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Analyse: Die Geschichte aus der Perspektive der Bürger der Visegrád-Staaten – Verklärung der Vergangenheit oder gesellschaftliche Amnesie? | Polen-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Geschichte aus der Perspektive der Bürger der Visegrád-Staaten – Verklärung der Vergangenheit oder gesellschaftliche Amnesie?

Małgorzata Fałkowska-Warska

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Die Bürger der Staaten der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) wissen nicht viel über bedeutende Persönlichkeiten der Nachbarländer. Die Polen sind eindeutig führend, was Optimismus, eine positive Bewertung der letzten beiden Jahrzehnte und den Stolz auf die eigene Geschichte angeht. In der Beurteilung der negativen Episoden der eigenen Geschichte gehen die Einschätzungen in den Visegrád-Staaten stark auseinander.

Papst Johannes Paul II - die eindeutige Nummer Eins des polnischen Nationalstolzes. (© picture-alliance/AP)

Zusammenfassung

Die Bürger der Staaten der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) wissen nicht viel über bedeutende Persönlichkeiten der Nachbarländer. Die Polen sind eindeutig führend, was Optimismus, eine positive Bewertung der letzten beiden Jahrzehnte und den Stolz auf die eigene Geschichte angeht. In der Beurteilung der negativen Episoden der eigenen Geschichte gehen die Einschätzungen in den Visegrád-Staaten stark auseinander. Das Wissen über die eigene Geschichte und über einander, über die geographische und kulturelle Nähe sowie über die historischen Verbindungen der vier Staaten in der Mitte Europas ist nicht weit verbreitet.

So nah und so unbekannt

Die Ergebnisse der in den vier Ländern der Visegrád-Gruppe durchgeführten Untersuchungen zeigen, dass sie außergewöhnlich geringe Kenntnisse über die wichtigsten historischen Persönlichkeiten der Nachbarn haben, gleichgültig ob ihr Platz in der Geschichte positiv oder negativ besetzt ist. Eine gewissermaßen natürliche Ausnahme stellen die Tschechen und Slowaken dar, die aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit die wichtigsten Namen ihrer Geschichte relativ gut kennen. Doch auch hier kann man Einwände haben: Jeder vierte Slowake kann keinen berühmten Tschechen nennen und etwas mehr Tschechen (28 Prozent) keinen bedeutenden Slowaken. Polen nimmt hier eine etwas herausgehobene Position ein. Es kann drei historische Persönlichkeiten vorweisen, die in jedem der vier Länder bekannt sind, wenn auch in Abstufungen. Dies sind Papst Johannes Paul II. und Lech Wałęsa und in weit geringerem Grad Wojciech Jaruzelski. Auch der Grad der Unkenntnis polnischer Persönlichkeiten ist in den Ländern der Visegrád-Gruppe geringer. »Nur« 80 Prozent der Ungarn nennen keinen polnischen Namen (dies ist angesichts einer über 90 prozentigen Unkenntnis tschechischer oder slowakischer Persönlichkeiten gar nicht schlecht) sowie 58 Prozent der Slowaken und 41 Prozent der Tschechen. In der Allgemeinbildung der Nachbarn schneidet die polnische Geschichte also recht gut ab. Zweifellos hat der große Bekanntheitsgrad von Johannes Paul II. und in geringerem Ausmaß der von Lech Wałęsa daran Anteil – Persönlichkeiten, die auf die Transformation in dieser Region und überhaupt auf die letzten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts großen politischen Einfluss hatten. Lech Wałęsa wird darüber hinaus mit der Solidarność-Bewegung identifiziert, die vor und nach 1989 außergewöhnlich viel von sich reden machte und deren Rolle bei der Systemtransformation in der ganzen Region hoch geschätzt wurde. Die einzige Persönlichkeit in den übrigen Ländern der Visegrád-Gruppe, die einen ähnlichen Bekanntheitsgrad erlangte, ist Václav Havel.

Die Tschechen sind die Nation, die ein wenig besser in der Geschichte der Region Ostmitteleuropa orientiert zu sein scheint. Unter ihnen ist die Prozentzahl derer, die keine positiv oder negativ eingeschätzte Persönlichkeit aus den anderen Ländern nennen können, am niedrigsten. Die Untersuchungsergebnisse über die Polen geben keinen Anlass zu Optimismus. Die Polen sind häufig nicht in der Lage, eine Persönlichkeit zu nennen, die für die Geschichte der Partnerländer von Bedeutung war. Jeder fünfte Pole (21 Prozent) nennt Václav Havel, wobei man annehmen kann, dass dieser Anteil in der letzten Zeit gewachsen ist. Über 90 Prozent der Polen kennen keinen Namen aus der Geschichte der Slowaken oder Ungarn. Das zeigt, dass die in der polnischen Kultur verwurzelten Sprichwörter, die eine starke und freundschaftliche Beziehung zwischen den Nationen suggerieren (beispielsweise sinngemäß »Pole und Ungar, zwei Geschwister, sowohl im Kampf als auch beim Fest«), ihre Aktualität verloren haben und nicht die Wirklichkeit wiedergeben. Die Ungarn wissen über die polnische Geschichte wenig, die Polen über die ungarische gar nichts.

Die historischen Beziehungen zwischen Polen und Ungarn werden allerdings in den Untersuchungsergebnissen in zwei herausragenden Fällen bestätigt, nämlich mit Stefan Batory, König Polens im 16. Jahrhundert und vorher Fürst von Siebenbürgen, und Józef Bem, polnischer General, der die Ungarn in ihrem Aufstand 1848/49 anführte. Die Polen nennen unter den ungarischen Persönlichkeiten an zweiter Stelle Stefan Batory (nach János Kádár). Dies ist ein Beispiel für ein gewisses historisches Bewusstsein (1,2 Prozent der Antworten). Dass in dieser Auflistung Józef Bem auftaucht (0,5 Prozent), verweist dagegen auf eine historische Ignoranz. Wenn General Bem von Ungarn genannt wird (4 Prozent), dann korrekterweise als Pole (3. Platz).

Held oder Antiheld? Die schwierige Abrechnung mit der Nachkriegsgeschichte

Persönlichkeiten der polnischen Geschichte wecken unter Tschechen, Slowaken und Ungarn keine besonderen Emotionen. Erwartungsgemäß wird Johannes Paul II. am positivsten eingeschätzt – mit 75 Prozent im Durchschnitt der drei Länder. Negativ bewerten ihn etwas über 1 Prozent der Ungarn und Slowaken und 2,3 Prozent der Tschechen. Interessant ist die Bewertung von Lech Wałęsa, der bei einem recht hohen Bekanntheitsgrad nicht einfach zu bewerten zu sein scheint. 14 Prozent der Tschechen und 16 Prozent der Slowaken geben an, dass sie Wałęsa kennen, aber seine Rolle in der Geschichte nicht bewerten zu können. Weitere 13 Prozent der Tschechen und 15 Prozent der Slowaken sagen, dass sie ihn weder positiv noch negativ bewerten. Dafür sind verschiedene Ursachen denkbar. Vor allem die, dass die Befragten nur den Namen Wałęsa kennen, aber nicht wissen, wer das ist. Auch können sie Probleme mit der Bewertung seiner Leistungen haben, wenn sie womöglich gehört haben, wie stark polarisierend er in der polnischen Gesellschaft wirkt. Diese Hypothese wird durch die Antwort »weder positiv noch negativ« unterstützt, die hier häufiger als bei anderen Persönlichkeiten genannt wurde.

In Polen, wo die Mehrheit ihren ehemaligen Staatspräsidenten positiv beurteilt (65 Prozent), gibt es aber auch entschiedene Gegner (15 Prozent) sowie Menschen, die ihm gegenüber ambivalent eingestellt sind (18 Prozent bewerten ihn weder positiv noch negativ). Ein ähnliches Phänomen, aber mit negativen Vorzeichen, lässt sich im Fall der kommunistischen Staatsführer beobachten. Wojciech Jaruzelski wird von 43 Prozent der Polen negativ bewertet, Władysław Gomułka von 45 Prozent. Die Nachbarnationen beurteilen Jaruzelski und Gomułka ebenfalls eher negativ, allerdings in einem weit geringeren Maß. Dies ist ein allgemein verbreitetes Phänomen hinsichtlich kommunistischer Politiker; es lässt sich die Tendenz einer ähnlichen Verteilung der Antworten im eigenen Land wie auch in den Nachbarländern feststellen, wobei beim Nachbarn viel häufiger die Antworten »Kenne ich nicht« und »Ich kann diese Person nicht beurteilen« genannt werden.

Im Falle Polens ist der casus Wojciech Jaruzelski (1981–1989 Erster Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei – PZPR, verantwortlich für die Verhängung des Kriegsrechts) außergewöhnlich interessant, der besser als Władysław Gomułka (1956–1970 Erster Sekretär der PZPR, d. i. in der Zeit der Arbeiterunruhen in der Küstenregion mit tödlichem Ausgang im Dezember 1970) abschneidet. Im Gegensatz zu Gomułka hat Jaruzelski neben seinen Gegnern auch viele entschiedene Anhänger und Verteidiger in der öffentlichen Meinung, auch unter wichtigen Solidarność-Akteuren, und seine negative Rolle in der Geschichte Polens wurde stark relativiert. Dies spiegelt sich in der öffentlichen Meinung wider – jeder vierte Pole beurteilt Jaruzelskis historische Rolle positiv (!).

In keinem der Länder der Visegrád-Gruppe kann man von einer nur negativen Beurteilung der sozialistischen Staatsführer sprechen (Klement Gottwald, Gustáv Husák, János Kádár, Wojciech Jaruzelski), nicht einmal derjenigen, die mit Adolf Hitler zusammengearbeitet haben (Jozef Tiso).

Auch in Polen gibt es keine eindeutige Bewertung der Volkrepublik Polen und ihrer führenden Köpfe, und die Auseinandersetzungen darüber sind in der öffentlichen Debatte sehr sichtbar. Wir haben dabei mit zwei miteinander verflochtenen Erscheinungen zu tun, sowohl mit einer »verwaschenen Historisierung« als auch mit einer Relativierung der Geschichte. Zweifellos ist die Geschichte ungewöhnlich stark präsent in der polnischen öffentlichen Debatte – bis zu dem Grad, dass sogar rein pragmatische und politische Entscheidungen selten ohne historische Kontextualisierung oder Bezugnahme auf Ereignisse der Vergangenheit begründet werden. Freilich ist diese Historisierung oft sehr oberflächlich und sind die Geschichtskenntnisse der Gesellschaft, wie die hier vorgestellte Untersuchung zeigt, ziemlich gering. Dies fasse ich unter den Begriff »verwaschene Historisierung« – den Entscheidungen und Ereignissen wird ein historischer Kontext hinzugefügt, aber dieser ist flach, er beschränkt sich häufig nur auf Stichworte und wird für rein emotionale Argumentationen ausgenutzt. Hinzu kommt eine starke Relativierung der historischen Ereignisse, für die in gewissem Maß gerade die Solidarność-Akteure verantwortlich sind (z. B. Lech Wałęsa und der Chefredakteur der Tageszeitung »Gazeta Wyborcza«, Adam Michnik) sowie solche Vertreter der Wissenschaft, die nicht gern mit der eigenen Vergangenheit abrechnen und ebenso ungern die Vergangenheit anderer untersuchen und bewerten. Es lässt sich darüber hinaus fragen, welchen Einfluss die Entscheidung zugunsten des sogenannten »dicken Strichs«, d. i. der Trennung der Phase vor und nach der Transformation, auf die gegenwärtige Situation hat, d. h. auf die emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen über die Geschichte und die Uneindeutigkeit der Bewertung der Ereignisse von vor über 20 Jahren. (Möglicherweise hätte eine radikalere Lösung in der Anfangsphase der unabhängigen Republik langfristig Ruhe gezeitigt.)

Zu den hier dargestellten Phänomenen kommt der vor allem in Polen allgemeine Stolz auf die eigene Geschichte (in den anderen Ländern ist er weniger verbreitet). 76 Prozent der Polen behaupten, dass sie stolz oder sehr stolz auf die eigene Geschichte sind. Dies ist innerhalb der Visegrád-Gruppe das höchste Ergebnis, gefolgt von den Tschechen (59 Prozent) und den Ungarn (57 Prozent), während die Slowaken mehrheitlich keine Meinung zu diesem Thema haben.

Der besondere Platz der Geschichte und sogar die spezifische Art von Martyrium, die zum polnischen öffentlichen Diskurs gehören, sind nicht verwunderlich. Diese Art zu denken ist stark in der Identität der polnischen Gesellschaft verwurzelt, die weder während der Teilungen Polens (1795–1918) noch in der Zeit der Volksrepublik offen thematisiert werden konnte. Das Denken in nationalen Kategorien war im Grunde häufig ein Denken über Polen, dem Leid zugefügt worden war und dem die Unabhängigkeit und alte Größe (manchmal sogar mit Rückbezug auf die Zeit der Jagiellonen, d. h. auf das »Polen von Meer zu Meer«, d.i. von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer) zustand. Auf der anderen Seite kehrten viele Themen, die in der Volksrepublik gezwungenermaßen beschwiegen wurden oder in den 1990er Jahren nicht aufgearbeitet wurden, mit doppelter Macht zurück und rufen immer noch Kontroversen hervor (z. B. das Kriegsrecht und die Überprüfung einer eventuellen Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst, die sogenannte Lustration).

In allen Ländern der Visegrád-Gruppe lässt sich ein allgemeiner Trend ausmachen, was die Bewertung der eigenen Helden oder Antihelden betrifft. Die Bürger bekunden ihre Sympathie und ihr Vertrauen entweder herausragenden politischen Persönlichkeiten aus längst vergangenen Zeiten oder auch aus der jüngeren Vergangenheit (Königen und Führungspersönlichkeiten, die für die Größe und Unabhängigkeit stehen, Karl IV., Tomáš Masaryk, Lajos Kossuth, Maciej Korwin, Józef Piłsudski, Tadeusz Kościuszko, Milan Štefánik, Alexander Dubček) oder verdienten Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur (Jan Komensky, der Hl. Wenzel, der Hl. Stefan, Johannes Paul II., Marie Curie-Skłodowska, Frédéric Chopin, Nicolaus Copernicus, Pavol Hviezdoslav). Die einzigen zeitgenössischen Politiker sind Lech Wałęsa in Polen (14 Prozent, Platz 3) und Václav Havel in Tschechien (26 Prozent, Platz 3), sie sind im allgemeinen Bewusstsein Symbole des Umbruchs und der Transformation des Systems.

Die eindeutige Nummer Eins des polnischen Nationalstolzes ist Papst Johannes Paul II. Zum einen ist er der erste Pole, der tatsächlich Einfluss auf die geopolitische Situation nahm, zum anderen ruft er in der polnischen Gesellschaft nicht solche Teilungen hervor wie zum Beispiel Wałęsa, der auch zu den Personen gehört, für den sich ein Prozentsatz von Polen schämt oder der von ihnen negativ beurteilt wird.

Auch bei der Liste der Antihelden der betreffenden Nationen lässt sich eine gemeinsame Tendenz feststellen. Diese Listen werden ausnahmslos von Politikern dominiert. Es lassen sich zwei Hauptkategorien von Politikern unterscheiden: Diejenigen, die während des Zweiten Weltkriegs oder in der sozialistischen Epoche aktiv waren (Klement Gottwald, Gustáv Husák, Mátyás Rákosi, Ferenc Szálasi, Wojciech Jaruzelski, Bolesław Bierut, Jozef Tiso), und diejenigen, die in der Gegenwart Politik betreiben (Václav Klaus, Václav Havel, Ferenc Gyurcsány, Viktor Orban, Jarosław Kaczyński, Lech Wałęsa, Vladimír Mečiar, Ján Slota). Die Polen stechen durch eine besonders kritische Einstellung gegenüber aktuellen Politikern hervor und nennen sechs aktuelle und vier sozialistische Politiker (die Slowaken 5 – 5, die Tschechen vier aktuelle und sechs in der Vergangenheit aktive, die Ungarn zwei aktuelle und acht in der Vergangenheit aktive). Bemerkenswert sind auch die ungewöhnlich kleinen Unterschiede bei den Antworten der Polen (das Spektrum der Antworten reicht von 1,3 Prozent bis 7,7 Prozent). Relativ wenige Polen nennen überhaupt eine Persönlichkeit aus der Geschichte Polens, derer sie sich schämen; zwei Drittel der Polen (67 Prozent) nennen niemanden (29 Prozent sind der Ansicht, dass es niemanden gibt und 38 Prozent wissen nicht, wie sie die Frage beantworten können). Dies ist eine recht konsequente Antwort hinsichtlich der Frage nach dem Stolz auf die eigene Geschichte: nur 2 Prozent der Polen schämen sich der eigenen Vergangenheit.

Den ersten Platz in dieser Negativbewertung nimmt Jarosław Kaczyński ein (7,7 Prozent), vor drei kommunistischen Würdenträgern (Wojciech Jaruzelski, Bolesław Bierut, Władysław Gomułka). Kaczyński auf dem ersten Platz zeigt die Stärke der negativen Emotionen, die er hervorruft. Es ist frappierend, dass der gegenwärtige Oppositionsführer die kommunistischen Führer überholt, die für die Stalinzeit (Bierut 5 Prozent), die Niederschlagung der Dezemberunruhen 1970 (Gomułka 3,5 Prozent) und das Kriegsrecht (Jaruzelski 6,5 Prozent) stehen.

Dieses Ergebnis ist, ähnlich wie der »Sieg« des populistischen Politikers Vladimir Meciar über den Staatspräsidenten des slowakischen Vasallenstaates und Hitler-Verbündeten Jozef Tiso bezüglich der Unbeliebtheit, außergewöhnlich auffällig. An erster Stelle lässt sich eine gewisse Unreflektiertheit der Befragten wahrnehmen, die zwei Realitäten, die historische und die heutige, vermischen. Die Bürger bringen zwei Fragen zusammen, die vollkommen unvergleichbar sind: Die politische Auseinandersetzung in einem demokratischen Staat und das entsprechende Medienecho erhalten das gleiche Gewicht und werden sogar stärker gewichtet als der Machtmissbrauch im autoritären Staat, der Terror und Tod zur Folge hatte. Es scheint, als trage die übermäßige Konzentration auf die aktuellen politischen Konflikte dazu bei. Im Falle eines Mangels an eindeutigen Antihelden der Jetztzeit greifen die Bürger zu Personen, die in der Tagespolitik zu Irritationen führen, und nennen derzeit aktive Politiker der Opposition (Jarosław Kaczyński, Janusz Palikot) oder Regierende (Donald Tusk, Viktor Orban). Dies zeigt einerseits die Brutalität und Verbissenheit der aktuellen politischen Konflikte, andererseits das Chaos in der politischen Debatte, in der sich zwei Wirklichkeiten vermischen, die historische und die aktuelle.

Wie bereits gezeigt wurde, ist der Fall Polen insofern ein besonderer, als die Unterschiede zwischen den Antihelden außergewöhnlich gering sind. Dieses Ergebnis kann darauf hinweisen, dass es in der polnischen Geschichte keine eindeutigen Antihelden im Ausmaß beispielsweise eines Gottwald (auf dem 1. Platz der Antihelden in Tschechien, 30 Prozent) oder Rákosi (1. Platz in Ungarn, 18 Prozent) gibt. Interessant ist, dass in der Slowakei ein solcher Antiheld von außen betrachtet Tiso sein könnte, die Untersuchungsergebnisse aber etwas anderes zeigen (er steht auf Platz 2 mit 16 Prozent, zwischen Meciar auf dem 1. Platz mit 19 Prozent und dem rechtsextremen Ján Slota von der Slowakischen Nationalpartei auf dem 3. Platz mit 14 Prozent). In Polen, wo sich die historische Debatte auf Jaruzelski und das Problem der »Lustration« konzentriert und dabei die Stalinzeit vollkommen außer Acht gelassen wird, gibt es keine eindeutigen Antihelden.

Der hier vorgestellte Befund, dass die sozialistischen und faschistischen Führer im eigenen Land politische Kontroversen hervorrufen und von den Bürgern nicht eindeutig bewertet werden, während sie in den Nachbarländern kaum bekannt sind, kann auf zwei parallele Tendenzen hinweisen. Einerseits lässt sich die Hypothese von der Heroisierung der eigenen Geschichte aufstellen. Die Bürger jedes der Länder nennen deutlich häufiger die Helden, auf die sie stolz sind, als diejenigen, derer sie sich schämen. Dabei geben sie an, dass dies ihre tatsächliche Auffassung ist – und eben nicht aus Unkenntnis resultiert. Belegt wird dies auch durch den viel höheren Prozentsatz bei der Antwort nach den Antihelden, »Es gibt keine Person, derer ich mich schäme«. Andererseits wird häufig überhaupt keine Antwort auf diese Frage gegeben (»Ich weiß nicht«).

Der Umbruch in Europa – der polnische Hurra-Optimismus

Bei der Bewertung des Umbruchs in der Region zeichnen sich die Polen durch einen außerordentlichen Optimismus aus, insbesondere vor dem Hintergrund der anderen Nationen. Im Vergleich mit diesen freuen sie sich am stärksten über das Ende des Kommunismus (75 Prozent), den Beitritt zur EU (60 Prozent) und zur NATO (62 Prozent). Demgegenüber sind die Ungarn am skeptischsten und, etwas weniger, die Slowaken, was den Untersuchungen des Warschauer Instituts für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) aus dem Jahr 2009 (»Powrót do Europy. Opinia społeczna po 20 latach demokracji«) entspricht. Aus ihnen ging hervor, dass nur knapp 28 Prozent der Ungarn der Meinung sind, dass der Prozess des Aufbaus der Demokratie in Ungarn eher erfolgreich war, als dass er in eine Niederlage mündete. Die Slowaken waren optimistischer (59 Prozent der Bürger bewerteten die Transformation positiv), ihnen voran die Polen (62 Prozent) und die Tschechen (63 Prozent). Der Optimismus und die positive Einstellung der Polen kann auf einige Ursachen zurückgeführt werden: Erstens zeigen gesellschaftliche Untersuchungen, dass die Polen von Natur aus zu den Optimisten gehören.

Die zweite Ursache ist die relativ gute wirtschaftliche Situation. In einer wirtschaftlichen Rezession sinkt auch die Stimmung in der Gesellschaft, was alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens beeinträchtigt. Dann werden nicht nur das wirtschaftliche und politische System in Frage gestellt, sondern auch die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen – insbesondere in denen, die einen großen Einfluss auf die heimische Wirtschaft haben wie die Europäische Union. Je schlechter die wirtschaftliche Lage, desto geringer die Unterstützung für diese Institutionen und der Enthusiasmus in Bezug auf die Transformation.

Von Bedeutung für die hohe Zustimmung für EU und NATO ist auch das große Vertrauen der Polen in internationale Institutionen – dies ist erheblich größer als die Zustimmung zu den Institutionen des eigenen Staates. Zum Beispiel bringen nur 28 Prozent der Polen ihrer eigenen Regierung Vertrauen entgegen und nur 25 Prozent dem Parlament. Vertrauen in die EU zu haben geben dagegen 47 Prozent an (nach Eurobarometer 76, Dezember 2011). Das große Vertrauen resultiert sicherlich daraus, dass der Beitritt zu EU und NATO für die Polen etwas Natürliches war und dass es keinen alternativen ökonomischen Weg gab, den Polen hätte einschlagen wollen. Die Polen, die während der gesamten Phase der Volksrepublik neidisch nach Westen geblickt haben, assoziierten die westeuropäischen Partner vor allem mit Wohlstand. Die Europäische Gemeinschaft und die NATO, die in Opposition zum Ostblock und zu allem, was dieser Block repräsentierte, standen, waren das natürliche gemeinsame Ziel, das zu Beginn der unabhängigen Republik angestrebt wurde. Deren Glorifizierung wird häufig in Stellungnahmen zum Thema deutlich – das, was schlecht ist, wird dagegen eher mit der eigenen Regierung in Verbindung gebracht. Die europäischen Institutionen sind in der Vorstellung der Polen also ein Symbol des Wohlstands und der Rechtsstaatlichkeit. Der Gewinn, den die Polen durch die Zugehörigkeit zur EU wahrnehmen (sowohl auf staatlicher als auch auf persönlicher Ebene), bestärkt die positive Meinung außerdem.

Diese Einstellung kann sich allerdings in der nächsten Zeit ändern. Die Wirtschaftskrise und die Undurchsichtigkeit der von den EU-Institutionen durchgeführten Reformen rufen Unsicherheit, Unruhe und Enttäuschung hervor. Und obwohl diese Tendenzen in Polen wegen der relativ guten wirtschaftlichen Situation nicht so deutlich wie in anderen EU-Ländern sind, beginnt sich der Pessimismus zu verstärken. Die Stimmen, die aus Brüssel zu hören sind, weisen darauf hin, dass Polen im Entscheidungsprozess weiterhin übergangen werden wird, was die gesellschaftliche Unterstützung für die europäischen Strukturen schwächen kann. Die Polen beurteilen auch Ereignisse als positiv, die ihr Land nicht unmittelbar betreffen. Zum Beispiel bewerten sie die Wiedervereinigung Deutschlands im Vergleich zu den anderen Ländern der Visegrád-Gruppe am positivsten oder auch den Zerfall der Tschechoslowakei – die Betroffenen selbst, Tschechen und Slowaken, sind übrigens gegenüber der Trennung mehrheitlich negativ eingestellt.

Diese Meinungen zeigen, wie die Polen die Systemtransformation und ihre Folgen wahrnehmen. Offenbar sind sie der Ansicht, dass sich die Transformation für sie ausgezahlt hat, sowohl in politischer als auch ökonomischer Hinsicht. Die anfangs angestrebten Ziele (die im Allgemeinen als zivilisatorisch-wirtschaftlicher Anschluss an den Westen aufgefasst wurden) wurden in einem gewissen Grade erreicht und zeigen klare Ergebnisse. Dieser optimistischen Herangehensweise entsprechend, sind die Polen am stärksten von der Entwicklung und der positiven Richtung der Geschichte überzeugt, nämlich jeder zweite Pole (54 Prozent), aber nur jeder dritte Slowake (39 Prozent) und jeder vierte Ungar (23 Prozent).

Investitionskapital: Vertrauen

Schließlich muss noch das Kapital betrachtet werden, auf dem jede politische und gesellschaftliche Zusammenarbeit gründet, das gegenseitige Vertrauen. Für Polen ist das zweifellos die Basis, auf der es seine Position in der Visegrád-Gruppe auf- und ausbauen kann. Die Bürger aller Visegrád-Partnerländer geben an, Polen gegenüber großes Vertrauen zu haben (in der tschechischen und slowakischen Befragung Platz 2, in der ungarischen Befragung Platz 3 – von insgesamt neun zur Auswahl stehenden Ländern). Gleichzeitig fehlt es an Vertrauen der Tschechen und Slowaken gegenüber den Ungarn. Konkret heißt das, 56 Prozent der Tschechen haben Vertrauen zu den Polen (2. Platz nach den Slowaken), 64 Prozent der Slowaken (2. Platz nach den Tschechen) und 51 Prozent der Ungarn (3. Platz nach Deutschen und Österreichern). Die größten Spannungen innerhalb der Visegrád-Gruppe bestehen zwischen den Slowaken und den Ungarn: 48 Prozent der Ungarn haben kein Vertrauen gegenüber den Slowaken (9. und letzter Platz) und 46 Prozent der Slowaken vertrauen den Ungarn nicht(ebenfalls 9. Platz).

Die Polen wiederum vertrauen an erster Stelle den Partnern aus der Visegrád-Gruppe (jeder zweite Pole gab an, ihnen gegenüber Vertrauen zu haben). Auf das gegenseitige Vertrauen zwischen Polen und seinen Partnern hat Einfluss, dass keine grundsätzlichen historischen Konflikte zwischen ihnen liegen und deshalb nicht das Gefühl einer Bedrohung besteht. Man kann auch die Hypothese über ein gewisses gemeinsames Gefühl von erfahrenem Leid aufstellen, das ihnen aus dem Status erwächst, Satellitenstaaten der UdSSR gewesen zu sein. Diese Hypothese wird durch das allgemein fehlende Vertrauen der Visegrád-Gruppe gegenüber Russland gestützt. Russland nimmt den letzten Platz in der Rangliste der Polen und der Tschechen ein (48 und 46 Prozent); in beiden Fällen ist Russland die Nation, der gegenüber das Misstrauen das Vertrauen bzw. das Fehlen eines solchen Gefühls überwiegt. Bei den Ungarn steht Russland auf dem vorletzten Platz (39 Prozent). Untersuchungen des ISP aus dem Jahr 2008 hatten ergeben, dass 77 Prozent der Polen überzeugt sind, dass Russland immer noch eine potentielle militärische Bedrohung darstellt, und 75 Prozent zeigten sich überzeugt, dass Russland Ambitionen habe, einen neuen Ostblock aufzubauen. Das gegenseitige Vertrauen in der Visegrád-Gruppe resultiert – abgesehen von den aktuellen Reibungen zwischen der Slowakei und Ungarn – zweifellos aus den ähnlichen Erfahrungen nach 1989: Gemeinsam holen sie den Westen wirtschaftlich und zivilisatorisch ein und haben ähnliche Probleme, die typisch für junge Demokratien sind (Populismus, Korruption etc.) Außerdem sind diese Länder natürliche potentielle Koalitionspartner auf der internationalen Bühne, obgleich dies gerade in den letzten Monaten nicht immer möglich war, weil es unterschiedliche Herangehensweisen in Schlüsselfragen gab (zum Beispiel in der Fiskalpolitik oder in der Landwirtschaftspolitik).

Das Gefühl von Vertrauen und Nähe wird auch durch die kulturelle Ähnlichkeit verstärkt (vor allem zwischen den Tschechen und den Slowaken, aber auch mit den Polen) und durch die historischen Erfahrungen. Zwar ergeben die Untersuchungen, dass sie wenig über die Geschichte der Nachbarn in der Visegrád-Gruppe wissen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie einander vertrauen. Das geringere Vertrauen der Tschechen gegenüber den Ungarn und die signifikanten Spannungen zwischen der Slowakei und Ungarn in Kombination mit der starken Position Polens in diesen »Vertrauensrankings« eröffnen Polen eine besondere Position als führendes Land in der Region und als Land, das die anderen auf der internationalen Bühne bei der Vertretung gemeinsamer Interessen zusammenhält. Das Vertrauenskapital sollte nicht vergeudet und die Visegrád-Gruppe sollte dazu genutzt werden, auf der Bühne der Europäischen Union effizient aktiv zu sein. Gleichzeitig muss ein Bewusstsein dafür entwickelt werden, dass die Herausforderungen, die vor der Europäischen Union stehen, und die Unterschiedlichkeit bei der Herangehensweise der Vier an Reformen und Krisen bewirken, dass sich die Visegrád-Länder immer mehr auseinander entwickeln könnten. Dies kann sich in den nächsten Jahren auch in der Verschlechterung des gesellschaftlichen Klimas widerspiegeln.

Über die Untersuchung

Die Untersuchung des historischen Gedächtnisses wurde in den vier Ländern der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) im Herbst 2011 in einer repräsentativen Umfrage durchgeführt. Auftraggeber war der International Visegrad Fund, durchgeführt wurde sie von vier Forschungsinstituten, darunter dem Instytut Spraw Publicznych (ISP – Institut für Öffentliche Angelegenheiten) in Warschau. In der Untersuchung wurde ein »historischer Test« durchgeführt. Überprüft wurden das Wissen über wichtige historische Persönlichkeiten für jedes der Länder (offene Frage mit der Bitte um Namensnennung). Außerdem wurde nach der Bewertung konkreter in der Untersuchung genannter Personen gefragt (geschlossene Fragen, ob die betreffende Person als positiv oder negativ beurteilt wird). Dieser Aufbau hat positive und negative Konsequenzen. Einerseits erlaubt er, die schwierige Frage nach dem historischen Gedächtnis zu fassen und zeigt im Rahmen der quantitativen Untersuchung bestimmte allgemeine gesellschaftliche Trends, die allen Ländern der Visegrád-Gruppe gemeinsam sind. Andererseits wird die Frage nach dem historischen Gedächtnis nicht sehr differenziert behandelt. Daher wäre auch eine weitere Vertiefung der Fragestellungen angebracht.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

Małgorzata Fałkowska-Warska ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych – ISP) in Warschau. Ihre Forschungsinteressen sind die Bürgerbildung, Fragen der Identität und des gesellschaftlichen Gedächtnisses, Untersuchungen von Stimmungsbildern und Social Media.