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Die deutsche Kolonie in den Subtropen Paraguays

Jörn Breiholz

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Mitten in der Savanne Paraguays leben und arbeiten heute noch 13.000 deutschstämmige Mennoniten. Sie haben sich dort vor mehr als 75 Jahren angesiedelt und eine Milchwirtschaft aufgebaut, die zu den modernsten der Region zählt.

Hamburg in Paraguay. (© Jörn Breiholz)

Im paraguayischen Teil des Savannengebietes Chaco leben heute noch 13.000 deutschstämmige Mennoniten. Vor 75 Jahren siedelten sich ihre Vorfahren hier an, nachdem sie nach dem Ersten Weltkrieg Kanada und Russland verlassen mussten. Die von ihrer Kooperative aufgebaute Milchwirtschaft ist die modernste der Region.

Leise zieht er den Pflug durch die Ackerfurche. Abraham Klassen läuft barfuß hinter seinem Pferd her, auf dem Kopf ein breiter Hut gegen die sengende Sonne, die im Chaco, der heißesten Gegend Südamerikas im Sommer, auf bis zu 45 Grad klettert. Ab und zu ein leichtes Schnalzen, damit das Pferd zügiger voranschreitet, ansonsten klickert nur der Pflug, wenn er auf einen Stein trifft. Friedliche Stille. Abraham Klassen ist 80 Jahre alt und eigentlich würde er viel lieber vorne im Schatten der Hütte sitzen. Aber weil die Preise weltweit im Keller sind, hat die gerade geerntete Baumwolle nicht viel eingebracht, und so muss er es jetzt mit Sesam versuchen. Über sein wettergegerbtes Gesicht huscht oft ein Lächeln. Und wenn man ihm die Frage stellt, warum er als Lengua-Indigena einen deutschen Namen trägt und plattdeutsch spricht, lacht er: "Lang, lang ist es her. Als es hier kaum noch Lengua-Indigena gab. Damals im Krieg war ich allein. Ich hatte keinen Vater mehr und keine Mutter, alle waren gestorben. Da haben sich die Mennoniten um mich gekümmert." Seitdem trägt er den biblischen Vornamen Abraham und den hier bei den Mennoniten sehr verbreiteten Nachnamen Klassen. Drei Jahre, zwischen 1932 und 1935, kämpften Bolivien und Paraguay um den Gran Chaco, die trockene, aber immergrüne Hölle, die bis dahin keinen interessiert hatte außer den wenigen hundert Indigena, die hier lebten. Riesige Ölvorkommen witterte Luis Torres, als er in den Zwanzigern des vergangenen Jahrhunderts seine vermeintlichen Expeditionsergebnisse über sprudelnde Ölquellen in diesem menschenleeren Biotop im Nordwesten Paraguays an die nordamerikanische "Standard Oil" verkaufte und damit die Lunte an den seit Mitte des 19. Jahrhunderts schwelenden Grenzkonflikt legte. 50.000 Paraguayer und 80.000 Bolivianer ließen im Chaco-Krieg ihr Leben, viele verdursteten, bevor die Paraguayer den Krieg für sich entschieden hatten. Bis heute ist kein Öl gefunden worden, auch wenn sich hartnäckig das Gerücht hält, dass die US-Amerikaner sich die angeblich riesigen Ölfelder des Gran Chaco als Notreserve für Krisenzeiten gesichert haben.

Die Moltkerei der Kooperative. (Bild: Jörn Breiholz)

Ausgerechnet in diese Kriegsregion zogen die ersten deutschstämmigen Mennoniten aus Kanada, als sie sich 1927 auf Ochsenkarren und mit Macheten den Weg durch die grüne Hölle des Chacos bahnten. "Wir sind Pazifisten und fassen keine Waffe an", sagt David Sawatzky, der Gerente General, der Generaldirektor der "Kooperative Chortitzer Komitee" der Kolonie Menno, in bestem Hochdeutsch. Einer der Gründe, warum die Mennoniten bereits Anfang des 19. Jahrhunderts auf Einladung Katharina der Großen aus Norddeutschland und Holland in die Abgeschiedenheit der Ukraine und später auch in die kanadischen Wälder geflüchtet waren. Als Kanada und Russland nach dem Ersten Weltkrieg den deutschsprachigen Mennonitenkolonien ihre einst zugesagten Privilegien wie zum Beispiel die deutsche Sprache, eigene Schulen und die Entbindung von der Wehrpflicht aberkannten, wurden sie mit der paraguayischen Regierung schnell handelseinig. Um ihren Anspruch auf den Gran Chaco im heraufziehenden Krieg gegen den nördlichen Nachbarn Bolivien zu verfestigen, siedelte die paraguayische Regierung die Mennoniten im Chaco, der weitgehend unbesiedelten Savannenlandschaft zwischen Argentinien, Bolivien und Brasilien an. Die Mennoniten, nun paraguayische Staatsbürger, handelten für sich weitgehende Sonderrechte aus, die im Gesetz Nummer 514 am 26. Juli 1921 im paraguayischen Parlament in Asuncion verabschiedet wurden. Sie haben bis heute nichts an ihrer Gültigkeit verloren: Religionsfreiheit und Befreiung von Wehrdienst und Eid, das Recht auf deutsche Schulen, die Verfügung über die Besitztümer von Witwen und Waisen und die Einschränkung des Verkaufs alkoholischer Getränke in der Kolonie.

Zweisprachig in spanisch und deutsch ausgeschildert. (Bild Jörn Breiholz)

Der Schulunterricht ist deutsch, mit Büchern und Lehrmitteln aus der Bundesrepublik. So wie auch die Straßenschilder – "Bitte hier nur während der Geschäftszeiten parken" – oder die Geschäftskonversation unter den Mennoniten. Die alten Siedlungshäuser sind deutsche Bauernhäuser und in den Einkaufsläden dudelt deutsche Schlagermusik. Informationsquelle Nummer Eins ist für viele das Fernsehprogramm der Deutschen Welle. Während die Alten untereinander plattdeutsch sprechen und einige bis heute noch kein Spanisch, die offizielle Amtssprache Paraguays, verstehen, sprechen die Jugendlichen immer mehr spanisch. "Unsere Identität ist sicherlich sehr deutsch oder europäisch geprägt, unsere Wertvorstellungen, die Schaffenskraft, der Fleiß", sagt David Sawatzky, Generaldirektor der Kooperative Chortitzer Komitee. "Aber wir fühlen uns längst als Paraguayer." Mit beispielsweise auf bayrischen Landwirtschaftsuniversitäten gesammeltem Wissen hat die Kooperative Chortitzer Komitee hier im weitgehend trockenen Niemandsland Paraguays die auch im Vergleich mit den Nachbarländern modernste Milchwirtschaft weit und breit geschaffen. Mehr als eine Million Hektar Chaco haben allein die Bauernhöfe der Kolonie Menno in den vergangenen 75 Jahren für Vieh- und Ackerwirtschaft gerodet. Chemie-Ingenieur Harold Thiessen ist sichtlich stolz auf die hochmoderne chromblitzende Milch-Industrieanlage aus nahezu ausschließlich europäischer Spitzentechnologie. Zum Beispiel die schwedische Tetra-Pack-Anlage, mit der die Kooperative Chortitzer Komitee Frisch- und H-Milch, Butter und Joghurt verpackt. "Das Schwierigste ist, hier im heißen Chaco die Milch nach dem Melken runter zu kühlen", sagt der 38-Jährige, der für die Verarbeitung der Milch von 1.300 mennonitischen Bauernhöfen rund um Loma Plata verantwortlich ist. "Mit einem ausgeklügelten Logistiksystem schaffen wir es heute innerhalb von vier Stunden, die Milch jedes Bauern zu kühlen, auch wenn er noch so weit entfernt lebt."

Der wirtschaftliche Wohlstand ist in Loma Plata überall präsent: großzügige Schulen, Air-Condition und modernste Computertechnik mit Satellitenkommunikation in den Büros, Jeeps und Mittelklassewagen vor jedem Einfamilienhaus, in den großzügigen Gärten wachsen Orangen- und Apfelsinenbäume. Doch die Insignien paraguayischen Wohlstandes gelten bisher nur für die blonden, weißhäutigen Mennoniten. Die Indigena, klein und dunkelhäutig, leben in billigen Holzhütten und erledigen hauptsächlich die einfachen Arbeiten wie Vieh hüten, Gärten pflegen oder Bauarbeiten. Nur wenige junge Indigena studieren, eine Handvoll Medizinstudenten momentan in Bolivien. Sind die Mennoniten, die ihren Lebensmittelpunkt im christlichen Glauben sehen, etwa Rassisten? Peter Sawatzky, Mennonit, Anthropologe und zuständig für die Indigenasiedlung in Loma Plata: "Die Unterschiede kann ich nicht gutheißen, die sind negativ. Wir müssen aber analysieren und sagen, wo das herkommt. Die Mennoniten sind ein sehr arbeitsames Volk, und Arbeit geht denen fast vor Leben. Und dann sind sie große Kapitalisten. Von der sozialen Struktur her ist der Indigena das Gegenteil. Er ist ein Mann, der leben will und der für den heutigen Tag sorgt, nicht für den morgigen. Das ist der große Unterschied. Und darum haben die Indigena auch weniger."

Etwa 25.000 Indigena leben heute in den drei Mennonitenkolonien, doppelt so viele wie Mennoniten. Viele von ihnen sind im Lauf der Jahrzehnte aus anderen Teilen Paraguays hierher gezogen. Während bei Ankunft der Mennoniten nur eine Ethnie, die Lengua-Indigena, hier lebten, sind es heute zehn verschiedene Indigena-Kulturen: Ayoreo, Sanapaná, Toba-Maskoy oder Guareyos. Der Grund ist die wirtschaftliche Stärke der Mennonitenkolonien. Hier gab es Arbeit, in anderen Landesteilen Paraguays nicht. Heute leben 11.000 Indigena in eigenen Dörfern mit einer eigenen Ökonomie rund um die Mennoniten-Kolonien. Sie sind Ackerbauern, pflanzen Sesam und Baumwolle für den Export und Kartoffeln, Gemüse und Früchte für den Eigenverbrauch. In einem ausgeklügelten System hat die ASCIM, die "Asociacion de Servicios de Cooperación Indígena Mennonita", die Belieferung der Indigenasiedlungen mit Saatgut, Lebensmitteln und Gütern übernommen. Ebenso die Vermarktung ihrer Produkte in der Hauptstadt Asuncion. Die ASCIM hat 300 Mitarbeiter, jeweils zur Hälfte Mennoniten und Indigena.

Mit anderthalb Millionen US-Dollar jährlich allein für die ASCIM fördern die Mennoniten heute die Selbstverwaltung der Indigenasiedlungen, bauen Krankenstationen, Schulen und Einkaufsläden – wohl wissend, dass das Zusammenleben mit den Indigena nur so lange friedlich bleibt, wie die Indigena eine eigene Zukunftsperspektive aufbauen können. "Die Zusammenarbeit ist für uns positiv", sagt Juan Ramoz, Lengua-Indigena und Dorfvorsteher in Yalve Sanga. Von einem tatsächlichen Zusammenleben sind Indigena und Mennoniten allerdings noch weit entfernt, Mischehen gibt es kaum. Es ist – sicherlich noch vor dem Gottvertrauen, das hier jeder betont – die Stärke der Gemeinschaft, die die Mennoniten in den Anfangsjahren vor der Kapitulation vor der grünen Hölle des Chaco bewahrt hat. Komplette Familien wurden von Schlangenbissen, Malaria und auch in Auseinandersetzungen mit den Indigena dahingerafft.

Die Kolonien werden heute wirtschaftlich hauptsächlich in Kooperativen geführt, über deren Finanzen wie auch über die Verwaltung und Infrastruktur wie Straßen, Schulen und Kirchen die Gemeindemitglieder in Vollversammlungen gemeinsam bestimmen. Diese enge Gemeinschaft in jahrhundertealter Tradition verhindert - jedenfalls bis heute - offenbar ein engeres Zusammengehen mit der Kultur der Indigena.

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Jörn Breiholz, geboren 1967 in Wilster (Schleswig-Holstein), arbeitet seit 15 Jahren als freier Journalist in Hamburg, unter anderem als Herausgeber und Chefredakteur des Monatsmagazins HH19 und als Norddeutschland-Korrespondent für die Frankfurter Rundschau. Seit 1994 recherchiert er immer wieder auch in Lateinamerika. Er arbeitet für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Tageszeitungen und Magazine.