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Der Kibbutz im Wandel | Israel | bpb.de

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Der Kibbutz im Wandel

Eliezer Ben-Rafael

/ 8 Minuten zu lesen

Der erste Kibbutz entstand 1909 am Ufer des Sees Genezareth. 60 Jahre nach der Staatsgründung leben 2,2% der Israelis in Kibbuzzim und 4,5% in Moschavim. Wie haben sich die Kibbuzim verändert und welche Zukunft haben Sie?

Orangenernte im Kibbutz Na'an. (© National Photo Collection Israel)

Unter Kibbutz verstand man auf dem Kibbutz-Sektor jahrzehntelang, bis Ende der 1990er-Jahre, eine Gemeinschaft, die auf dem Prinzip der Gleichheit in allen wesentlichen Bereichen des Lebens beruhte, ein kollektives Unternehmen, das sich mittels eigener Arbeitskraft und materieller Ressourcen alleine durchschlug und sich aufgrund seines Bewusstseins, ein Modell von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung zu verkörpern, als elitär empfand.

Wandel der Kibbutzim

Die Wirtschaftskrise Mitte der 1980er-Jahre löste ein wahres Erdbeben im ganzen Kibbutz-Sektor aus und sollte in den folgenden zwei Jahrzehnten zu gravierenden Veränderungen führen. Vom wirtschaftlichen Zusammenbruch war die israelische Wirtschaft insgesamt betroffen, doch für die Kibbutzim war er doppelt so schmerzhaft wie für andere Unternehmen, da sie, ungefähr sieben Jahre zuvor, mit dem Sieg der Likud-Partei über die Linke, die traditionell die Kibbutz-Bewegung immer unterstützt hatte, die meisten öffentlichen Posten in Israel räumen mussten. Infolge der Krise stiegen die Schulden vieler Kibbutzim um ein zigfaches an, was sie in nie da gewesene Liquiditätsprobleme stürzte. Der Ruf nach weit reichenden Veränderungen innerhalb der Kibbutz-Strukturen wurde in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens immer fordernder und spiegelte sich bald in neuen Gewohnheiten wieder, wie kostenpflichtigen Mahlzeiten im kollektiven Speisesaal, der Öffnung der Kinderhäuser für zahlende Kunden von außerhalb des Kibbutz, einer Stärkung der Positionen der Manager in Betrieben, der Abschaffung der wöchentlichen Generalversammlung, der Zusammenführung der persönlichen Budgets in eine Art Familiengehalt usw.

Ein besonders radikaler Einschnitt war Anfang 2000 der Beschluss zahlreicher Kibbutzim, die Wohnungen von Mitgliedern zu privatisieren und zu deren persönlichem Eigentum zu machen. Ein weiterer, nicht weniger radikaler Schritt war die Einführung verschiedener individueller Gehälter je nach Position und Rang, Spezialisierung und individueller Leistung. Das Gemeinschaftsleben wurde auch dadurch beeinflusst, dass in einigen Siedlungen neue Viertel ("Erweiterungen") für Nicht-Mitglieder errichtet wurden, die im Kibbutz wohnten, aber außerhalb des Kibbutz arbeiteten, für die Dienstleistungen in der Siedlung bezahlten und an einigen der lokalen, sozialen und kulturellen Aktivitäten teilnahmen. Außerdem wurden in manchen Kibbutzim Eigentumsrechte am Kapital des Kibbutz in Fabriken auf die Mitglieder aufgeteilt, womit das Prinzip des kollektiven Eigentums zugunsten eines kooperativen Modells beschnitten wurde. Diese Veränderungen ließen die Frage aufkommen, ob es noch angemessen sei, von einem "Kibbutz" zu sprechen. Die Versuchung ist groß, diese Frage mit Endgültigkeit dahingehend zu beantworten, dass der Kibbutz sozusagen seine "historische Mission" ausgeschöpft hat. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, riefen im Jahre 2002 die Landesverwaltung, die zentralen Kibbutz-Organe und andere öffentliche Stellen kraft Regierungsbeschlusses (vom 19. Mai 2002) das Öffentliche Komitee für die Klassifizierung der Kibbutzim (den Ben-Rafael-Ausschuss) ins Leben.

Neue Modelle der Kibbutzidee

Nach 14-monatigen Diskussionen kam der Ausschuss, der von der Regierung 2004 ausdrücklich bestätigt wurde, zu dem Schluss, dass zwischen zwei Kibbutz-Kategorien unterschieden werden muss: dem "sich verändernden Kibbutz" (auf Hebräisch: kibbutz mitkhadesh) und dem "konservativen Kibbutz" (kibbutz shitufi). Letzterer bezieht sich auf jene Kibbutzim, die beschlossen haben, dem klassischen Modell treu zu bleiben; ersterer beschreibt jeden Kibbutz, der zumindest eines der folgenden Merkmale aufweist: (a) Privatisierung der Wohnungen; (b) differenzierte Gehälter für die Mitglieder; (c) Aufteilung der genossenschaftlichen Anteile an den Produktionsmitteln auf die Mitglieder. Über diese Schlussfolgerung hinaus räumten die Mitglieder der Kommission eine grundlegende Asymmetrie zwischen dem kibbutz mitkhadesh und dem kibbutz shitufi ein. Während letzterer ein bekanntes Organisationsmodell darstellt, lässt das erste Modell eine weite Palette von Möglichkeiten offen, in Bereichen wie der Organisation von Erziehung, der Aufteilung der Ressourcen, der Unterteilung der Einkommensklassen, der Rechte des Einzelnen, der Strukturierung der Arbeit, der Richtlinien für Arbeitgeber und Arbeitnehmer und Ähnliches.

Dieser Pluralismus macht es noch wichtiger, klarzustellen, welches die Mindestanforderungen für einen Kibbutz sein sollten, um noch als "Kibbutz" zu gelten – wo die "rote Linie" verläuft, die die Grenze markiert. Das Komitee betonte in diesem Zusammenhang erstens das Prinzip der gegenseitigen Verantwortung (´arevut hadadit). In den Kibbutzim shitufim, wo jeder das Gleiche vom Kollektiv erhält, unabhängig von seinem oder ihrem Beitrag, bildet dieses Prinzip das Herzstück der kollektiven Erfahrung und muss nicht näher ausgeführt werden. In den Kibbutzim mitkhadshim hingegen sieht es anders aus, da das Leben viel individualistischer abläuft und die Antwort der Gemeinschaft auf die Erfordernisse der Menschen durch formelle und spezifische Übereinkünfte geregelt wird. Was das Komitee sicherstellen wollte – und was später in den Institutionen der Bewegung festgeschrieben wurde – ist, dass Mitgliedern eines Kibbutz, in jedem Fall und soweit ihm oder ihr nicht die Mitgliedschaft entzogen wurde, ein Korb von sozialen, wirtschaftlichen, die Ausbildung und die Gesundheit betreffenden Rechte garantiert werden sollte, die nicht zu weit von jenen entfernt sein sollten, die sich ein Privilegierter leisten konnte. Dieser Korb sollte letztendlich höhere Standards gewährleisten als die großzügigsten Wohlfahrtsstaaten ihren Bürgern bieten. Das zweite "eiserne" Prinzip war die besondere Zweidrittelmehrheit, die erforderlich war, wenn es um die Bewilligung organisatorischer Veränderungen von grundlegender Bedeutung durch die Gemeinschaft ging. Demnach sollte die Gemeinschaft ein selbstverantwortliches gesellschaftliches Organ bleiben, dessen Entwicklung das Gespräch und die gegenseitige Überzeugung unter seinen Mitgliedern mit einschließt. Diese zwei Grundsätze – gegenseitige Verantwortung und besonderes Mehrheitswahlrecht – sollten, laut Kommission, gewährleisten, dass der kibbutz mitkhadesh den ursprünglichen Zielen des Kibbutz im Wesentlichen treu bleibt.

Wandel oder Bruch?

Unter diesem Gesichtspunkt können Veränderungen – so weit reichend sie auch sein mögen – eher als Wandel denn als Bruch interpretiert werden: die Privatisierung von Wohnungen wird nicht einfach als Entkollektivierung einer wichtigen Gemeinschaftsressource, sondern als eine neue Phase der "Familisierung" des Leben im Kibbutz verstanden, die ihren Höhepunkt Ende der 1970er-Jahre erreichte, als die Kibbutzim beschlossen, die Kinder zum Schlafen aus den Gemeinschaftshäusern in die elterlichen Wohnungen zurückzuholen. Ähnlich kann die Privatisierung der Produktionsmittel, die auf eine Verschiebung vom kollektiven zum kooperativen System hinweist, als ein Mittel zur Stärkung der Arbeitsmotivation der Mitglieder angesehen werden, die als solche im Grunde dem Kibbutz ja zugute kommt. Die Erweiterung des Kibbutz ist zwar ein ziemlich drastischer Schritt, da er die klassische Definition des Kibbutz als "geo-sozial klar abgegrenzte Einheit" verschwimmen lässt. Das Phänomen der nicht nur vorübergehenden Ansiedlung einer Gruppe von Nicht-Mitgliedern ist eine Innovation, die rigorose Folgen für die Zukunft der Siedlung nach sich zieht. Dennoch weisen Befürworter dieser Änderung darauf hin, dass Nicht-Kibbutzniks immer schon einen bedeutenden Teil der Bevölkerung eines Kibbutz ausgemacht haben – junge Leute aus dem Ausland, die hier für ein paar Monate geblieben sind, hebräische Schulen für Immigranten, Gruppen von Jugendlichen, die sich auf das Leben im Kibbutz vorbereitet haben usw. Die Neuerung ist daher vermutlich nicht so gravierend wie es auf den ersten Blick aussehen mag.

All das führt unvermeidlich zu einer anderen Frage, nämlich ob ein solcher Wandel darüber "etwas aussagt", wie sich Kibbutzniks selbst sehen. Forschungen zur heutigen kollektiven Identität der Kibbutzniks zeigen, dass sie großteils der Meinung sind – unabhängig vom Modell der Siedlung –, der Kibbutz habe sich weit von seiner ursprünglichen Intention entfernt, insbesondere was die Gleichheit unter seinen Mitgliedern und die Involvierung der Bewegung in die israelische Gesellschaft betrifft. Individuelle Interessen wie das Streben nach Lebensqualität und persönliche Sicherheit stellen die überwiegenden Motive für das Leben im Kibbutz dar. Dass man das gemeinsame Eigentum an materiellen Mitteln und die gegenseitige Verantwortung hochhält ist im Großen und Ganzen alles, was von den "alten" Werten geblieben ist. Außerdem scheint unter den Kibbutzniks Konsens darüber zu herrschen, dass der Kibbutz, selbst heute noch, ein ganz besonderes – wenn nicht einzigartiges – soziales Gefüge darstellt.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Unterschiede zwischen den Kibbutzmodellen in dieser Hinsicht nicht von Bedeutung wären. Es scheint in der Tat so zu sein: je mehr mitkhadesh ein Kibbutz, umso weniger teilen seine Mitglieder Werte wie Egalitarismus, der die "Seele" des klassischen Kibbutz war. Andererseits stellen die Kibbutzniks in shitufi Kibbutzim oft ihre Kibbutz-Identität vor ihre kollektiven Identitäten – meist vor ihre Zugehörigkeit zu Berufsgruppen. Was den allgemeinen Eindruck hinterlässt, dass Kibbutzniks im Großen und Ganzen immer noch eine Gesamtheit sind, wenn auch einige Unterscheidungsmerkmale zu erkennen sind, je nachdem wie die Kibbutzidentität im Zuge der Entwicklung der Kibbutzim formuliert wurde.

Dennoch lief der Wandel auf dem Kibbutz-Sektor weder in koordinierter noch geplanter Form ab. Mitglieder der einzelnen Kibbutzim wussten natürlich, was in anderen Kibbutzim zur gleichen Stunde, als sie über ihre Pläne diskutierten und abstimmten, passierte, doch kann man auf keinen Fall von irgendeiner Gleichzeitigkeit sprechen. Die Krise im Jahr 1985 war der Auslöser für einen allgemeinen Wandel, der an verschiedenen Orten die verschiedensten Formen annahm. Dass man trotzdem von den Kibbutzim als einem Sektor sprechen kann, beruht darauf, dass sie gemeinsame und gesellschaftlich ganz entscheidende organisatorische Merkmale aufweisen und ihre Mitglieder ihre Identität aus einigen gemeinsamen Prämissen ableiten. Darüber hinaus ist das Kollektiv der Schauplatz, auf dem Lebensmodelle und soziale Strukturen entworfen werden, ob es sich nun um einen Kibbutz shitufi oder mitkhadesh oder auch um ein Zwischending handelt. Die Mitglieder bleiben, in allen praktischen Belangen, Mitglieder und nicht einfach nur Bewohner. Das ist ein Privileg der Kibbutzniks, die im Kollektiv, heute wie gestern, die Arrangements und die soziale Ordnung der Gemeinschaft festlegen, in der sie leben.

Aus dieser Situation resultiert allerdings auch, in den shitufi wie den mitkhadesh, eine weitere Grundregel für das Leben im Kibbutz: dessen Mitglieder haben immer die Möglichkeit, die "Regeln zu brechen" und ihr Gemeinschaftsleben außerhalb des Kibbutz-Rahmens weiterzuführen. Da sie selbst die Entscheidungsträger sind, haben sie auch das Recht, zu beschließen, "zu gehen" und die "rote Linie" zu überschreiten. Die Loyalität zu dem, was einen Kibbutz zu einem Kibbutz macht, liegt allein in ihrer Hand. Ein Kibbutznik zu bleiben ist heute mehr als je zuvor stets von neuem eine bewusste Entscheidung, denn, anders als in der Vergangenheit, ist durch die Privatisierung von Wohnungen, durch individuelle Löhne und Gehälter sowie persönliche Rechte am kollektiven Eigentum – wo diese eingeführt wurden – die Möglichkeit gegeben, als Einzelner oder im Kollektiv – im Zuge weiterer Entkollektivierung – auszusteigen. Gerade weil es möglich ist, dass Kibbutzniks sich dahingehend mitreißen lassen und beschließen, Veränderungen selbst über die flexibelste Definition dessen "was ein Kibbutz ist" hinaus voranzutreiben, macht den Kibbutz der Zukunft zu einer Herausforderung.

Weitere Inhalte

Eliezer Ben-Rafael ist Professor für Soziologie, er lehrte u.a an den Universitäten in Tel Aviv und Jerusalem. Er veröffentlichte hauptsächlich zu den Themen jüdische Identität und Sprache in Israel sowie zum Thema Transformation des Kibbutz.