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Jugendgewalt in El Salvador | Lateinamerika | bpb.de

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Jugendgewalt in El Salvador

Joanna Kotowski

/ 8 Minuten zu lesen

Sie nennen sich MS oder M18. Und terrorisieren mit brutaler Gewalt ganze Stadtviertel. Um sich gegen diese Maras-Jugendbanden zur Wehr zu setzen, verfolgt der Staat zwei unterschiedliche Prinzipien: die starke und die freundliche Hand.

Jovanny Flores Orellana,19 (links), ist Mitglied der Gang "Mara 18". In El Salvador sollen mehr als 70.000 Personen zu den Gangs Mara 18 und MS gehören. (© AP)

El Salvador ist neben Kolumbien eines der gewalttätigsten Länder Lateinamerikas. Während jedoch die gewaltsamen Tode in Kolumbien allmählich zurückgehen, nahm die Mordrate – ein Indikator für das lokale Gewaltniveau – in El Salvador in den jüngsten Jahren wieder zu und erreichte 2006 den Gipfel von 4.000 Todesfällen. Allein in den vergangenen drei Jahren waren es 10.000. Damit sind seit den Friedensverträgen von 1992 mehr als 50.000 Menschen ermordet worden. Zum Vergleich: Während des Bürgerkriegs von 1980 bis 1992 ließen 75.000 ihr Leben. Die Mehrzahl sowohl der Opfer als auch der Täter sind junge Männer; 81 Prozent der Toten waren zwischen 18 und 39 Jahren, und 82 Prozent waren männlichen Geschlechts.

Mordrate in El Salvador im Vergleich zu anderen Ländern.

Gewalt hat in diesem zentralamerikanischen Land eine lange Tradition. Bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden hier überdurchschnittlich hohe Mordraten verzeichnet, die zurück geführt werden auf die autoritären Regime in den vergangenen 50 Jahren und die extreme soziale Ungleichheit. Die Friedensverträge brachten eine kurzfristige (Waffen-)Ruhe mit sich.

Entwicklung der Mordrate in El Salvador.

Doch dann nahm die Gewalt rapide wieder zu. Einige Studien erklären diese Situation mit der Tatsache, dass die gewalttätige Lösung von Problemen in El Salvador zu einem alltäglichen Verhalten avancierte. Viele der ehemaligen Kombattanten hatten zudem nichts anderes gelernt, als bewaffnet um ihr Überleben zu kämpfen. Die weiterhin vorherrschenden sozialen Gegensätze – mehr als 40 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze – tragen ebenfalls ihren Teil zum Gewaltpotenzial bei.

Die Maras

In El Salvador wird Gewalt vielfach mit der Problematik der Jugendbanden assoziiert. Etwa 30 bis 40 Prozent der Gewaltdelikte mit Todesfolge werden heute den so genannten Maras zugerechnet. Andere Quellen gehen von einem weit geringeren Anteil von etwa zehn Prozent aus. Genaue Statistiken gibt es nicht.

Es soll in El Salvador mehr als 300 gewalttätige Jugendgruppen geben (clikas), und etwa 10.000 bis 35.000 Jugendliche zwischen zehn und 25 bis 30 Jahren sollen den Maras angehören. Das sind ein bis drei Prozent aller Jugendlichen. Auch Mädchen und junge Frauen gehören dazu, etwa ein Fünftel der Mareros sind weiblich. Die Jugendlichen sind in der Regel einer der größeren Jugendbanden angeschlossen. Die beiden wichtigsten sind die Mara Salvatrucha (MS) mit der Untergruppierung MS 13 und die Mara Dieciocho (M 18). Obwohl sie sich im Großraum der Hauptstadt San Salvador konzentrieren (man schätzt, dass es hier um die 100 Gruppierungen oder Cliquen gibt), sind sie im ganzen Land verteilt und stellen kein ausschließlich städtisches Phänomen dar. Es gibt Maras auch in Kleinstädten und Dörfern. Sie haben einen territorialen Charakter, und sie identifizieren sich mit einem bestimmten Ort, Stadtteil, Wohnblock oder Straßenzug, den sie gegen die rivalisierende Mara verteidigen. Die MS und die M 18 bekämpfen sich buchstäblich bis aufs Blut.

Um die Entstehung der Jugendbanden nachzuvollziehen, wurden unterschiedliche Theorien aufgestellt. Zunächst ging man davon aus, dass sie sich weitgehend aus den militarisierten Mitgliedern der verschiedenen bewaffneten Gruppen rekrutierten, die nach dem Bürgerkriegende beschäftigungslos wurden. Daneben wird auf den Bezug zu den früheren Schul- und Sportclubs sowie Stadtteilgruppierungen (Pandillas – die noch heute übliche Bezeichnung für Jugendbanden) verwiesen, die schon seit den 1940er-Jahren miteinander rivalisierten und sich zuweilen auch bewaffnete und blutige Kämpfe lieferten.

Neuere Veröffentlichungen weisen auf den Entstehungshintergrund in den Vereinigten Staaten hin. Während des Bürgerkrieges emigrierten viele Salvadorianer in die USA, insbesondere nach Los Angeles. Die beiden größeren Maras wurden offensichtlich dort gegründet. Die ältere von beiden, die Mara Dieciocho (M 18), bezieht ihren Namen von der 18. Straße im Stadtteil Rampart von Los Angeles. Sie war eine ethnisch gemischte Gang, aber sehr stark unter mexikanischer Führung. Um der M 18 eine salvadorianisch dominierte Gang entgegen zu setzen, wurde Anfang der 1980er-Jahre die Mara Salvatrucha (MS) gegründet. Ihr Name ist eine Kombination aus salva (liebenswürdige Abkürzung für salvadoreño) und trucha (Forelle, auch Synonym für "beweglich"; im lokalen Slang bedeutet es ebenfalls "schlau"). Die MS sollte den Mareros soziale Sicherheit und Schutz vor den bereits bestehenden Gangs bieten. Später wurden auch Emigranten aus Mexiko, Guatemala und Honduras rekrutiert. Die MS erhält zuweilen den Zusatz 13.

Nach den in den 1990er-Jahren einsetzenden Friedensprozessen in El Salvador, Honduras und Guatemala fand eine Zwangsmigration der illegalen Einwanderer aus den USA in ihre Heimatländer statt. Die abgeschobenen Mara-Mitglieder, viele von ihnen ehemalige Gefängnisinsassen, wurden mit Armut, Perspektivlosigkeit und fehlender Zugehörigkeit konfrontiert. Sie formierten sich neu und erhielten großen Zulauf sowohl von Jugendlichen, die nach einer neuen Orientierung suchten, als auch von demobilisierten Sicherheitskräften und Guerilleros, in El Salvador rund 40.000. Mittlerweile haben sich die Maras von Nord- bis Zentralamerika ausgeweitet und vernetzt. Die Gesamtzahl ihrer Mitglieder wird bis auf 500.000 geschätzt. Die meisten Mareros befinden sich in Guatemala, Honduras und El Salvador. Der große Zulauf, den die Jugendbanden heute erfahren, hat gesellschaftliche aber auch psycho-soziale Gründe. Die Jugendlichen suchen in den Banden eine emotionale Stütze, die sie in ihrer nächsten Umgebung nicht bekommen. Für viele ist die Mara ein Familienersatz, sie finden dort Zuneigung, eine eigene Identität, aber auch Schutz, Solidarität und "Brüderlichkeit". Die autoritären und brutalen Regeln geben ihnen eine klare Orientierung. Die Mara ist für die Jugendlichen auch ein Symbol der Auflehnung gegen die Diskriminierung und Marginalisierung, die sie in der Öffentlichkeit erfahren.

Um Mitglied einer Jugendbande zu werden, müssen sich Interessenten brutalen Aufnahmeritualen unterwerfen. Sie müssen etwa wahllos jemanden niederschlagen oder ermorden. Mädchen müssen eine Vergewaltigung durch 10 bis 20 männliche Mitglieder der Clique ertragen. Wer einer Mara angehört, muss nicht nur die Ausübung von Gewalt beherrschen, sondern auch das Erleiden von Gewalt in Kauf nehmen. Tätowierungen am Körper mit den Ziffern 13 oder 18, den Buchstaben MS oder M verraten die jeweilige Mitgliedschaft. Viele Mareros tragen diese Symbole im Gesicht, auf der Brust, dem Rücken oder den Armen. Mitglieder der MS bevorzugen daneben salvadorianische Nationalsymbole als Tattoos und tragen Kleidung in den Nationalfarben weiß und blau, um ihren Nationalstolz zu demonstrieren.

Es wird geschätzt, dass rund 70 Prozent der Mareros bewaffnet sind. Meistens werden die Schusswaffen gegen Mitglieder der verfeindeten Bande eingesetzt, um Rivalitäten auszutragen, das eigene Territorium zu verteidigen oder einen getöteten "Kameraden" zu rächen. Etwa ein Fünftel der Bandenmitglieder berichtet von Aggressionshandlungen gegen andere Mitmenschen, in der Mehrzahl im Zusammenhang mit Raubüberfällen. Aber nur neun Prozent wurden auch mal gegen Bewohner des eigenen Stadtteils ausfällig. Einige der Mara-Cliquen sind in den Drogenhandel verwickelt. Andere werden mit illegalen Waffengeschäften in Verbindung gebracht.

Antwort des Staates: Mano Dura

Um die Gewalt der Maras in Griff zu bekommen und die öffentliche Sicherheit wieder herzustellen, initiierte die damalige konservative Regierung Mitte 2003 das "Programm der Starken Hand" (Programa de Mano Dura), nach dem Prinzip der Null-Toleranz. Allein die Zugehörigkeit zu einer Mara wurde unter Strafe gestellt. Die Polizei begann eine regelrechte Hetzjagd nach Mitgliedern der Jugendbanden, die gelegentlich auch andere Jugendliche traf, die Tätowierungen oder Narben am Körper trugen. Bis März 2004 wurden mehr als 11.000 vermeintliche Bandenmitglieder verhaftet. Mit der Folge: Einige der Bandenkriege werden nun in den Gefängnissen fortgesetzt.

Kurzfristig verschwanden die Mareros aus der Öffentlichkeit – die einen wurden verhaftet, andere hielten sich versteckt und verließen ihre Häuser nicht mehr. Das repressive Vorgehen hat aber nicht den erhofften Rückgang der Jugendgewalt eingeleitet, im Gegenteil. Zwischen 2002 und 2006 hat sich die Mordrate sogar verdoppelt.

Kritiker des Programms machen deutlich, dass mit Mano Dura alle Versuche der Reintegration zunichtegemacht wurden, denn die Polizei machte keinen Unterschied zwischen denjenigen, die gewalttätig waren und jenen, die eine gewaltlose Mitgliedschaft aufrecht erhielten oder gar aussteigen wollten. Sie fordern den Dialog mit den Mareros.

Präventionsprogramme und Mano Amiga

Die Regierung hat allerdings nicht nur mit Repression reagiert. Seit 1999 wurden unterschiedliche Ansätze der Vorbeugung entwickelt und umgesetzt. Unter der konservativen Regierung des derzeitigen Präsidenten Tony Saca wurden seit Mitte 2004 die präventiven Ansätze verstärkt. Es wurde ein Nationales Jugendsekretariat gebildet (eine Art Jugendministerium) und erstmalig eine Jugendpolitik formuliert. Es wurde ein Programm der Jugendförderung initiiert, um gezielt Kinder und Jugendliche aus gefährdeten Stadtteilen anzusprechen: das Programm der freundlichen Hand (Programa Mano Amiga), an dem alle wesentlichen staatlichen Institutionen, Gemeindeverwaltungen und Kirchen beteiligt sind. Erste Ergebnisse zeigen, dass mit der Integration von Jugendlichen auch die gewalttätigen Handlungen abnehmen.

Literatur

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Weitere Inhalte

Joanna Kotowski, geboren 1955 in Szczecin (Polen), seit 1967 in Deutschland, hat Architektur (mit Nebenfächern Soziologie, politische Ökonomie und Stadtentwicklung) an der TH Darmstadt studiert und ist seit 1982 beruflich in unterschiedlichen Entwicklungsländern in Lateinamerika, Afrika und Asien tätig. Seit 1988 ist sie Geschäftspartnerin und Teilhaberin der Consultingfirma SUM (Settlements and Urban Management) Consult in Wiesbaden, die Beratungsaufträge fü Organisationen der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit durchführt.