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Besonderheiten des Rechtssystems

Prof. Dr. Peter Lösche Prof. Dr. Hartmut Wasser Peter Lösche und Hartmut Wasser

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Auch die dritte Gewalt, die Judikative, ist - wie die beiden anderen Gewalten - fragmentiert. Zwei vertikale Gerichtssysteme existieren nebeneinander. Da gibt es auf der einen Seite die Bundesgerichtsbarkeit, die pyramidenförmig aus drei Instanzen besteht. Auf der untersten Ebene befinden sich insgesamt 88 District Courts. Über ihnen stehen elf Berufungsgerichte, die Circuit Courts, und an der Spitze steht der Supreme Court.

Ein Wachmann vor dem Supreme Court in Washington. (© AP)

Dieser ist Oberstes Gericht in allen Streitfällen, die Bundesrecht betreffen. Er ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht, das auf Verfassungsrecht spezialisiert ist. Vielmehr fasst der Supreme Court alle Kompetenzen und Zuständigkeiten zusammen, die in Deutschland den Obersten Bundesgerichten insgesamt zugewiesen sind, also dem Bundesgerichtshof, dem Bundesarbeitsgericht, dem Bundesverwaltungsgericht, dem Bundessozialgericht und dem Bundesfinanzhof.

Auf der anderen Seite gibt es in jedem Einzelstaat ein eigenes Gerichtssystem, das ebenfalls mehrstufig aufgebaut ist und ebenso in einem Supreme Court, aber eben des jeweiligen Einzelstaates, gipfelt. In den einzelstaatlichen Gerichten werden primär Zivil- und Strafrechtsprozesse geführt. Zugespitzt formuliert: In diesen Rechtsbereichen bestehen 50 Varianten des US-amerikanischen Rechtssystems nebeneinander, eben in jedem Einzelstaat ein eigenes. So gilt in einigen Bundesstaaten die Todesstrafe, andere haben sie abgeschafft.

Zur Fragmentierung trägt bei, dass das Bundesrecht und auch Teile des einzelstaatlichen Rechts auf ungeschriebenem Gewohnheitsrecht beruhen, hier also auf der Grundlage von Präzedenzfällen entschieden wird (common law). Andere Teile des einzelstaatlichen Rechts sind jedoch in Gesetzen kodifiziert, und die Gerichte entscheiden über die Auslegung der Gesetze. Diese doppelte Fragmentierung führt zu einer bunten, zuweilen in sich widersprüchlichen Mannigfaltigkeit der Rechtsauslegung.

In keinem anderen Land der Welt wird so viel geklagt wie in den Vereinigten Staaten. Sehr oft geht es darum, eine Geldsumme als Entschädigung für angeblich erlittenes Unrecht zu erstreiten. Diese Klagefreudigkeit ist auch Ausdruck der politischen Kultur des Landes. Die Hemmschwelle, "gegen die da oben", gegen staatliche Stellen jeder Art zu klagen, ist viel niedriger als in der Bundesrepublik. "Der Staat" mit seinen Institutionen wird nicht als etwas Besonderes angesehen, Staatsverehrung existiert nicht. Im Gegenteil, es entspricht der US-amerikanischen Skepsis gegen jede Art von Machtanhäufung, dass gegen staatliche Einrichtungen geklagt wird, wenn diese die Rechte eines Bürgers oder einer Bürgerin zu verletzen scheinen.

Rolle des Supreme Court

In unserem Zusammenhang interessiert die dritte Gewalt als politische Institution, insbesondere die Rolle des Obersten Gerichtes auf Bundesebene im US-amerikanischen Herrschaftssystem. Der Supreme Court besteht aus neun Richterinnen und Richtern, die der Präsident "auf Anraten und mit Zustimmung" des Senats ernennt. Der Vorschlag des Präsidenten bedarf nach Artikel II, Abschnitt 2 der Verfassung einer Mehrheit der anwesenden Senatoren. Die Richterbestellung ist also zwischen Exekutive und Legislative aufgeteilt. Um die Unabhängigkeit der Richter abzusichern, werden sie auf Lebenszeit ernannt. Mithin müssen sie bei ihren Entscheidungen auf die Meinung des sie vorschlagenden Präsidenten und des sie bestätigenden Senats keine Rücksicht nehmen. Das Gericht trifft seine Entscheidungen mehrheitlich. Von der Mehrheit abweichende Minderheitsauffassungen werden mit der Urteilsbegründung veröffentlicht (dissenting opinion).

Der Supreme Court hat in seiner mehr als 200jährigen Geschichte verschiedene Rechtsziele mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung verfolgt:

  • Bis zum Bürgerkrieg (1861-1865) fällte er Entscheidungen, die die Union gegen die Sonderinteressen der Einzelstaaten stärkten.

  • Von 1865 bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts verfocht er privatwirtschaftliche Interessen gegen jede Art staatlicher Regulierung im wirtschaftlich-sozialen Bereich.

  • Seit 1937 unterstützte er die Gesetzgebungsprogramme des New Deal, ließ also den Eingriff des Bundesstaates in Wirtschaft und Gesellschaft zu.

  • Nach 1945 setzte er Schritt für Schritt die Rassentrennung außer Kraft (etwa im Bildungswesen) und erzwang die Abschaffung der Rassendiskriminierung in allzu eklatanten Fällen, so bei der Wahrnehmung des Wahlrechts.

  • In der jüngeren Vergangenheit hat der Supreme Court vor allem den Schutz individueller Freiheitsrechte und die Durchsetzung des Gleichheitsprinzips befördert. Bei der Güterabwägung zwischen dem Recht des Individuums und den staatlichen Ansprüchen entschied das Gericht überwiegend zugunsten des Einzelnen. Insbesondere die Presse- und Redefreiheit, wie sie im ersten Zusatzartikel der Verfassung festgelegt ist, wurde hochgehalten.

Umstritten ist momentan, ob der Patriot Act, unmittelbar nach den Terrorangriffen des 11. September 2001 zum Zweck der Inneren Sicherheit verabschiedet, bestimmte Bürgerrechte außer Kraft setzt, so den Schutz vor willkürlicher Durchsuchung und willkürlicher Verhaftung und das Recht auf ein unverzügliches öffentliches Gerichtsverfahren. Nach dem Patriot Act können verdächtige Bürger als "feindliche Kombattanten" verhaftet und ohne Rechtsbeistand vor ein Militärgericht gestellt werden. Entsprechende Verfahren gegen das Gesetz dürften im Verlauf des Jahres 2004 den Supreme Court erreichen.

Unterschiede zum Bundesverfassungsgericht

Der Oberste Gerichtshof kann sich weigern, bestimmte Fälle zur Entscheidung anzunehmen, dann nämlich, wenn die Vermutung besteht, dass ein Konflikt nicht justiziabel ist, sondern es sich um eine "politische Frage" handelt, die von der Exekutive oder Legislative auch politisch zu entscheiden ist. So hat der Supreme Court es abgelehnt darüber zu entscheiden, ob ein Staat diplomatisch anerkannt werden müsse oder nicht. Diese Entscheidung obliege allein dem Präsidenten. Diese political question-Doktrin gibt es im deutschen Verfassungsrecht (bisher) nicht, so dass das Bundesverfassungsgericht auch solche Fälle entscheiden muss, bei denen die politische Absicht des Antragstellenden unverkennbar ist und das Gericht gleichsam zum Ersatzgesetzgeber bzw. "Ersatzpolitiker" gemacht wird.

Gleichwohl sind manche Entscheidungen des Supreme Court von großer politischer Brisanz. In der Öffentlichkeit heftig umstritten war zum Beispiel das Urteil Brown versus Board of Education von 1954, in dem das Gericht die Trennung von weißen und schwarzen Kindern in öffentlichen Schulen, wie sie die Verfassung des Staates Kansas vorsah, für verfassungswidrig erklärte. Im Nachhinein betrachtet stellte diese Entscheidung einen Meilenstein in der US-amerikanischen Geschichte auf dem Weg zur Emanzipation der Schwarzen dar. Angesichts der Bedeutung mancher Urteile nimmt es daher kein Wunder, dass es bei der Neubesetzung von Richterstellen immer wieder zu heftigen Konflikten zwischen Präsident und Senat kommt. Denn der Präsident möchte natürlich Kandidaten durchsetzen, die mit seinen eigenen politischen Positionen und Wertvorstellungen übereinstimmen und über seine Amtszeit hinaus wirken. Insbesondere die Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Ronald Reagan konnten eine relativ hohe Zahl von Richtern ernennen. Es ist aber immer wieder erstaunlich, wie schnell die Bundesrichter sich von den politischen Erwartungen lösen, die ein Präsident in sie setzt. Das beste Beispiel aus moderner Zeit ist die Ernennung von Earl Warren zum Präsidenten des Obersten Bundesgerichts durch Eisenhower. Der ursprünglich konservative Gouverneur des Staates Kalifornien wurde zum konsequenten Befürworter liberaler Entscheidungen.

Der Oberste Gerichtshof hat im Laufe seiner Geschichte größte Autorität gewonnen. Meinungsumfragen haben immer wieder ergeben, dass sein Ansehen in der Bevölkerung viel größer ist als das des Präsidenten und des Kongresses. Er ist zu einem respektierten und einflussreichen Akteur im System der checks and balances, dem System der Machtaufteilung, Machtdiffusion und Machtverschränkung, geworden.

Fussnoten

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Prof. em. Dr. Peter Lösche, lehrte am Seminar für Politikwissenschaften der Georg-August-Universität in Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Politik und Gesellschaft der USA, Parteien und Verbände sowie Parteien- und Wahlkampffinanzierung.

Hartmut Wasser, geb. 1937, ist seit 2002 emeritiert und lehrte zuletzt an der Pädagogischen Hochschule Weingarten Politikwissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte sind das politische System der USA und zunehmend die Biographie des dritten Präsidenten der USA, Thomas Jefferson.