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Costa Rica – ein Sozialstaat im Wandel | Lateinamerika | bpb.de

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Costa Rica – ein Sozialstaat im Wandel

Sebastian Huhn

/ 6 Minuten zu lesen

Gerne schmückt sich Costa Rica mit dem Image, die "Schweiz Lateinamerikas" zu sein. Doch die Probleme häufen sich – vor allem auf ökonomischer Ebene. Wichtige Entscheidungen in den Bereichen Privatisierung und Liberalisierung stehen an. Und das Land ist gespalten.

Die "Schweiz Zentralamerikas" zu sein: Das ist das Image, mit dem sich Costa Rica auch heute noch gerne schmückt. In den 1940er-Jahren begann der konsequente Ausbau des Sozialstaates, und der sechswöchige Bürgerkrieg 1948 mündete in einer umfassenden Sozialgesetzgebung und der Gründung staatlicher Institutionen, welche nahezu die gesamte Bevölkerung mit Sozialversicherungen, Elektrizität, Trinkwasser oder Telefonanschlüssen versorgten, sowie der Etablierung eines landesweiten Bildungssystems. Zu diesem "Modell Costa Rica" gehörte auch die Abschaffung des Militärs 1949.

Oscar Arias im Wahlkampf um das Präsidentenamt 2006. (© AP)

Seither wurde das Land durchgehend demokratisch regiert und eine Reihe von Konflikten weitgehend gewaltfrei gelöst. Als sich die Nachbarländer Nicaragua, Guatemala und El Salvador in den 1980er-Jahren in Bürgerkriegen befanden, erklärte Costa Rica seine Neutralität und setzte sich für den Frieden in Zentralamerika ein. 1987 wurde dem damaligen und heutigen Präsidenten Oscar Arias der Friedensnobelpreis verliehen.

Die costaricanische Geschichte des 20. Jahrhunderts ist im lateinamerikanischen Vergleich in vielerlei Hinsicht beachtlich. Dennoch täuschte das positive Bild lange über diverse Probleme seit den 1980er-Jahren hinweg, die dazu führten, dass sich das Land gegenwärtig in einer politischen und sozio-ökonomischen Krise befindet.

Wirtschaftskrise und soziale Folgen

Anfang der 1980er-Jahre sanken in der Folge der Ölkrise von 1979 der Absatz und die Weltmarktpreise der wichtigsten costaricanischen Exportprodukte Kaffee, Bananen und Zucker. In der Folge ging das BIP bis 1982 um elf Prozent zurück, die Reallöhne sanken bis zu 40 Prozent, die Arbeitslosigkeit stieg dafür auf rund zehn Prozent, und die Inflation lag bei etwa 100 Prozent. Die Regierung legte Sozial- und Wirtschaftsprogramme auf, die die Arbeitslosigkeit senkten, den industriellen Sektor stärkten und neue Exportprodukte förderten. Die Auslandsverschuldung stieg in diesem Zusammenhang jedoch bis 1984 auf 3,8 Milliarden US-Dollar. Der Internationale Währungsfonds empfahl vor diesem Hintergrund erstmals, staatliche Unternehmen zu privatisieren, den öffentlichen Beschäftigungssektor abzubauen und Sozialausgaben zu senken. Die Regierung von Luis Alberto Monge (1982-1986) setzte diese Forderungen in begrenztem Maße um, konnte aber gleichzeitig internationale Finanzhilfen vor allem aus den USA gewinnen, die Costa Rica als Nachbarland des mittlerweile sandinistisch regierten Nicaraguas bereitwillig unterstützten.

Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte sich die Wirtschaft weitgehend erholt. Nicht-traditionelle Exportprodukte wie Textilien oder Ananas überstiegen die Kaffee- und Bananenexporte, und Costa Rica entwickelte sich immer mehr zu einem beliebten Ziel für Touristen. Gesellschaftlich und politisch mehrten sich jedoch die Probleme der lateinamerikanischen Musterdemokratie.

Die positiveren Wirtschaftszahlen täuschten leicht darüber hinweg, dass die steigende Urbanisierung und die zunehmende Beschäftigung in schlecht bezahlten und unsicheren Lohnarbeitsverhältnissen die wachsende Armut nicht aufhielten, sondern verstärkten. Die Einnahmen aus den neuen Exportprodukten und dem Tourismus flossen – anders als beim Kaffee – überwiegend in die Taschen großer ausländischer Konzerne und einer schrumpfenden costaricanischen Mittelschicht. Gleichzeitig stieg die Zahl der Arbeitslosen und informell Beschäftigten. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Abwahl der sandinistischen Regierung in Nicaragua gingen ab 1990 auch die ausländischen Finanzhilfen zurück und das Land wurde verstärkt gedrängt, neoliberale Reformen einzuleiten. Unter der Präsidentschaft von Rafael Ángel Calderón (1990-1994) wurden vor allem die staatlichen Ausgaben im Gesundheits- und Bildungssektor extrem gekürzt. Zahlreiche Streiks, Demonstrationen und Straßenblockaden konnten diese Prozesse nicht aufhalten. Die Gründung privater Krankenhäuser, Schulen und Universitäten verstärkte die gesellschaftliche Ungleichheit zusätzlich.

Neue Oppositionen

Da sich die politische Elite über die neoliberale Neuausrichtung Costa Ricas einig war, fehlte auch eine parlamentarische Opposition. Die sozialdemokratische Partido Liberación Nacional (PLN) und die christlich-soziale Partido Unidad Social Cristiana (PUSC) wechselten sich in der Regierungsführung ab und stellten gemeinsam meistens etwa 90 Prozent der Parlamentsabgeordneten. Auch programmatisch unterschieden sich beide Parteien immer weniger. 1995 unterzeichneten Präsident José Maria Figueres (PLN) und sein Vorgänger Rafael Ángel Calderón (PUSC) ein Abkommen über die Kooperation beider Parteien bei der Liberalisierung und dem Abbau des Sozialstaats. Der Pakt sah unter anderem eine gemeinsame Abstimmung beider Parteien über die Privatisierung staatlicher Unternehmen vor. Ironischerweise waren es ausgerechnet die Väter dieser beiden Politiker gewesen, die in den 1940er-Jahren die Grundsteine für den costaricanischen Sozialstaat gelegt hatten und sich vor allem wegen unterschiedlicher Haltungen zu den sozialistischen Strömungen im Bürgerkrieg von 1948 gegenüberstanden.

Die politische Elite hatte jedoch zu Unrecht erwartet, dass die costaricanische Gesellschaft der Demontage des "Modells Costa Rica" dauerhaft tatenlos zusehen würde. Im März 2000 verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket über die Privatisierung des staatlichen Energie- und Telekommunikationsunternehmens ICE und die Liberalisierung beider Wirtschaftsbereiche. Die Regierung hatte vielleicht Proteste der ICE-Gewerkschaft erwartet, mit der gewaltigen Widerstandsbewegung, die sich unter anderem aus Gewerkschaftern, Studenten, Bauernorganisationen, Schülern und Lehrern zusammenschloss, hatte sie jedoch nicht gerechnet. Nach zwei Wochen ununterbrochener Proteste tausender Costaricaner musste das Parlament den Gesetzesentwurf zurückziehen. Der PLN-Politiker und ehemalige Minister Ottón Solís trat in diesem Kontext aus der PLN aus und gründete die Mitte-Links-Partei Partido Acción Ciudadana (PAC), die mit dem Vorhaben, den Sozialstaat zu retten, 2002 erstmals bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen kandidierte und sofort zur drittstärksten politischen Kraft des Landes wurde.

Korruption der politischen Elite

Im Herbst 2004 brach das traditionelle Zwei-Parteien-System des Landes dann endgültig zusammen, als sich die Korruption innerhalb der politischen Elite angesichts dreier Skandale nicht länger herunterspielen ließ. Auch in den 1980er- und 1990er-Jahren waren Politikern und Unternehmern Fälle von Korruption nachgesagt oder bewiesen worden. Trotzdem konnte Costa Rica den Ruf wahren, ein relativ korruptionsarmes Land zu sein. Im Herbst 2004 wurden dann aber drei ehemalige Präsidenten wegen Korruption angezeigt. Rafael Ángel Calderón (1990-1994) und Miguel Ángel Rodriguez (1998-2002) wurden verhaftet, der in der Schweiz lebende José Maria Figueres (1994-1998) wurde aufgefordert, nach Costa Rica zurückzukehren, um sich der Justiz zu stellen. Während die drei Präsidenten in den 1990er-Jahren den Sozialstaat demontierten und einen Anstieg der Armut in Kauf nahmen, hatten sie sich privat schamlos bereichert. Die PUSC rissen diese Skandale in eine tiefe Krise, während sich die PLN retten konnte, da der ehemalige Präsident und Friedensnobelpreisträger Oscar Arias 2006 für die Partei kandidierte. Obwohl man ihm einen klaren Wahlsieg vorausgesagt hatte, konnte er sich im Februar 2006 bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen aber nur mit einer minimalen Mehrheit - und begleitet von Vorwürfen der Wahlmanipulation - gegen Ottón Solís und den PAC durchsetzen, der die zweitstärkste Partei des Landes wurde.

Das Paradigma der Privatisierung und Liberalisierung verschwand nach den sozialen Protesten im Frühjahr 2000 nicht von der Tagesordnung. 2003 wurde das Freihandelsabkommen CAFTA zwischen den zentralamerikanischen Staaten, der Dominikanischen Republik und den USA ausgehandelt. Der Vertrag sieht auch die Liberalisierung in Investitions- und Dienstleistungssektoren vor. Daher ist die Privatisierung staatlicher Unternehmen – vor allem des ICE und des staatlichen Sozialversicherungssystems INS – in Costa Rica abermals das erklärte Ziel der Regierung.

Während das Abkommen in den USA, der Dominikanischen Republik und allen anderen zentralamerikanischen Staaten ratifiziert wurde, gelang es der costaricanischen Regierung trotz großer Bemühungen bislang nicht, den Widerstand der PAC und vor allem der Zivilgesellschaft aufzuheben. CAFTA ist derzeit das alles entscheidende politische Thema, über das sich die gesamte Gesellschaft gespalten hat. Demonstrationen gegen und für das Abkommen finden fast wöchentlich statt, die Regierung wirbt in Zeitungen und Fernsehen mit Werbespots für CAFTA, und kaum ein Costaricaner hat keine Meinung zu diesem Thema. Aber obwohl sich Costa Rica in seiner größten politischen Krise seit mehr als 50 Jahren befindet, stellt sich die politische Kultur des Landes abermals als beeindruckend heraus. Die CAFTA-Gegner protestieren seit drei Jahren friedlich und kreativ gegen das Abkommen, und die Regierung wird die Bevölkerung am 7. Oktober im weltweit ersten Referendum über ein Freihandelsabkommen darüber abstimmen lassen, ob CAFTA ratifiziert und welchen Pfad die costaricanische Geschichte einschlagen wird.

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Fussnoten

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Sebastian Huhn, geb. 1974, studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Hannover und San José, Costa Rica. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg.