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Nicaragua heute: Zwischen Bildungsnotstand und neuem Aufbruch

Timm B. Schützhofer

/ 10 Minuten zu lesen

Die Schulen sind miserabel ausgestattet, die Lehrer schlecht bezahlt. Das Bildungsniveau lässt in Nicaragua sehr zu wünschen übrig. Fast ein Viertel der Bevölkerung sind Analphabeten. Nur mit Hilfe einer konsequenten Politik könnte sich daran etwas ändern.

Menschen gehen über den bekannten El Oriental Markt in Managua. (© AP)

Die Bildungssituation in Nicaragua kann nicht isoliert von der dort weit verbreiteten extremen Armut betrachtet werden. Die überwältigende Mehrheit der Menschen lebt von weniger als zwei US-Dollar am Tag, etwa 45 Prozent der Bevölkerung standen im Jahr 2005 sogar weniger als ein Dollar zur Verfügung. Armutsbekämpfung und höhere Bildungsausgaben gehören hier zusammen. Wenn das Geld gerade nur zum Überleben reicht, bleibt für Schulmaterial, -uniform und -gebühren nichts mehr übrig. Die Chance, über gute Bildung der Armutsfalle zu entkommen, bleibt so verwehrt.

Mit der Wahl Daniel Ortegas (FSLN) zum neuen Präsidenten Nicaraguas verbinden vor allem die Armen des Landes große Hoffnungen auf tief greifende Reformen im Bildungsbereich, die die Lebenschancen ihrer Kinder vergrößern. Die Erfüllung dieser Hoffnungen durch praktische Maßnahmen der Regierung erweist sich inzwischen – nach einem 16 Jahre währenden rigorosen Bildungsabbau unter neoliberal orientierten Regierungen - mehr und mehr als ein außerordentlich komplexes und widersprüchliches Unterfangen.

Informationen zum Schulsystem

Das nicaraguanische Schulsystem gliedert sich in die Vorschule (Preescolar), die sechsjährige Grundschule (Primaria) und eine fünfjährige Sekundarstufenschule (Secundaría), die zum Abitur führt. Neun Schulbesuchsjahre berechtigen zu einer Reihe staatlich anerkannter Ausbildungen, zum Beispiel an handwerklich oder kaufmännisch orientierten Schulen. In ländlichen Gebieten werden wegen der geringen Schülerzahl häufig Kinder verschiedener Jahrgangsstufen in so genannten "Multigrados" unterrichtet.

Über die Dauer des Schulbesuchs (im Durchschnitt weniger als sechs Jahre) und die Anzahl der erzielten Abschlüsse liegen sehr unterschiedliche Angaben vor. Die meisten Schüler kommen über den Besuch der Primaria nicht hinaus. Etwa eine halbe Million Kinder bleiben dem Unterricht ganz fern. Die Qualität der Abschlüsse ist sehr unterschiedlich und mit unseren kaum vergleichbar. So kann das nicaraguanische Abitur (Bachillerato) bereits nach elf Schuljahren abgelegt werden. Neben den staatlichen und kirchlichen Universitäten hat sich inzwischen eine fast unüberschaubare Vielzahl von privaten Hochschulen etabliert, deren Niveau oft nur als dürftig bezeichnet wird. "Wenn du den Abschluss bezahlst, bekommst du ihn auch", lautet eine verbreitete Redewendung.

Der Analphabetismus in Nicaragua

Obwohl der Analphabetismus in der ersten sandinistischen Regierungszeit (1979-1990) von mehr als 50 Prozent auf 12,5 Prozent reduziert wurde, bleibt festzuhalten, dass im Jahr 2006 laut UNDP wieder etwa 23 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahren Analphabeten waren. Der Deutsche Entwicklungsdienst geht sogar davon aus, dass 33 Prozent der Erwachsenen Analphabeten sind. Im Durchschnitt Lateinamerikas lag die Analphabetenrate, die zwischen 2000 und 2004 ermittelt worden war, dagegen nur bei rund zehn Prozent. Nur Guatemala und Haiti verfügen über eine höhere Analphabetenquote als Nicaragua.

Lesen und Schreiben ermöglichen die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ebene. Alphabetisierung bedeutet daher auch die Emanzipation der armen Bevölkerungsschichten und vermindert ihre Abhängigkeit von staatlichen und privaten Autoritäten. Alphabetisierung ist daher ein Beitrag zu mehr Demokratie.

Die neue sandinistische Regierung hat es zu ihrem Ziel erklärt, den Analphabetismus bis 2009 zu besiegen. Dazu wird die kubanische Methode "Yo, sí Puedo" (Ja, ich kann) angewandt. Kuba lieferte dafür auch die technische Ausrüstung. Die Alphabetisierungsstellen sind meist in den einfachen Häusern der freiwilligen Helfer eingerichtet, die den bis zu 15 Lernenden pro Gruppe beim Verstehen der kubanischen Lehrvideos helfen. Fachpersonal wird vom Bildungsministerium bezahlt.

Nach dem Sturz des Diktators Somoza wurden die Sandinisten bei ihrer ersten Alphabetisierungskampagne von einer Welle der Begeisterung getragen. "Das ganze Land war eine große Schule", erinnert sich der damalige Bildungsminister Fernando Cardenal. Heute hingegen gibt es viele resignierte Menschen. "Ich kann mir gar nicht erklären, dass die Leute nicht Lesen und Schreiben lernen möchten", stellt der gewählte Stadtteilvorsteher Don Raúl aus dem Barrio Cristo Rey in der südnicaraguanischen Provinzstadt Rivas enttäuscht fest, der in seinem Haus eine Alphabetisierungsstelle eingerichtet hat. Noch hofft er auf mehr Schüler. Wie erfolgreich der Kampf gegen den Analphabetismus sein wird, muss die Zukunft zeigen.

Privatisierung und Entprivatisierung öffentlicher Bildung

Mit der Privatisierung von öffentlicher Bildung sind die Verlagerung bisher staatlicher Bildungsausgaben auf die Familien und der Rückzug des Staates aus diesem Bereich gemeint. Dieser Prozess wurde von der Regierung Violetta Barrios de Chamorro 1992 vor allem unter dem Druck von IWF-Auflagen begonnen. Die geforderten "Strukturanpassungsmaßnahmen" wurden beschönigend als "Schulautonomie" bezeichnet. Reparatur- und Neuanschaffungskosten übernahm nun nicht mehr der Staat, was die Schulen beispielsweise dazu zwang, "freiwillige" Einschulungsgebühren zu erheben und durch "Tombolas" an das nötige Geld zu kommen. Die Gebühren hielten viele Eltern davon ab, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Zwar besuchen offiziell nur etwa 27 Prozent der Schüler autonome Schulen, man muss allerdings davon ausgehen, dass auch an den meisten öffentlichen Schulen für Bildung bezahlt werden musste. Der Zugang zu Bildung wurde dadurch wieder zu einer in erster Linie sozialen Frage.

Mit der Machtübernahme der FSLN am 10. Januar 2007 nahm Bildungsminister Miguel de Castilla die Schulautonomie zurück. Die Einschulungsgebühr wurde verboten und die Uniformpflicht abgeschafft. Der Besuch öffentlicher Schulen wurde also wieder kostenlos. Diese Maßnahmen erhielten im ganzen Land viel Zuspruch, da sie mehr Kindern den Schulbesuch ermöglichten. Die wie zu erwarten höhere Einschulungsrate führte an vielen Schulen jedoch zu erheblichen zusätzlichen Raumproblemen, da die nötige Infrastruktur für die größere Schülerzahl erst noch geschaffen werden muss. Zudem muss der Staat nun Ausgaben übernehmen, die vorher von den Familien getragen wurden. Im Haushalt des Bildungsministeriums sind dafür allerdings nur 7,8 Millionen US- Dollar vorgesehen.

Der kostenlose Schulbesuch ist ein erster wichtiger Schritt. Dennoch muss bedacht werden, dass die früheren Gebühren nur elf Prozent der Ausgaben ausmachten, die den Eltern durch den Schulbesuch ihrer Kinder entstanden waren. Der Großteil der Kosten fällt durch Materialien, Kleidung und das Geld für den Schulweg an. Hinzu kommen die Opportunitätskosten, da das Kind während seiner Unterrichtszeit nicht als Arbeitskraft eingesetzt werden kann.

Bildung als vernachlässigter Sektor

Der geringe Stellenwert, den Bildung in Nicaragua in der Zeit zwischen 1990 und 2006 hatte, lässt sich an den niedrigen öffentlichen Ausgaben im Bildungssektor ablesen. Der Ökonom Acevedo Vogl sieht hier den größten Nachholbedarf: "Nicaragua investiert ausgesprochen wenig in die Bildung der Jugendlichen, die sich in ihrer großen Mehrheit mit sehr niedrigem Schulniveau in den Arbeitsmarkt integrieren, was sie dazu verurteilt, die darauf folgenden 50 Jahre ihres Lebens in Bereichen zu arbeiten, die sie nicht über die Armutsgrenze heben. Es gibt Länder wie Honduras und Bolivien, die genauso arm sind wie Nicaragua und sieben Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildungsausgaben aufwenden, während Nicaragua gerade einmal 4,7 Prozent des BIP für Bildung ausgibt."

Auch im lateinamerikanischen Vergleich wendet Nicaragua pro Kopf am wenigsten für Bildung auf. Im Jahr 2004 waren das nur 35 US-Dollar. Das Nachbarland Honduras kommt immerhin auf 70 US-Dollar pro Kopf . Bei der schlechten materiellen und personellen Ausstattung der öffentlichen Schulen ist es nicht verwunderlich, dass die Privatschulen inzwischen eine bedeutende Rolle spielen. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf eine dieser besser ausgestatteten Bildungseinrichtungen. Inzwischen sind 18,9 Prozent sämtlicher Schüler dort angemeldet, ein bedeutender Teil erhält jedoch staatliche Zuschüsse. Kinder aus sozial schwachen Familien - und das ist die große Mehrheit der Bevölkerung - sind vom Privatschulbesuch durch diese Gebühren weitgehend ausgeschlossen.

Die Kinder der bildungsnahen Mittel- und Oberschicht besuchen nur selten die finanziell ausgehungerten öffentlichen Schulen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Motivation von Entscheidungsträgern, ins öffentliche Schulsystem zu investieren, sehr gering ausfällt, da ihre eigenen Kinder nicht von den Problemen dieser Schulen betroffen sind.

Wie eingangs erwähnt, besuchen nicaraguanische Kinder durchschnittlich nur weniger als sechs Jahre die Schule. Im Landesdurchschnitt erreichen 18,8 Prozent das Abitur, wobei mangelnde Leistung eher selten der Grund dafür ist, dass ein Kind nicht die Hochschulreife erhält. Dagegen sind fehlende Finanzmittel und Hilfe bei der Arbeit auf dem Land häufig genannte Gründe für die vorzeitige Beendigung des Schulbesuchs. Auch die Erreichbarkeit einer Sekundarstufenschule kann entscheidend sein. So schafften nach Angaben aus dem Jahr 2005 in den Städten immerhin 28,5 Prozent das Abitur, in der Hauptstadt Managua sogar 30,9 Prozent, auf dem Land hingegen nur 5,6 Prozent der Schülerinnen und Schüler.

Die Misere der Lehrergehälter

Das bereits erwähnte Ende der "Schulautonomie" verschärfte das Problem der ohnehin zu niedrigen Lehrergehälter. Es war allgemein bekannt und wurde, wenn auch nur murrend, hingenommen, dass sich viele Lehrer etwa durch zusätzliche Prüfungen und Nachhilfekurse Nebeneinkünfte geschaffen hatten. So gab es in der Bevölkerung auch überraschend viel Zustimmung für die Forderungen der Lehrer nach höheren Gehältern.

Für die niedrigen Löhne tragen neben den von 1990 bis 2006 verantwortlichen Regierungen auch die Auflagen der Weltbank und insbesondere des IWF Verantwortung. Durch die nominale Festsetzung der Lehrergehälter von 1992 bis 1997 sanken die Reallöhne aufgrund der Inflation beträchtlich. Erst nach 1997 begann ein moderater Anstieg der Lehrerlöhne. Allerdings griff der IWF 2005 durch eine neue Auflage wieder verstärkt in die Lohnpolitik Nicaraguas ein: Von nun an sollte die Gesamtlohnsumme im öffentlichen Sektor real nicht mehr steigen. In der Folge betrug der Durchschnittslohn eines Grundschullehrers "mit Titel" nur noch 52 Prozent des Durchschnittseinkommens im formellen Sektor, in dem es geregelte Arbeitsverhältnisse gibt, die sich nach den Arbeitsgesetzen richten müssen. Nach langen Streiks und Protesten vieler Lehrer wurden in diesem Jahr bedeutende Gehaltserhöhungen erkämpft. Das Grundeinkommen eines Lehrers in der Primaria stieg von ca. 116 auf etwa 140 US-Dollar und bei den Sekundarstufenlehrern von etwa 122 auf ca. 146 US-Dollar. Dies entspricht einer Lohnerhöhung von rund 20 Prozent.

Der Durchschnittslohn der Lehrer in Zentralamerika liegt hingegen bei 350 US-Dollar, einem Betrag, den die Lehrer im Nachbarland Honduras trotz ähnlicher wirtschaftlicher Lage erhalten, von dem die Kollegen in Nicaragua aber selbst mit Hilfe verschiedener Zulagen weit entfernt sind. Ein weiterer Richtwert ist die Relation des Lehrereinkommens zum BIP. Die Weltbank empfiehlt Lehrergehälter, die 3,5 Mal über dem BIP pro Kopf liegen. Um den Richtwert der Weltbank zu erreichen, müsste somit ein Lehrer in Nicaragua etwa 269 US-Dollar verdienen.

Als Folge der niedrigen Löhne entscheiden sich gute Abiturienten nur selten für ein Lehrerstudium, denn sogar einfache Bankangestellte oder Sekretärinnen und Sekretäre erhalten üblicherweise höhere Gehälter. Auch durch diese skandalöse Unterbewertung des Lehrerberufs leidet die Bildungsqualität erheblich.

Die Finanzierung der Universitäten

Die besten Universitäten des Landes sind überraschenderweise öffentlich oder zumindest primär öffentlich finanziert. Seit den 1980er-Jahren stehen den Universitäten nach der Verfassung sechs Prozent des Staatshaushaltes zu. Doch nur etwa zwölf Prozent der Heranwachsenden beginnen ein Universitätsstudium, zudem ist die Abbrecherquote sehr hoch. Die durchschnittlichen öffentlichen Ausgaben pro Student an einer öffentlich finanzierten Universität lagen 2005 bei etwa 911 US-Dollar. Demgegenüber wurden für einen Schüler der Primaria oder Secundaría lediglich 72 US-Dollar ausgegeben. Dass hier eine eklatante Vernachlässigung der Schulbildung gegenüber dem Hochschulstudium vorliegt, wird durch einen Vergleich mit dem OECD-Bildungsbericht 2006 deutlich. Im OECD-Mittel wurden pro Schüler/Student folgende Beträge aufgewendet: Grundschüler = 5.450$, Schüler bis 10. Klasse = 6560$, Sekundarstufe II von Gymnasien, Gesamtschulen und Berufsfachschulen = 7.582$, Student 8.093$.

Die öffentliche Finanzierung der Universitäten erlaubt es diesen, relativ niedrige Gebühren zu erheben und so auch Kindern aus weiten Teilen der Mittelschicht ein Studium zu ermöglichen. Stipendien sind ebenfalls in Verbindung mit guten Schulleistungen üblich. Von Armut oder gar extremer Armut betroffene Kinder können die Schule jedoch meist nicht bis zum Abitur besuchen. Wenn sie es dennoch schaffen, aber kein Stipendium bekommen, ist ihnen der Universitätsbesuch wegen der trotz öffentlicher Zuschüsse meist anfallenden Studiengebühren praktisch verwehrt. So verlangen auch durchschnittliche Universitäten in Provinzstädten oft 30 US-Dollar oder mehr an monatlichen Studiengebühren. Diese Summe ist in einem sehr armen Land wie Nicaragua für die meisten Familien schlicht unbezahlbar. Also sind die hohen staatlichen Ausgaben für die Universitäten im Grunde eine staatliche Förderung der Kinder Besserverdienender.

Die Schieflage in der Bildungsfinanzierung führt dazu, dass das Abitur nur sehr schlecht auf ein Universitätsstudium vorbereitet. "So hat die Hochschule für Ingenieure (UNI) bekannt gegeben, dass von den 2.832 neuen Studienbewerbern, die an der Aufnahmeprüfung teilnahmen, nur eine Handvoll, insgesamt 75, bestanden haben, das heißt eine erschütternd niedrige Rate von gerade mal 2,6 Prozent". Bei diesen Aufnahmeprüfungen im Jahr 2004 wurden nach Angaben der Universität explizit nur Lehrplaninhalte abgefragt.

Fazit und Ausblick

Abschließend ist festzustellen, dass neben der Unterfinanzierung des Bildungssystems auch die sozial unausgewogene Prioritätensetzung und die Konzentration der Gelder auf die universitäre Bildung zu hinterfragen ist. Die mangelhafte materielle und personelle Ausstattung der Schulen, die niedrigen Gehälter für Lehrer sowie unzureichende Anreize und Möglichkeiten zur Weiterbildung haben zu einem niedrigen Niveau der Schulbildung geführt. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Kinder nur die vernachlässigte Grundschule durchlaufen, wird die Verkennung der enormen bildungspolitischen Bedeutung dieser Schulstufe deutlich. Skandalös ist auch die hohe Analphabetenrate von offiziell 23 Prozent.

Die neue sandinistische Regierung hat einige Schritte in die richtige Richtung unternommen und intensiviert den Kampf gegen den Analphabetismus. Durch ihre aktive Unterstützung dieser Kampagne zeigen auch die Universitäten, dass sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind. Die Gehälter der Lehrer werden in den nächsten Jahren weiterhin deutlich steigen müssen, wenn der Lehrerberuf wieder attraktiver gemacht werden soll. Höhere Gehälter wie vorgesehen auch an den Besuch von Fortbildungen zu knüpfen, ist im nicaraguanischen Kontext sinnvoll.

Berechtigte Kritik am derzeitigen Regierungshandeln entzündet sich vor allem daran, dass der auch unter der neuen sandinistischen Regierung weit verbreitete Klientelismus dazu führt, dass die Besetzung der Ämter im Bildungsbereich mehr nach persönlichen Kontakten, familiären Beziehungen und parteipolitischer Nähe erfolgt als nach fachlicher Qualifikation, und so die Umsetzung dieser Schritte gefährden könnte.

Um das Millenniumsentwicklungsziel Grundschulbildung für alle möglichst schnell zu erreichen, müssen mehr Haushaltsmittel für diese Schulstufe bereitgestellt werden. Die sandinistische Regierung muss hier den eingeschlagenen Weg der Entprivatisierung öffentlicher Bildung fortsetzen. Für die von extremer Armut betroffenen Menschen muss es über den bereits kostenlosen Schulbesuch hinaus eine umfassende Lehr- und Lernmittelfreiheit geben. Dabei müssen auch die Kosten für zusätzliche Kleidung und den Schulweg berücksichtigt werden.

Zu fordern ist also, dass die neue sandinistische Regierung ein umfassendes bildungspolitisches Konzept ausarbeitet und umsetzt, das geeignet ist, die aufgezeigten eklatanten Mängel des nicaraguanischen Bildungswesens in kurzer Zeit zu beheben. Nur so kann Nicaragua seinem Status als Billiglohnland mit einem großen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften entkommen und langfristig den Weg aus der Unterentwicklung finden.

Literatur

CEPAL, CEPALSTAT Estadísticas de América Latina

Deutscher Entwicklungsdienst, Länderbericht Nicaragua

Deutsche Unesco Kommission, Weltbericht "Bildung für alle" 2007, Bonn 2006

Envio Nr. 281, 2005

INIDE, Encuesta Nacional de Hogares sobre medición del nivel de vida 2005

Nicaragua Forum Heidelberg, Januar 2004, Juli 2007

Observadir Económico, Adelmo Sandino, 14. September 2006

Rosa Amelia Jiménez, Vizepräsidentin der Escuela Internacional de Agricultura y Ganadería in Rivas, Nicaragua und in den 1980er Jahren Delegierte des Bildungsministeriums für die Provinz Rivas

Worldvision Deutschland e.V., Länderinformation Nicaragua

Weitere Inhalte

Timm B. Schützhofer, Jahrgang 1986, lebte von 2006 bis 2007 in Nicaragua. Dort arbeitete er in der Abteilung für ländliche Entwicklung einer Landwirtschaftshochschule. Des Weiteren war er für das NGO-Netzwerk "Coordinadora Civil" in der Öffentlichkeitsarbeit tätig und dort für die Zusammenarbeit mit der deutschen Solidaritätsbewegung zuständig. Seine Arbeiten erschienen in "Blätter für deutsche und internationale Politik" und "Lateinamerikanachrichten".