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Russische Juden in Israel

Olaf Glöckner

/ 7 Minuten zu lesen

Russischsprachige Juden sind momentan die größte Minderheit in Israel. Durch massive Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion ist ihr Anteil auf 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung gestiegen.

Die knapp eine Millionen russischsprachiger Juden haben das israelische Alltagsleben u.a. durch die russische Küche beeinflusst. (© Hanna Huhtasaari)

Auf der multikulturellen Palette der israelischen Gesellschaft bilden russischsprachige Juden die gegenwärtig größte Minderheit. Durch eine massive Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion seit Ende der 1980er Jahre ist ihr Anteil auf 20 Prozent der jüdischen und auf 14 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes gestiegen. Die Große Russische Alijah, erst ermöglicht durch den Zusammenbruch des Sowjetstaates, bescherte Israel fast eine Million Neubürger. An nahezu jeder Straßenecke des Landes wird heute neben Hebräisch auch Russisch gesprochen.

Die "russischen Juden" – ein stark vereinfachender Terminus für alle jüdischen Immigranten aus der früheren UdSSR - sind als Gesamtgruppe keineswegs homogen zusammengesetzt. 600.000 Personen kamen aus Russland und der Ukraine, weitere 200.000 waren zuvor als bucharische Juden in Zentralasien und als georgische Juden in der Kaukasusregion beheimatet. Vor allem im europäischen Teil der Sowjetunion lebten viele Juden in Mischehen, so dass sich unter den Immigranten mindestens 20 Prozent Familienangehörige befinden, die nicht jüdisch im Sinne der jüdischen Religionsvorschriften (Halacha ) sind.

Zuwanderung von Juden aus der früheren Sowjetunion nach Israel 1989-2007

JahrAnzahl
198912.721
1990 185.230
1991 147.839
1992 65.093
1993 66.145
1994 68.079
1995 64.848
1996 59.048
1997 54.621
1998 46.032
1999 66.847
2000 50.816
2001 33.600
2002 18.525
2003 12.423
2004 10.130
20059.431
2006 7.470
2007 6.502
Total 985.400

Quelle: Central Bureau of Statistics (CBS) / Jewish Agency of Israel, 2008

Die überwiegende Mehrheit der Immigranten hat in der UdSSR in städtischen Zentren gewohnt und sucht in Israel vergleichbare Wohnbedingungen. Allerdings sind die russischen Juden in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa - den eigentlichen Metropolen des Landes - bisher unterrepräsentiert. In mittleren und kleineren Städten wie Ashdod, Carmel oder Ma´alot stellen sie dagegen mehr als 30 Prozent der Einwohnerschaft und bekleiden bereits wichtige kommunale Ämter. In die von Israel besetzte Westbank siedelte nur eine verschwindend geringe Zahl.

Wirkung auf Wirtschaft und Kunst

Ein besonders hervorstechendes Merkmal der russischsprachigen Juden ist ihr extrem hoher Bildungsgrad – rund 60 Prozent verfügen über einen Hochschulabschluss. Am stärksten vertreten sind die Berufsgruppen der Ingenieure (75.000) und Lehrer (40.000). Daneben sind rund 15.000 Ärzte sowie 25.000 Krankenschwestern und -pfleger eingewandert, weshalb Israel heute über eines der dichtesten medizinischen Versorgungssysteme weltweit verfügt. Die bisher größten Wirkungen erzielte die Einwanderung indes in der Ökonomie und in der Wissenschaft. So kam es Mitte der 1990er Jahre zu einer ersten Konjunkturwelle mit jährlichem Wirtschaftswachstum um die 6 Prozent. Gleichzeitig vervielfachte sich die Summe der angemeldeten Patente und verdoppelte sich die Zahl zitierter israelischer Forscher in internationalen Fachzeitschriften. 13.000 russische Wissenschaftler sorgten für einen beispiellosen Innovationsschub in Forschungsdisziplinen wie Physik, Mathematik, Maschinenbau, Informatik, Biochemie und Neurophysiologie. Auch das israelische Kunst- und Kulturleben erfuhr während der 1990er Jahre enorme Bereicherungen, hierbei vor allem die Klassische Musik, aber auch Theater, Ballett und Literatur. Mit der einheimischen Kunstszene gibt es kreative Überschneidungen. Berühmtestes Beispiel hierfür ist das von Lena Kreindlin und Yevgeny Arye geleitete Theater "Gesher" ("Brücke") in Tel Aviv, welches schon jetzt als das beste des Landes gilt und sein in- und ausländisches Publikum wechselweise mit russischen und hebräischen Vorstellungen begeistert (www.gesher-theatre.co.il). Auch im israelischen Alltagsleben setzen die Neuzuwanderer prägende Akzente, sei es durch Mode, Straßenmusik oder russische Küche. Israel wird europäischer.

Integration ja, Assimilation nein

Zu Beginn der 1990er Jahre galt den russischen Juden ein herzliches Willkommen, bedeutete ihr Zuzug doch eine gewaltige demographische und strategische Stärkung für das kleine Land im Nahen Osten. Überraschung löste allerdings aus, dass die Immigranten kaum Neigung zeigten, sich in den jüdischen "Schmelztiegel der Nationen" assimilieren zu wollen. Wohl infolge negativer Erfahrungen im früheren Sowjetstaat wehrten und wehren sich die russischen Juden gegen jede Form von politischer oder religiöser Vereinnahmung. So blieben die vom israelischen Oberrabbinat organisierten Kurse zum Religionsübertritt für nichtjüdische Familienangehörige fast gänzlich wirkungslos. Viele russische Juden pflegen zudem einen Lebensstil, der auch in der Öffentlichkeit mit den Vorstellungen und Traditionen anderer Bevölkerungsgruppen – wie denen der orientalischen Juden – deutlich kollidiert. Gegenseitige Klischeebildungen ("ungläubige Russen", "ungebildete Levante") und räumliche Abgrenzungen sind die Folge, zu einem mancherorts befürchteten "Kulturkampf" ist es dagegen nicht gekommen.

Erfolge in der Politik

Bis heute befürwortet die Mehrheit der Israelis kontinuierliche Einwanderung. Mitte der 1990er Jahre wuchsen aber gegenüber den russischen Juden Konkurrenzängste, Vorurteile und Stigmatisierungstendenzen, was durch eine sensationsgierige Boulevardpresse noch angeheizt wurde. Spektakuläre Berichte über die "russische Wirtschaftsmafia", "russische Prostituierte" und "Alkoholmissbrauch" zirkulierten nun gehäuft und dürften ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass sich die Immigranten über eigene organisatorische Strukturen zu verteidigen begannen. So war es keine wirkliche Überraschung, dass mit "Israel ba Alijah" ("Israel in der Einwanderung") und "Israel Beitanu" ("Unser Haus Israel") gleich zwei "russische" Parteien noch während der 1990er Jahre den Sprung ins israelische Parlament – die Knesset – schafften und sich in den Folgejahren auch an verschiedenen Regierungskoalitionen beteiligten. Aus dieser Position der Stärke heraus konnte beispielsweise mehr für eine erfolgreiche Integration am Arbeitsmarkt und eine effizientere Förderung von zugewanderten Wissenschaftlern getan werden.

Die Partei "Israel ba Alijah", 1996 gegründet von dem legendären Dissidenten Natan (Anatoly) Sharansky, hatte ihren Zenit allerdings schon bei den Wahlen 2003 überschritten und spielt heute nur noch auf kommunaler Ebene eine Rolle. Deutlich erfolgreicher entwickelte sich die 1999 gegründete Partei "Israel Beitanu", die heute zum Block "Nationale Union" gehört und deren Vorsitzender Avigdor Lieberman mittlerweile auch von nicht-russischen Israelis gewählt wird.

Insgesamt gelten die russischen Juden als unideologische und pragmatische Wähler, verschiedene empirische Studien attestierten aber viel Sympathie für eine rechtskonservative Innenpolitik. So befürwortet ein Großteil der Immigranten die Liberalisierung der israelischen Wirtschaft und hegt andererseits eine tiefe Abneigung gegenüber jedweden sozialistischen und egalitären Gesellschaftskonzepten. Im israelisch-palästinensischen Dauerkonflikt vertreten die meisten russischen Juden relativ harte Positionen und sprechen sich – besonders seit der Zweiten Palästinensischen Intifada - gegen größere territoriale Kompromisse aus. Im Kontrast hierzu engagiert sich eine Minderheit von russisch-jüdischen Intellektuellen nach wie vor in israelischen Friedensgruppen und -initiativen.

Eigene Medien und Eliten

Viele russische Juden in Israel legen Wert auf kulturellen Zusammenhalt - oft auch dann noch, wenn die individuelle Integration längst geglückt ist. Rund 500 russische Interessenverbände und Dachorganisationen wurden zu Beginn des neuen Milleniums gezählt - darunter solche von Wissenschaftlern, Unternehmern, Künstlern, Pädagogen und Kriegsveteranen. In fast jeder israelischen Stadt finden sich heute russische Bibliotheken, Kulturklubs und Selbsthilfeorganisationen. Für die überregionale Kommunikation sorgt ein starker russischsprachiger Mediensektor mit Dutzenden von Wochen- und Monatszeitungen sowie Literaturjournalen. Die Tageszeitung "Vesty" wird von rund 65% der Immigranten gelesen Ein eigener Radiosender ("REKA"), ein russischsprachiger Fernsehsender im Land ("Israel plus") und Kabelfernsehen aus Moskau und New York (unter anderem "rtvi") komplettierten die mediale Versorgung und garantieren zugleich Internationalität und Transnationalität.

In den russischsprachigen Medien kommen regelmäßig auch Intellektuelle und Wissenschaftler zu Wort, die schon während der Sowjetzeit als Teil der dortigen "Intelligenzija" betrachtet wurden. Ein Teil von ihnen - wie beispielsweise der Physiker und Schriftsteller Alexander Voronel – war bereits Anfang der 1970er Jahre nach Israel emigriert. Gerade in den Kreisen der "Intelligenzija" wird laut darüber nachgedacht, nicht nur russisches Kultur- und Bildungserbe in Israel weiter zu pflegen, sondern den Jüdischen Staat auch nach ganz eigenen Vorstellungen mitzugestalten und zu verändern. So plädieren bekannte russisch-jüdische Erziehungswissenschaftler für eine umfassende Reform des israelischen Bildungssystems und haben eigene Schulmodelle entwickelt, nach denen in einzelnen Fällen bereits mit staatlicher Genehmigung unterrichtet wird. Aber auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – wie etwa den Geisteswissenschaften - bestimmen russisch-jüdische Intellektuelle zunehmend den öffentlichen Diskurs mit. Die wachsende Teilhabe der russischen Juden an den gesamtgesellschaftlichen Prozessen in Israel scheint der beste Indikator dafür zu sein, dass ein großer Teil von ihnen seinen Platz in Israel gefunden hat. Dies schließt enge Rückbindungen an die frühere Heimat und eine weiterhin tiefe Verwurzelung in der russischen Sprache und Kultur offensichtlich nicht aus. Bis zum Jahre 2001 hatten nur rund 6 Prozent der eingewanderten russischen Juden Israel wieder verlassen. Diese im internationalen Vergleich sehr niedrige Re-Migrations-Rate belegt eine beachtliche Integrationsleistung des Jüdischen Staates in kürzester Zeit, an der sich andere Einwanderungsländer durchaus orientieren können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Michal Wolffsohn/Douglas Bokovoy: Israel. Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Opladen 1996, S. 282.

  2. Zur international üblich gewordenen Verwendung des Terminus´ "Russische Juden" für die Gesamtgruppe der jüdischen Emigranten vom Territorium der früheren Sowjetunion vergleiche: Julius H. Schoeps et al. (ed.), Russische Juden und Transnationale Diaspora, Berlin/Wien 2005, sowie: Eliezer Ben Rafael et al., Building a Diaspora. Russian Jews in Israel, Germany and the USA, Leiden/Boston 2006.

  3. Uzi Rebhun/Chaim I. Waxman (ed.), Jews in Israel. Contemporary Social and Cultural Patterns. Brandeis University Press 2004, p. 83.

  4. Vgl. Eliezer Ben Rafael et al., Building a Diaspora. Russian Jews in Israel, Germany and the USA, Leiden/Boston 2006, p.58.

  5. Vgl.: Lothar Mertens, Alijah. Die Emigration der Juden aus der UdSSR/GUS, Bochum 1993.

  6. Larissa Remennick, Transnational Community in the Making. Russian Jewish Immigrants of the 1990ies in Israel. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, July 2002, p.521.

  7. Larissa Remennick, Russian Jews on Three Continents. Identity, Integration and Conflict. New Brunswick 2007, p.80.

  8. Vgl.: Robert Stone, Israel Hits Rich Seam in Ex-Soviet Immigrants. In: Science, 17. Mai 1999, p. 892 ff.

  9. Larissa Remennick, Russian Jews on Three Continents. Identity, Integration and Conflict. New Brunswick 2007, p.125.

  10. Eliezer Ben Rafael et al., Building a Diaspora. Russian Jews in Israel, Germany and the USA. Leiden/Boston 2006, p.59.

  11. Eliezer Ben Rafael et al., Building a Diaspora. Russian Jews in Israel, Germany and the USA. Leiden/Boston 2006, p.229.

  12. Vgl. Mark Tolts, Demographische Trends unter den Juden der ehemaligen Sowjetunion. In: Russische Juden und Transnationale Diaspora. Hrsg. von Julius Schoeps et al., Berlin/Wien 2005, S.31.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 2.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 2.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Olaf Glöckner für bpb.de

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Weitere Inhalte

Olaf Glöckner studierte Israelwissenschaften, Neuere Geschichte und Jüdische Studien an der Humboldt-Universität Berlin und an der Universität Potsdam. Seit 2003 ist er Mitarbeiter am internationalen Forschungsprojekt des Moses Mendelssohn Zentrums. Arbeitsschwerpunkte am MMZ: Russisch-jüdische Emigration nach 1989/90, Israel und der Nahostkonflikt, Antisemitismus in Vergangenheit und Gegenwart.