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Wahrheit und Gerechtigkeit Menschenrechtsbewegungen in Argentinien

Timo Berger

/ 5 Minuten zu lesen

Die Madres gelten in Argentinien als nationale Institution. Sie betreiben eine eigene Zeitung und sogar eine Universität. Finanziell unterstützt werden sie von Menschenrechtsorganisationen und durch Spenden. Ihr Anliegen: Licht in die Zeit der Militär-Diktatur zu bringen, in der ihre Söhne und Töchter verschwanden.

Die Madres de la Plaza de Mayo demonstrieren am 12. Dezember 1985 in Buenos Aires. (© AP)

Die heutigen Menschenrechts-
bewegungen in Argentinien haben ihren Ursprung Ende der 70er-Jahre. Angehörige von Opfern des Militärregimes begannen noch zu Diktaturzeiten, gegen die massiven Menschenrechtsverletzungen zu protestieren. Nach ihrer Machtergreifung am 24. März 1976 hatte die Junta einen "schmutzigen Krieg" gegen die Opposition im eigenen Land entfesselt: Zehntausende Menschen wurden zum Teil willkürlich und ohne Haftbefehl verschleppt, monate- und jahrelang ohne Prozess festgehalten, gefoltert und ermordet.

Die perfideste Methode der Sicherheitskräfte war das so genannte Verschwindenlassen: Nach ihrer Ermordung wurden die Verschleppten an geheimen Orten in anonymen Massengräbern verscharrt oder von Flugzeugen aus in den Rio de la Plata geworfen. Laut offiziellen Angaben erlitten fast 9.000 Menschen dieses Schicksal. Menschenrechtsorganisationen setzen die Zahl der Verschwundenen mit 30.000 sogar noch höher an.

Madres de Plaza de Mayo

Die wohl bekannteste Menschenrechtsorganisation sind die Madres de Plaza de Mayo, die Mütter der Plaza de Mayo. Seit dem 30. April 1977 halten sie einmal wöchentlich am Donnerstagnachmittag eine Protestkundgebung auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt Buenos Aires ab. Da Proteste im Stehen von der Junta verboten worden waren, drehten die Mütter an jenem ersten Donnerstag eine Runde um die Pyramide vor dem Präsidentenpalast. Sie wollten zu Juntachef Jorge Videla vorgelassen werden, um von ihm Auskunft über den Verbleib ihrer vermissten Söhne und Töchter zu erhalten. Das Kennzeichen der Madres sind ihre weißen Kopftücher, mit denen sie die Friedfertigkeit ihrer Proteste signalisieren. Zwar sind die Madres eine Angehörigenorganisation, zu den Kundgebungen zum Jahrestag des Militärputsches, zu denen die Mütter bis heute aufrufen, versammeln sich jedoch Zehntausende Argentinier.

Die Mütter sind heute in zwei Nichtregierungsorganisationen (NRO) aktiv. 1986 spalten sich die Madres de Plaza de Mayo – Línea Fundadora mit der Präsidentin Nora Cortiñas von der Asociación Madres de Plaza de Mayo ab. Eine Gruppe von Müttern, zu der auch viele Gründungsmitglieder gehörten, warf der Anführerin der Madres, Hebe de Bonafini, mangelnde Demokratie und Personenkult innerhalb der Bewegung vor. Auch wollten sie es den Müttern freistellen, staatliche Reparationszahlungen für verschwundene Angehörige anzunehmen, während Bonafini dies ablehnte.

Trotz ihrer Differenzen bestreiten beide Organisationen gemeinsam Kundgebungen. Ihre Ziele sind "Verdad y Justicia" ("Wahrheit und Gerechtigkeit"): d.h. den Aufenthaltsort ihrer verschwundenen Kinder zu erfahren und die gerichtliche Verurteilung der Verantwortlichen zu erreichen, die zum Teil bis heute straflos geblieben sind.

Nach mehreren Militärrevolten erließ die Regierung Raúl Alfonsín 1986 und 1987 Gesetze, welche die juristische Verfolgung der Diktaturverbrechen auf höhere Dienstränge beschränkten und schließlich ganz aussetzten. Sein Nachfolger Carlos Menem dekretierte 1989 bis 1990 eine Reihe von Straferlässen für bereits verurteilte Ex-Junta-Mitglieder. Der Kampf der Mütter richtet sich bis heute gegen die dadurch erzeugte Situation der impunidad, also Straflosigkeit. Während die Madres an ihrer traditionellen Donnerstagsrunde bis heute festhalten, kündigte Hebe de Bonfini Anfang 2006 an, einen seit 1981 jährlich stattfindenden Protestmarsch einstellen zu wollen. Mit dem Verweis auf die Menschenrechtspolitik der amtierenden Regierung von Néstor Kirchner erklärte sie, im Präsidentenpalast säße kein Feind mehr. Auf Betreiben Kirchners waren die umstrittenen Amnestiegesetze aufgehoben worden. So ist heute der Weg frei für die Wiederaufnahme von Prozessen gegen Mitglieder der Junta. Die Madres gelten in Argentinien als nationale Institution. Sie betreiben eine eigene Zeitung, einen Radiosender und eine Universität. Finanziell unterstützt werden die Mütter von internationalen Menschenrechtsorganisationen und durch Spenden.

Abuelas de Plaza de Mayo und H.I.J.O.S

Eng verbunden mit den Madres sind die Abuelas de Plaza de Mayo, die Großmütter der Plaza de Mayo, deren Kampf sich auf das Auffinden der geraubten Kinder der Verschwundenen richtet. Hunderte Babys wurden ihren Müttern in Gefangenschaft weggenommen und Familien von Angehörigen der Sicherheitskräfte übergeben. Die Kinder wuchsen auf, ohne ihre wahre Identität zu kennen. Mithilfe von Recherchen und dem Vergleich von DNA-Proben gelang es den Abuelas bis Juli 2007, 87 solcher Fälle aufzuklären. Die Präsidentin der Abuelas ist Estela Carlotta.

Die Nachfahren der Verschwundenen sind seit 1995 organisiert. Zusammen mit Ex-Häftlingen und Politaktivisten haben sie H.I.J.O.S., eine strikt horizontal organisierte Menschenrechtsbewegung mit mehreren regionalen Sektionen (in Córdoba, Rosario und Buenos Aires) gegründet: Die "Hijos por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio" ("Söhne und Töchter für die Identität und die Gerechtigkeit gegen das Vergessen und das Schweigen") wollen den Kampf der Elterngeneration für eine gerechtere Welt fortsetzen. In der Öffentlichkeit wurden sie vor allem durch die von ihnen entwickelte Aktionsform des escrache bekannt. Um gegen die Straflosigkeit zu protestieren, halten sie vor Wohnhäusern ehemaliger Junta-Mitglieder und Menschenrechtsverbrecher lautstarke Kundgebungen ab. Mit der öffentlichen Brandmarkung wollen sie eine soziale Bestrafung der Täter erreichen. Durch Aufklärungskampagnen im Vorfeld wird den Nachbarn mitgeteilt, wer neben ihnen wohnt. Die H.I.J.O.S. sind ebenfalls sehr aktiv im Kampf gegen die Nichtahndung aktueller Menschenrechtsvergehen. Seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 wurden allein in Buenos Aires 1.900 Fälle leichtfertiger und mutwilliger Tötungen von Jugendlichen durch die Sicherheitskräfte gezählt.

Kennzeichen der argentinischen Menschenrechtsorganisationen ist, dass sie die Problematik der Menschenrechte nicht als isoliertes Phänomen betrachten, sondern sie in einen größeren Zusammenhang von sozialem und wirtschaftlichem Wandel stellen. Nach dem Selbstverständnis der Mütter stellen die Arbeitslosen die "neuen Verschwundenen des Systems" dar. So überrascht es nicht, dass sich Madres, Abuelas und H.I.J.O.S. auch an Protesten gegen die Folgen des neoliberalen Umbaus der argentinischen Wirtschaft beteiligen. Das ökonomische Modell, das 2001 und 2002 in die bislang schwerste Krise des Landes führte, wurde schließlich, so ihre Argumentation, vom Wirtschaftsminister der Militärdiktatur, José Alfredo Martínez de Hoz, eingeführt und mit Hilfe der Sicherheitskräfte gegen den massiven Widerstand von Gewerkschaften und sozialen Organisationen durchgesetzt.

Quellen

Der Bericht der Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP) "Nunca más" ("Nie wieder"), (Externer Link: englische Fassung)

Berichte der Menschenrechtsgruppe Externer Link: CORREPI

Selbstverständnis der Externer Link: Madres de Plaza de Mayo

Linkliste

Externer Link: Madres de Plaza de Mayo

Externer Link: Madres de Plaza de Mayo – Línea Fundadora

Externer Link: Abuelas de Plaza de Mayo

Externer Link: H.I.J.O.S. in Buenos Aires

Externer Link: C.E.L.S. Centro de Estudios Legales y Sociales

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Timo Berger, geboren 1974 in Stuttgart, hat Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Lateinamerikanistik in Tübingen, Buenos Aires und Berlin studiert. Er hat in Zeitungen und Zeitschriften zahlreiche Beiträge zu Südamerika veröffentlicht. Heute lebt Berger als freier Journalist und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen in Berlin.