP), der Kommunistischen Partei sowie die danach erlange Kontrolle über die Gewerkschaften. Während die 1960er-Jahre noch von einer Dynamik aus "Mobilisierung – Bürokratisierung – Institutionalisierung" geprägt waren, hatte sich die kubanische Gesellschaft Mitte der 1970er-Jahre in hohem Ausmaß "sowjetisiert".

Mythos Guerilla – Che Guevara und die Fokus-Theorie

Die Guerilla wurde zum Gründungsmythos des neuen Kuba. Guerillaanzüge, der Topos des Kampfes und des Opfers wurden identitätsstiftende Grundlagen der politischen Kultur des Landes. Politisch-ideologisch wurde die Ausrichtung auf Guerillakampf in den Schriften des Argentiniers Ernesto "Che" Guevara de la Serna (1926–1967) dargelegt. Die zentralen Thesen des Partisanenkrieges bzw. die Fokustheorie von Che Guevara besagen Folgendes:

  1. Die Kräfte des Volkes können einen Krieg gegen eine reguläre Armee gewinnen.

  2. Nicht immer muss man warten, bis alle Bedingungen für eine Revolution gegeben sind, der aufständische Fokus kann solche Bedingungen selbst schaffen.

  3. Im unterentwickelten Amerika müssen Schauplatz des bewaffneten Kampfes grundsätzlich die ländlichen Gebiete sein.

Das persönliche Scheitern Che Guevaras in Bolivien 1967 markiert auch das Scheitern der Fokustheorie im engeren Sinne. Die Guerilla als Instrument sowohl zur Selbstverteidigung als auch zur Gesellschaftsveränderung blieb jedoch eine wichtige Dimension der sozialen Bewegungen Lateinamerikas – das illustriert die zweite Welle von Guerillabewegungen in den 1980er-Jahren.

Soziale Bewegungen in Lateinamerika (1970-1989)

Chile. Nach dem Scheitern der ersten Welle von Guerilla-Bewegungen, die mit dem Fokus-Konzept den kubanischen Erfolg zu wiederholen trachteten, bildete der chilenische Weg eine neue Hoffnung für die lateinamerikanische Linke. Salvador Allende (1908–1973) versprach eine gesellschaftliche Transformation auf parlamentarischem und friedlichem Wege. Allende kann als traditioneller Sozialist bezeichnet werden: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel war für ihn das Kriterium für die Etablierung einer neuen Gesellschaftsordnung. Der Staatsapparat sollte zur Einführung des Sozialismus und damit zu seiner eigenen Überwindung benutzt werden. Allende vertraute in die Nicht-Intervention von Armee und Polizei in politische Belange. Das chilenische Experiment eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus konnte auch die – durch das sektiererische Auftreten der Guerillas aufgerissenen – Gräben innerhalb der sozialen Bewegungen in Lateinamerika wieder überbrücken.

Nach Allendes Amtsantritt im November 1970 entsprach die Geschwindigkeit der Sozialreformen (Pensions-, Einkommens- und Steuererhöhungen für hohe und höchste Einkommen, Schulmilch) der Radikalisierung und Mobilisierung der sozialen Bewegungen. Sie stellten das treibende Moment in der rasanten Entwicklung dar. Es kam zu ausgedehnten Land- und zu spontanen Fabrikbesetzungen, gleichzeitig polarisierte sich die gesamtgesellschaftliche Lage zusehends. Am 11. September 1973 putschte die Armee unter Augusto Pinochet. Allende starb während dieser Aktion, über Chile und die sozialen Bewegungen fiel eine beispiellose Repressionswelle herein. Interner Link: Pinochets Regime dauerte bis 1990 und wurde zu einem Prototyp des lateinamerikanischen Staatsterrorismus in den 1970er-Jahren: Verfolgung, Folter und das Verschwindenlassen von Tausenden (desaparecidos). Darüber hinaus verwandelte Pinochet Chile wirtschaftspolitisch in ein neoliberales Laboratorium.

Nicaragua

Die Interner Link: Sandinistische Revolution 1979 verkörperte einen neuen Hoffnungs- und Referenzpunkt. Regional fungierte sie als Leitrevolution: Zentralamerika war durch die 1980er-Jahre hindurch einer der größten regionalen Konfliktherde der Welt. Die Interventionspolitik der USA erreichte im Kampf gegen die Guerilla- und Volksbewegungen einen neuen Höhepunkt. In ihrem Gefolge entstand eine zweite Welle wesentlich breiterer Guerilla-Bewegungen in Zentralamerika. Die nicaraguanische Revolution zeigte, dass neben den traditionellen Akteuren in den sozialen Bewegungen auch neue Bewegungen eine wichtige Rolle in Lateinamerika spielten: Das galt sowohl für christliche Basisbewegungen als auch für Genossenschafts-, Frauen- und Indígena-Bewegungen. Damit trugen die Sandinisten bereits einige Merkmale der Neuen Sozialen Bewegungen, die sich wesentlich aus der Selbstorganisation oft unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte entwickelt hatten.

Die Frente Sandinista de Liberación Nacional (=FSLN) war zu Beginn der 1960er-Jahre als Versuch, die Fokus-Theorie umzusetzen, entstanden. Ab Ende der 1960er-Jahre zeichnete sich eine Änderung des Vorgehens der FSLN ab, indem sie begann, ein städtisches Untergrundnetzwerk (vor allem in den Slums) aufzubauen. Zugleich erlangte sie eine tatsächliche Verankerung in der Bauernschaft.

Im Kampf gegen die Diktatur der Somozas war der Volksbewegung und den städtischen Aufständen und Streiks entscheidendes Gewicht zugekommen. Dies hinterließ während der 1980er-Jahre in der politischen Kultur Nicaraguas ein spezifisches Erbe: Obwohl die aus der Interner Link: Revolution entstandenen Massenorganisationen und sozialen Bewegungen der sandinistischen Führung verpflichtet blieben, vermochten sie ein gewisses autonomes Eigengewicht zu behalten. Entlang der Stadtteile strukturiert kam es zur politischen Mobilisierung, Mitbestimmung und Selbsthilfe. Auch im politischen Diskurs spielte der Begriff Partizipation eine wichtige Rolle.

Außenpolitisch befand sich Nicaragua in einer prekären Lage. Die USA unter Präsident Ronald Reagan zwangen den Sandinisten einen blutigen Bürgerkrieg auf, indem sie die Contras mit hohen Summen unterstützten. Gegen die von den Sandinisten beflügelte zweiten Welle von Guerilla-Bewegungen in Lateinamerika verfolgte die USA insbesondere in Zentralamerika die Strategie der low intensity warfare. Diese machte die politischere Ausrichtung der Guerillagruppen in dieser Region (also die Orientierung auf soziale Bewegungen) indirekt zunichte: Sie zog die gesamte Gesellschaft in einen Strudel der Gewalt und ließ die politischen Beweggründe der Auseinandersetzung unkenntlich werden.

Neue Soziale Bewegungen in Lateinamerika

Die Geschichte der sozialen Bewegungen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert lässt sich zu keinem Zeitpunkt auf die großen Revolutionen, auf korporativistische oder klassenkämpferische Gewerkschaften, auf populistische, stalinistische oder revolutionäre Parteien sowie auf Guerillabewegungen reduzieren. Es waren immer wieder auch unorganisierte, oft spontane Volksbewegungen, welche in gesellschaftlichen Radikalisierungsphasen und in den revolutionären Situationen den Rhythmus der Ereignisse vorgegeben hatten. In den 1980er-Jahren wurden "neue" Akteure in den sozialen Bewegungen sichtbar: lokale Campesino- und Genossenschaftsbewegungen, Frauengruppierungen, Menschenrechts-, Indígena-Organisationen, Stadtteilbewegungen, christliche Basisgemeinden, Umweltschutzgruppen sowie autonome Gewerkschaften. Der Aufschwung dieser Neuen Sozialen Bewegungen ist ein empirisches Phänomen Lateinamerikas in den Achtzigern. Vielfach ist von einem Sprießen der Graswurzelbewegungen die Rede. Der Typus der Neuen Sozialen Bewegungen zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

  1. Keine Parteianbindung.

  2. Die Organisierung einer partikularen sozialen Basis und das Auftreten für partikulare Ziele.

  3. Die Ablehnung historischer Missionen (wie Revolution, Sozialismus) und systemübergreifender Ziele.

  4. Die Analyse von strukturellen Klassenunterschieden wird nachrangig; es geht um die Gruppeninteressen der Akteure.

Die Neuen Sozialen Bewegungen entstanden in Abgrenzung zum Avantgardeanspruch wie zu den klassenanalytischen Leitideen der traditionellen linken Gruppen, insbesondere der Guerillagruppierungen. Dabei konnten sie auf alternative Organisierungserfahrungen, die teilweise bereits in den 1960ern ihren Anfang nahmen, zurückgreifen: so beispielsweise auf die Organisierung von Landlosen und städtischen Armen (etwa in Chile durch die Christdemokraten um Eduardo Frei) als auch auf basisorientierte Reformbemühungen der katholischen Kirche (Bischofskonferenz Medellín 1968), welche der so genannten Kirche der Armen und der Theologie der Befreiung Spielräume eröffneten. Die katholischen Basisinitiativen ermöglichten in manchen Ländern (zum Beispiel in Brasilien) ein politisches Betätigungsfeld während der Militärdiktatur. In diesen Diktaturformen etablierten sich – nachdem alle bisher bestehenden Organisationen und Führungsstrukturen (Gewerkschaften, Parteien) zerschlagen worden waren – in den Nischen dieser Regime überdies neue Varianten der politischen und sozialen Organisation. Frauenbewegungen (z.B. Selbsthilfe und Unterstützungsnetze in Chile), Menschrechtsgruppierungen und Zusammenschlüsse der Angehörigen von Verschwundenen (etwa die Madres de Plaza de Mayo in Argentinien) scharten das Oppositionspotenzial um sich.

Die neoliberalen Strukturreformen führten in ganz Lateinamerika zu De-Industrialisierung, Privatisierungen und der Rücknahme sozialer Reformen. Korporativistische, am Staat und seinen Unternehmen orientierte Gewerkschaften verloren Mitglieder und an Durchsetzungskraft. Sie vermochten die großteils weiblichen Arbeitskräfte in neuen, in Freihandelszonen angesiedelten, Exportindustrien (maquilas) nicht zu integrieren. Die Heterogenisierung der Industrie (absteigende Binnen-, aufsteigende Exportindustrien) und der Sozialstruktur im Zuge der neoliberalen Reformen zeitigte widersprüchliche Wirkungen auf die sozialen Bewegungen: Das Ansteigen des informellen Sektors und der Wegfall von Sozialleistungen ließ die Familie wieder zur zentralen ökonomischen und solidarischen Einheit werden, Interner Link: viele Menschen organisierten sich nun entlang der Wohnviertel und nicht mehr der Arbeitsplätze (Stadtteilbewegungen). In manchen Ländern führte die De-Industrialisierung zur Rückkehr vieler Arbeitnehmer in agrarische Gebiete (zum Beispiel in Ekuador, Bolivien). Die gemachten Proletarisierungserfahrungen veränderten jedoch die Organisations- und Kampfformen von Campesino- und Indígena-Bewegungen grundlegend und förderten deren allgemeine Radikalisierung ab den 1990er-Jahren. Stellvertretend dafür stehen die Confederación de Nacionalidades Indígenas del Ecuador (=CONAIE) in Ekuador, die Movimiento dos Trabalhadores Rurais sem Terra (=MST) in Brasilien oder die Coca-Bauern in Bolivien.

Neozapatisten in Mexiko (seit 1994)

Das Auftauchen der neo-zapatistischen Guerilla markiert für manche Autoren den Beginn einer dritten Welle von Guerillabewegungen. Das Ejército Zapatista de Liberación Nacional (=EZLN) entstand aus zwei Traditionslinien:

1.) Regionale Kleinbauernbewegungen in Chiapas: Ein erster Zusammenschluss dieser regionalen Bewegungen fand beim Indígena-Kongress von 1974 statt. Dem radikalen, bewaffneten Kampf der Bauern in Chiapas ging ein jahrzehntelanger erfolgloser legaler Kampf voraus.

2.) Aus der Stadt kommende Guerilla-Gruppen: Diese entstanden in Mexiko erstmals nach der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung 1968 (Massaker von Tlatelolco). Sie folgten erst dem Fokus-Konzept und blieben damit von den indianischen Bauern isoliert. Ab Anfang der 1980er-Jahre vollzog sich in Chiapas jedoch eine langsame Verschmelzung der beiden Traditionslinien. Die Guerilla verankerte sich im sozialen Umfeld der indianischen Gemeinschaften und veränderte ihre organisatorischen und ideologischen Prinzipien. Das entstehende EZLN ordnete sich dem konsensdemokratischen Prinzip der Dörfer unter. Die Befehlsgewalt der militärischen Führung beruht auf den Aufträgen der demokratischen Beschlüsse der Dorfgemeinschaften (mandando obediciendo, gehorchendes Befehlen). Frauen nehmen im neo-zapatistischen Befreiungsheer eine tragende Rolle ein und vollziehen teilweise einen Bruch mit den Normen der Indígena-Gemeinden.

Die Neo-Zapatisten stellen den Kulminationspunkt des Aufschwungs der Neuen Sozialen Bewegungen in Lateinamerika dar, indem sie die Forderungen von Autonomie und Partizipation verknüpfen, jedoch kein historisches Großprojekt verfolgen. Sie durchbrachen mit ihrem bewaffneten Kampf zugleich die Illusion einer liberalen, integrierten Gesellschaft. Die Kombination aus historischer Bescheidenheit und radikalem bewaffneten Vorgehen machte die Neo-Zapatisten innerhalb kürzester Zeit zum Referenzpunkt der Neuen Sozialen Bewegungen in Mexiko, in Lateinamerika, in Europa und den USA. Ohne Hegemonialanspruch hatten die Neo-Zapatisten die Hegemonie im politischen Diskurs erlangt.

Ende der 1990er-Jahre kommt es unter dem Eindruck von zunehmenden globalen Krisenerscheinungen (Globalisierungskrise) in vielen Ländern Lateinamerikas zu einer überraschenden Wende im Gefüge der sozialen Bewegungen und im politischen Kräfteverhältnis: Die "große Revolution" kehrt insofern zurück, als soziale Bewegungen bisweilen wieder das ökonomische und politische Gefüge des jeweiligen Landes herauszufordern begannen.

Argentinazo (2001)

Im Dezember 2001 Interner Link: vollzog sich in Argentinien eine die gesamte Gesellschaft erfassende Zuspitzung sozialer Auseinandersetzungen. Mit dieser als Argentinazo bekannten Volkserhebung ging eine tiefe Krise des politischen Systems und der repräsentativen Demokratie einher. Argentinien gehörte zu jenen Ländern, in welchen die Wende zu einer neoliberalen Privatisierungspolitik am konsequentesten umgesetzt worden war. Dies führte in den 1990er-Jahren zu nominell hohen Wachstumsraten, gleichzeitig verarmten große Teile der Bevölkerung. Dies und die steigende Schuldenlast führten im Dezember 2001 unter dem Präsidenten Fernando de la Rúa zu einem ökonomischen Zusammenbruch. Die verschiedenen sozialen und politischen Bewegungen bündelten sich daraufhin zu einer allgemeinen Aufstandsbewegung. Neben den Interner Link: Arbeitslosenbewegungen (piqueteros) und den Arbeitnehmern schlossen sich auch die Mittelschichten den Protesten an. Massendemonstrationen, Plünderungen, Streiks, Straßenblockaden und cacerolazos (Kochtopfdemonstrationen) prägten das Bild genauso wie demokratische Versammlungen in den Wohnvierteln (asambleas populares), Tauschmärkte (trueques) und Parallelwährungen. Der Aufschwung sozialer Bewegungen 2001 und 2002 zeitigte aber keine nachhaltige Änderung von Kräfteverhältnissen oder ökonomischen Strukturen.

Chávismo in Venezuela (seit 1999)

In Venezuela kam es unter dem im Jahr 1998 ins Amt gelangten Interner Link: Präsidenten Hugo Chávez Frías zu einer gesellschaftlichen Polarisierung. Diese ist für die Region von solch großer Bedeutung, dass sie auch auf Meinungsbildung und politische Diskussionen im deutschsprachigen Raum übergegriffen hat. Im Gegensatz zu den auf das persönliche Moment verengten Polemiken um Chávez ist die venezolanische Gesellschaft aus der Perspektive Interner Link: sozialer Bewegungen seit einigen Jahren wie kaum ein anderes Land von der Mobilisierung und Intervention der unterprivilegierten Klassen gekennzeichnet. Das Zusammenwirken dieser Massenunterstützung mit dem von den oligarchischen Eliten ausgehenden Widerstand (ein militärischer Putschversuch, mehrere Anläufe zu politischer und ökonomischer Destabilisierung) bedingte eine schrittweise Radikalisierung von Hugo Chávez´ Politik. Während programmatisch weltweit zum ersten Mal seit 1989 in einer Gesellschaft wieder vom politischen Ziel "Sozialismus" die Rede ist, sieht sich der Prozess in Venezuela mit einer Reihe von Widersprüchen konfrontiert: Tief greifende Reformen auf konsensualem Wege scheinen weiterhin unmöglich; die Hoffnungen der ärmsten Teile der Bevölkerung auf eine grundlegende Verbesserung der Lebenssituation sind großteils noch uneingelöst; die Möglichkeit einer gewaltsamen Beendigung der sozialen Dynamik durch einen Putsch bleibt weiterhin nicht ausgeschlossen; die Verstrickung in bürokratische Logiken sowie die Widersprüche zwischen einer neuen "bolivarischen Elite" und den sozialen Bewegungen steigen; die bisherigen Reformen sind Interner Link: zu stark vom anhaltenden Erdölboom abhängig.

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Martina Kaller-Dietrich, Jahrgang 1963, studierte in Wien, Berlin und Mexico City Philosophie, Geschichte und Spanisch und habilitierte sich im Fachbereich Geschichte. Seit 2000 ist sie Externer Link: Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wien. Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wien. Schwerpunktthema ist Geschichte Lateinamerikas . Sie ist Leiterin des Interdisziplinären Universitätslehrgangs für Höhere Lateinamerika-Studien.

David Mayer, Jahrgang 1976, hat in Wien Geschichte und Internationale Entwicklung studiert. Als Mitarbeiter am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien forscht und lehrt er insbesondere zur Geschichte sozialer Bewegungen in Lateinamerika und zur Geschichte marxistisch inspirierter Geschichtswissenschaft.