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Soziale Bewegungen in Costa Rica | Lateinamerika | bpb.de

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Soziale Bewegungen in Costa Rica

Torge Löding

/ 5 Minuten zu lesen

Die "Ticos" können auf eine lange Tradition von sozialen Bewegungen verweisen. Ohne den Einfluss von Parteien entstanden in Costa Rica Organisationen, die sich bis heute für Frauenrechte, aber auch den Umweltschutz einsetzen.

Noch immer leben zahlreiche Familien in Costa Rica in Armut. (© AP)

"Zeig' mir ein Problem, ich zeige Dir ein Nachbarschaftskomitee, welches sich darum kümmert", sagen viele in Costa Rica. Die "Ticos" (wie sich die Costaricaner selbst nennen) leben eine lange Tradition von basisorganisierten sozialen Bewegungen. Besonders die Naturschutzbewegung ist seit ihren Anfängen im frühen 20. Jahrhundert respektiert und kann auf eine lange Liste politischer Erfolge verweisen.

In anderen Ländern Zentralamerikas entstanden die meisten Organisationen der sozialen Bewegungen insbesondere in den Siebziger- und Achtzigerjahren unter dem Einfluss linker Parteien. Durch die Niederlage der kommunistischen Milizen im costaricanischen Bürgerkrieg 1948 und das folgende Verbot verlor die kommunistische "Partei der Volksavantgarde" (PVP) weitgehend ihren politischen Einfluss. Die sozialen Bewegungen entwickelten sich ohne Parteieinfluss ideologiefrei, insbesondere die Frauen- und Ökologiebewegung werden maßgeblich von Aktivisten der Mittelschicht getragen.

Eine Wende leitete die Unterzeichnung des CAFTA-DR-Freihandelsabkommens (spanisch TLC) zwischen Zentralamerika, den USA und der Dominikanischen Republik 2003 ein. Unter anderem sieht der Vertrag die Liberalisierung in Investitions- und Dienstleistungssektoren vor. Für die sozialen Bewegungen bedeuten die daraus resultierenden Privatisierungen öffentlicher Betriebe (Telekom, Energiesektor und Sozialversicherung), dass das bisherige Modell eines sozialen Wohlfahrtsstaates ("Modell Costa Rica") durch ein neoliberales ersetzt wird.

Die Frage nach der Alternative zum Neoliberalismus hat die Debatte um die politische Ausrichtung in den Organisationen neu entfacht. Mit wachsendem Interesse betrachtet man die politischen und wirtschaftlichen Vorschläge der "bolivarischen Alternative für die Amerikas" (ALBA), ins Leben gerufen von Venezuelas Präsident Hugo Chávez als Antwort auf die Freihandelspolitik namens ALCA von US-Präsident George W. Bush.

Anti-CAFTA-Bewegung

Seit dessen Aushandlung 2003 beherrscht der Widerstand gegen das Freihandelsabkommen CAFTA die Agenda der sozialen Bewegungen in Costa Rica. In Vorbereitung auf den Volksentscheid im Oktober 2007 gründeten sich überall im Land so genannte patriotische Komitees, die in ihrer Nachbarschaft die Verteilung des Kampagnenmaterials der CAFTA-Gegner vor allem durch Hausbesuche übernahmen. Daran beteiligten sich Aktivisten aus allen Bereichen der sozialen Bewegungen genauso wie Menschen, die sich zum ersten Mal politisch engagierten.

Diese soziale Bewegung hat sich die "Verteidigung des Sozialstaates" auf die Fahnen geschrieben. Sie knüpft an die außerparlamentarische Bewegung gegen das Gesetzespaket zur Privatisierung des öffentlichen Instituts für Energie und Telekommunikation ICE aus den Jahren 2000 und 2001 an. Damals überraschte die gewaltige Protestbewegung die Regierung, welche das Gesetzespaket zurückzog. Die aktuelle Bewegung gegen CAFTA speist sich nicht zuletzt aus dem Stolz der Costaricaner auf ihr sozialpolitisches Modell: "ICE ist unser. Die staatliche Sozialversicherung INS ist unser", so denken viele.

In Costa Rica werden in Dörfern Solaranlagen installiert mit denen die Kühlschränke von Gesundheitsstationen betrieben werden können. In den Kühlschränken werden Impfstoffe und Medikamente gelagert. (Bild: ap)

Die Beteiligung geht durch alle Altergruppen, soziale Klassen und Schichten. Zu den Aktivisten der ersten Stunde gehörten vor allem Gewerkschafter, andere Linke und Studierende. Heute reicht das Spektrum sogar von Umweltschützern und Kleinbauern, Frauenorganisationen und religiösen Gruppen bis hin zu mittelständischen Unternehmern und der nationalen Pharmaindustrie, die von der Generikaherstellung lebt. Die Bewegung hat keine einheitliche Organisationsstruktur, sie wird aber als gemäßigte "Nationale Front zur Unterstützung des Kampfes gegen CAFTA" (Frente Nacional de Apoyo a la lucha contra el TLC) mit dem Vorsitzenden Eugenio Trejos, Direktor des Technischen Instituts von Costa Rica, als Sprecher der Bewegung anerkannt.

Eine besondere Rolle spielt die "Bewegung der Kulturschaffenden gegen CAFTA" (Movimiento artistas frente al TLC), die mit einem quietschgelben ehemaligen US-Schulbus "La Casadora" jede Woche verschiedene Gemeinden im Land besucht, um Kulturspektakel zu organisieren, auf denen sie ihre Kritik am Freihandelsabkommen formuliert. Ins Leben gerufen wurde sie vom Lehrer César Lopez.

Die Ökologiebewegung

Das kleine Costa Rica beherbergt vier Prozent der weltweiten Artenvielfalt, rund ein Viertel des Landes ist unter Naturschutz gestellt. Für Umweltfragen herrscht eine besondere Sensibilität in dem mittelamerikanischen Land. So kommt es nicht von ungefähr, dass die Bewegung der Umwelt- und Naturschützer eine lange Tradition hat und viel Respekt und Vertrauen in der Bevölkerung genießt. Sie wurzelt in den Arbeiten von Biologen des frühen 20. Jahrhunderts, welche die politische Elite des Landes mit ihren Arbeiten beeinflussten. Die radikalere Ökologiebewegung, die das herrschende Wachstumsmodell in Frage stellt, gründete im September 1972 die "Costaricanische Vereinigung zur Bewahrung der Natur" (ASCONA). 1974 vereitelten die Umweltaktivisten zum ersten Mal den Plan der Regierung, eine Ölpipeline vom Südpazifik durch das Landesinnere bis zum Karibischen Meer zu bauen.

Der Umweltaspekt war zudem ein entscheidender bei der Bewegung gegen die geplante Bauxitförderung durch den US-Aluminiumhersteller ALCOA, die durch Proteste zwischen 1976 und 1980 verhindert wurde. Herausragend war auch die erfolgreiche Kampagne der Aktivisten der "Aktion des Kampfes gegen Ölförderung" (ADELA) in der Region Limón an der Atlantikküste gegen Ölförderungspläne des US-Konzerns Harken im karibischen Meer. 2002 entzog die christsoziale Regierung unter Präsident Abel Pacheco die dem Konzern zuvor erteilte Förderungsgenehmigung.

Heute heißt der nationale Dachverband "Föderation der Umweltschützer" (FECON), bekannter Vertreter ist Fabian Pacheco, Sohn des Ex-Präsidenten Abel Pacheco.

Mit der Umweltgesetzgebung von 1992 wurden die "Komitees zur Bewachung der natürlichen Ressourcen" (COVIRENAS) ins Leben gerufen. Diese Basiskomitees sind offiziell anerkannt vom Umweltministerium und dienen als Augen und Ohren vor Ort bei der Verhinderung und Verfolgung von Umweltverbrechen. Diese Komitees sichern die Bürgerbeteiligung durch konkrete Aufgaben.

Die Frauenbewegung

Die Wurzeln der costaricanischen Frauenbewegung unterscheiden sich von denjenigen in den anderen Ländern Zentralamerikas. Während die Bewegung anderenorts sehr von marxistischen Ideen und proletarisch geprägt war, kommt sie hierzulande aus der Mitte der Gesellschaft. Bereits in den Siebzigerjahren entstand zwar die "Frauenallianz" (Allianza de Mujeres Costarricenses) als Frauenorganisation der kommunistischen PVP, ihr Einfluss blieb aber begrenzt. Einen Boom erlebte die Frauenbewegung im Zuge des Aufstrebens der feministischen Bewegung in den USA Mitte der Achtziger.

Es gibt drei Kategorien von Organisationen der Frauenbewegung in Costa Rica: traditionell-konservative Frauengruppen (etwa solche der katholischen Kirche), radikale Landfrauenorganisationen und feministische Gruppen. Die Konservativen betreiben Traditionspflege, während Landfrauenorganisationen für das Recht der Kleinbäuerin (Campesina) auf Landtitel und Kredite streiten. Feministische Organisationen kümmern sich um sexuelle und gesundheitliche Rechte der Frau sowie um eine Strategie gegen Gewalt an Frauen; bekannt sind das "Feministische Zentrum der Aktion und Information" (CEFEMINA, Vorsitzende: die aus Spanien stammende Ana Carcedo) und "La Agenda politica de mujeres" von Margarita Penon, Ex-Frau des amtierenden rechts-sozialdemokratischen Präsidenten Oscar Arias.

Einen Markstein für die Frauenbewegung stellt die Schaffung des "Nationales Fraueninstitut" genannten Frauenministeriums von 1998 dar, welches über eine einzigartige Instanz zur Beteiligung der Frauenorganisationen verfügt: das "beratende Frauenforum". Dessen Entscheidungen sind nicht bindend, werden aber ernst genommen. Das im Mai 2007 verabschiedete Gesetz gegen Gewalt an Frauen geht auf Vorschläge dieses Forums zurück.

Weitere Organisationen

Die sozialen Bewegungen sind zahlreich, aber auch sehr konjunkturabhängig. In den 80er- und 90er-Jahren waren die Organisationen der Kleinbauern (Campesinos) und -produzenten sehr einflussreich. Durch Spaltungen und das Festhalten an alten Konzepten der Landreform hatte diese Bewegung zwischenzeitlich sehr viel an Schwung verloren. Aber es gibt sie noch, Organisationen wie die Union der Kleinproduzenten (UPANACIONAL), Nationale Bauernunion (UNAC), Nationale Bauernfront (FENAC) und Mesa Campesina streiten für bessere Bedingungen der Campesinos und die Entwicklung lokaler Märkte. Nach jahrelangen Streitereien haben sie sich unter dem Banner der Anti-CAFTA-Bewegung zusammengerauft.

Erfolgreich hat sich die Bewegung für biologischen Landbau (MAOCO) für ein Gesetz zur Förderung der ökologischen Landwirtschaft eingesetzt; sie mobilisiert nun ebenfalls gegen CAFTA. Die unabhängigen Gewerkschaften sind im zentralamerikanischen Vergleich stark, befinden sich heute aber in einer Krise. Zunehmend Einfluss gewinnt indes die Bewegung der Homosexuellen im katholisch geprägten Costa Rica. Seit 2004 wird in der Hauptstadt San José der "Christopher Street Day" veranstaltet, und es gibt es eine Gesetzesinitiative zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.

Weitere Inhalte

Torge Löding (37) arbeitet als Journalist im Kommunikationszentrum "Voces Nuestras" in San José, Costa Rica.