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Hassan und die anderen | Indien | bpb.de

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Hassan und die anderen Das Leben von Straßenkindern in Delhi

Stefan Mentschel

/ 7 Minuten zu lesen

50.000 Minderjährige sind allein in Delhi gezwungen, einer Arbeit nachzugehen. Manche müssen das Geld verdienen, um ihre Familien zu unterstützen. Andere sind von zu Hause weggelaufen und schlagen sich allein durchs Leben.

Hassan (10) arbeitet als Müllsammler
Foto: Stefan Mentschel

Hassan ist zehn. Doch was er erzählt, mag so gar nicht zu seinem unschuldigen Kindergesicht passen. "Jeden Morgen mache ich mich auf den Weg durch die Stadt, um Müll zu sammeln. Glas, Plastikflaschen, Folie, alte Zeitungen – alles, was sich irgendwie zu Geld machen lässt, nehme ich mit." Der schmächtige Junge deutet auf zwei Säcke aus geflochtenem Kunststoff. "In die kommt alles rein." Für den mageren Erlös von 60 Rupien (etwa ein Euro) muss Hassan hart arbeiten. Täglich legt er über 15 Kilometer zu Fuß im Straßendschungel der indischen Hauptstadt Delhi zurück, um sein Pensum zu schaffen.

Der Weg führt ihn vorbei an zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die Touristen/innen aus dem In- und Ausland anziehen – und wo es an verwertbarem Abfall nicht mangelt. Vom Stadtteil Nizamuddin mit dem berühmten Grabmal des Mogul-Herrschers Humayun geht es Richtung Norden zur alten Festung Purana Qila und weiter zum India Gate, einem gewaltigen Torbogen, der an die 90.000 im Ersten Weltkrieg gefallenen indischen Soldaten erinnert. "Das ist die erste Etappe", erzählt Hassan. "Aber manchmal lasse ich das India Gate weg." Die nächsten Stationen sind die Jama Masjid, Indiens größte Moschee mit Platz für 25.000 Gläubige, und das Rote Fort, auf dessen Zinnen Jawaharlal Nehru im August 1947 die Unabhängigkeit seines Landes von der britischen Kolonialmacht verkündete. Von dort läuft der kleine Müllsammler jeden Abend zurück nach Nizamuddin.

Bereits seit seinem sechsten Lebensjahr arbeitet Hassan. Die Schule verließ er nach ein paar Monaten. "Mein Vater hat mich ständig verprügelt", erzählt er freimütig, "da bin ich von zu Hause weggelaufen." Dennoch ist der Kontakt zu seiner Familie nie ganz abgerissen. Eltern und vier jüngere Geschwister leben in einem Elendsviertel im Nordosten der Millionenmetropole. "Ab und an besuche ich meine Mutter und bringe ihr Geld, aber nur wenn Vater nicht da ist."

Zum Geldverdienen in die Stadt

Trotz aller Probleme hat Hassan Glück, denn jemand kümmert sich um ihn. Versteckt im Gassengewirr Nizamuddins gibt es einen Anlaufpunkt für Straßenkinder, in dem sie die Nacht verbringen können. Es ist eine von drei Einrichtungen dieser Art, die die 1989 ins Leben gerufene Kinderrechtsorganisation Butterflies (Schmetterlinge) in Delhi betreibt. "Unser Angebot richtet sich an Straßenkinder, die sonst keinerlei Unterstützung erhalten, die ganz allein das Geld für ihr tägliches Überleben verdienen müssen", erklärt Zaved Nafis Rahman, der das Projekt für Butterflies betreut.

Jeden Abend um sechs Uhr öffnet der so genannte Night Shelter seine Türen. In dem großen Raum im Kellergeschoss eines alten Bürogebäudes haben bis zu 50 Kinder Platz. Doch erst im Winter, wenn auch in Delhi die Temperaturen nachts bis nahe an den Gefrierpunkt fallen können, wird es voll. Jetzt im Herbst kommen im Schnitt 20 bis 30 Jungen. "Es gibt nur wenige Mädchen, die auf der Straße leben", sagt Zaved. Grund dafür sei, dass Mädchen viel seltener ihr zu Hause verlassen, um Geld zu verdienen. Zum einen weil es für sie viel gefährlicher ist, sich durchzuschlagen. Zum anderen weil dem traditionellen Rollenverständnis entsprechend noch immer meist die männlichen Familienmitglieder für das Einkommen der Familie sorgen. Auch Gaffar kam vor einem Jahr aus seinem Dorf in die Großstadt, um Geld zu verdienen. "Ich habe sieben Geschwister und das Einkommen meines Vaters ist zu gering, um die ganze Familie zu ernähren. Daher habe ich mich entschlossen, in Delhi Arbeit zu suchen." Nach seiner Ankunft arbeitete der 14-Jährige an einem kleinen Imbissstand, wo er auch übernachten konnte. Doch als ihn der Besitzer nach einem Monat ohne Bezahlung davonjagte, musste sich Gaffar mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Mal half er als Bedienung bei privaten Hochzeiten, mal verdingte er sich als Küchenhilfe. Später begann auch er, Abfälle zu sammeln. Und bis ihm jemand vom Night Shelter erzählte, schlief er auf der Straße.

Wie Hassan ist auch Gaffar inzwischen regelmäßiger Gast bei Butterflies. Hier kann er sich waschen, ausruhen und satt essen. Zudem gibt es schulische Angebote, denn fast alle Jungen haben nie lesen noch schreiben gelernt. Alle Hilfsangebote sind kostenlos, bis auf eine Ausnahme. Für die warme Mahlzeit müssen allabendlich 2 Rupien und 50 Paisa bezahlt werden. "Mit diesem symbolischen Betrag verfolgen wir ein pädagogisches Ziel", erläutert Zaved. "Unsere Schützlinge sollen lernen, mit ihrem verdienten Geld verantwortungsbewusst umzugehen."

Eine Bank für Kinder

In diesem Zusammenhang hat die Organisation etwas Einmaliges entwickelt. Seit April 2001 gibt es die Children's Development Bank, die Entwicklungsbank für Kinder. Sie ermöglicht arbeitenden Kindern und Jugendlichen, ihr mühsam verdientes Geld anzulegen und zu sparen. "Das Leben auf der Straße ist sehr unsicher", weiß Sozialarbeiter Suraj Prakash, zuständig für die Bank, die es inzwischen auch in anderen Teilen Indiens sowie im benachbarten Ausland gibt. Oftmals würden die Kinder von Erwachsenen bedroht und bestohlen. Selbst die Polizei nehme ihnen bei Razzien zuerst das Geld ab.

Im Night Shelter von Nizamuddin hat die Bank ihren festen Platz. In einem dicken Register sind die Namen aller Mitglieder – offiziell gehört die Bank den Kindern – sowie der Kontostand und alle Ein- und Auszahlungen vermerkt. Zudem hat jeder Junge ein eigenes Sparbuch, das die gleichen Informationen enthält. "Wir bieten ein Giro- und ein Sparkonto mit jeweils 3,5 Prozent Zinsen an", informiert Suraj. "Auf dem Sparkonto bleiben alle Eingänge für ein halbes oder ein ganzes Jahr unangetastet. Auf das Girokonto kann täglich zugegriffen werden – genau wie bei einer Großbank." In Einzelfällen werden sogar Kredite gewährt, über deren Vergabe ein eigens eingerichtetes Komitee entscheidet.

Gaffar ist ein fleißiger Sparer. Jeden Tag zahlt er einen kleinen Betrag auf sein Konto ein – meist 10, manchmal 20 Rupien. "Mit einem Teil des Geldes unterstütze ich meine Familie, der andere Teil ist für meine Zukunft." Auch Hassan würde gern etwas zurücklegen, wissen die Sozialarbeiter. Doch seine Mutter übe noch immer großen Einfluss auf ihn aus, so dass er ihr regelmäßig fast seinen ganzen Lohn überlasse.

Mobiler Anlaufpunkt am Bahnhof

Warten auf den richtigen Moment. Müllsammler springen am Bahnhof Nizamuddin auf einen einfahrenden Zug auf
Foto: Stefan Mentschel

Am Bahnhof von Nizamuddin, einem der vier großen Fernbahnhöfe Delhis, richten Butterflies-Mitarbeiter jeden Nachmittag einen mobilen Anlaufpunkt ein. Doch hier ist der Zuspruch weniger groß. "Viele der 12- bis 16-Jährigen, die in den Zügen Müll sammeln, geben ihr Geld für billigen Klebstoff zum Schnüffeln aus", weiß Asif Chaudhary. Zugeben freilich würde das keiner der Jungen, mit denen der Sozialarbeiter und seine Kollegen neben den Gleisen 500 Meter vor dem Terminal ins Gespräch kommen. Einer von ihnen heißt Manoj. Er ist seit drei Jahren in Delhi und seine Geschichte ähnelt denen vieler Straßenkinder.

Doch bevor Asif richtig mit dem 14-Jährigen ins Gespräch kommt, hat etwas anderes das Interesse des Jungen geweckt. Ächzend schiebt sich ein Zug Richtung Bahnhof. Asif schaut auf die Uhr: "Kurz nach drei. Das ist der Mangala-Express aus Kerala." Vor 52 Stunden und 20 Minuten ist er an Indiens Südwestspitze abgefahren, die Küste hinauf, an Mumbai – dem früheren Bombay – vorbei bis in die Hauptstadt. Über 3.000 Kilometer. In diesem Zug gibt es jede Menge Abfall. Das wissen auch Manoj und seine Freunde, die mit ihren Plastiksäcken am Bahndamm warten. Als die 20 blauen Waggons schließlich vorbeirollen, springt einer nach dem anderen auf und verschwindet zwischen den Reisenden.

Ein Junge mit Piratentuch auf dem Kopf allerdings zwängt sich in die entgegengesetzte Richtung. Kurz vor dem Bahnhof verlässt er den Express und landet direkt vor Asifs Füßen. "Wie heißt du? Woher kommst du?", fragt der Sozialarbeiter und legt ihm die Hand freundschaftlich auf die Schulter. Sein Name sei Rannu, erzählt er etwas schüchtern. In Agra – Heimat des weltberühmten Taj Mahal und über 200 Kilometer südlich von Delhi gelegen – habe er den Zug bestiegen, um im Auftrag seines Onkels Erdnüsse zu verkaufen. Fünf Rupien kostet ein kleines Päckchen. Über 20 ist er schon losgeworden. Und auf der Rückreise möchte er ebenso viele absetzen. "Jeden Tag bin ich auf dieser Strecke unterwegs", erzählt Rannu. "Das ist mein Leben."

15 Minuten, nachdem der Mangala-Express eingefahren ist, kehren Manoj und die anderen Jungen zurück. Sie lachen, denn die Tour war erfolgreich. In einer schäbigen Baracke, wenige Schritte von den Gleisen entfernt, füllt jeder "seine" Abfälle in einen eigenen großen Sack. Dessen Gewicht entscheidet am Abend über die Höhe des Lohns. Vorher allerdings werden Essensreste und andere nicht verwertbare Dinge aussortiert und ein paar Meter weiter an einer Böschung entsorgt. Dort balgen sich Raben, Hunde, Schweine und Kühe um den stinkenden Unrat. Kurze Zeit später sprinten die Jungs dem nächsten Zug hinterher.

Arbeiten, um zu überleben

Wie lange sie das noch machen können, ist fraglich. Nach den verheerenden Anschlägen auf mehrere Vorortzüge in Mumbai, bei denen im Juli über 200 Menschen ums Leben kamen, sind auch in Delhi die Sicherheitsvorkehrungen an Bahnhöfen massiv verstärkt worden. "Einerseits sind diese Maßnahmen sicherlich unvermeidlich", sagt Asif, "andererseits verlieren die jugendlichen Müllsammler durch neue Zäune und schärfere Kontrollen ihre einzige Einnahmequelle."

Sein Kollege Zaved macht auf ein weiteres Problem aufmerksam. Am 10. Oktober 2006 trat eine Gesetzesänderung in Kraft, die es verbietet, Kinder unter 14 Jahren in Restaurants, Teestuben, Imbissen und ähnlichen Einrichtungen zu beschäftigen. "Zwar sollen damit Kinder vor Ausbeutung geschützt werden", weiß Zaved. "Doch viele der rund 50.000 arbeitenden Minderjährigen in Delhi werden durch diese Maßnahme ihre Jobs verlieren. Und die Regierung bietet ihnen keine Alternativen."

Hassan weiß nicht viel von Gesetzen. Doch auch er spürt, dass der Druck auf Straßenkinder wie ihn größer wird. "Ich würde ja gern zur Schule gehen", sagt der Zehnjährige, "aber ich muss arbeiten, um zu überleben."

Weitere Informationen

Dieser Text erschien in fluter.de, dem Jugendmagazin der bpb.

Fussnoten

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Stefan Mentschel ist Politikwissenschaftler, freier Autor und Journalist. Nach Studium an der Freien Universität, Volontariat und Redakteurstätigkeit in Berlin lebt und arbeitet er heute in Neu Delhi. In Zeitungen und Zeitschriften wurden zahlreiche Artikel und Reportagen von ihm aus und über die Region Südasien veröffentlicht. 2005 erschien sein Buch "Right to Information: An Appropriate Tool Against Corruption" (Mosaic Books, New Delhi). Für die Bundeszentrale hat er das vorliegende Dossier konzipiert und redaktionell betreut.