Analyse: Einsamkeit im Alter? Erwerbsmigration und der Generationenvertrag
Lösen sich durch die Erwerbsmigration, die im vergangenen Jahrzehnt in Polen deutlich gestiegen ist, die intergenerationellen Beziehungen in transnationalen Familien? Der Generationenvertrag unterliegt zahlreichen Modifikationen, aber er wird nicht aufgelöst. Er regelt das Funktionieren des transnationalen Systems der sozialen Sicherheit.
Nach den aktuellen Daten der Nationalen Volkszählung 2011 hat sich der Anteil der Menschen in Polen, die das erwerbstätige Alter überschritten haben, von 15 Prozent im Jahr 2002 auf 17 Prozent im Jahr 2011 erhöht. Im Vergleich zur Volkszählung 2002 ist die Zahl der Rentner um über 760.000 gestiegen. Die Daten von Eurostat (2009) zeigen, dass im Jahr 2007 zirka 3 Prozent der Gesamtbevölkerung in Polen 80 Jahre alt und älter waren, im Jahr 2035 können es fast 8 Prozent sein. Eine der breiter diskutierten Fragen, insbesondere in Gesellschaften mit einer nicht ausgeprägten formalen, d. h. "professionellen" und kostenpflichtigen, Betreuungsinfrastruktur, ist der Einfluss des Alterungsprozesses auf die Möglichkeit, eine erfolgreiche informelle Betreuung auszuüben, d. h. die Betreuung älterer Menschen durch Verwandte, Freunde und Angehörige der lokalen Gemeinschaft zu übernehmen. Befürchtungen, die sich häufig zur gesellschaftlichen Panik auswachsen, konzentrieren sich auf die Veränderungen im Bereich der Geburtenzahlen und infolge dessen der Größe der Familie, wovon unter anderem die Verfügbarkeit der Familienmitglieder abhängt, die die emotionale, finanzielle und instrumentelle Unterstützung gewährleisten. Anders gesagt: In alternden Gesellschaften wird es spürbar, wenn informelle Betreuung knapp ist. Die informelle Betreuung älterer Menschen wird zusätzlich noch komplizierter, wenn parallel zu der sich verringernden Anzahl der potentiellen Betreuenden die Dynamik der Erwerbsmigration hoch ist. Mit dieser Situation haben wir es in Polen zu tun. Das kulturbedingte Muss, dass die Kinder Verpflichtungen gegenüber den Eltern persönlich einlösen, wozu auch die Betreuung gehört, ist ein relativ beständiges Element im polnischen normativen System. Es wird zusätzlich durch die schwache öffentliche institutionelle Unterstützung aufrechterhalten. Um moralische Panik zu vermeiden, dass die Migranten ältere Menschen (vor allem die Eltern) ohne Unterstützung zurücklassen, muss unterstrichen werden, dass die intergenerationellen Transferleistungen nicht einseitig und auch nicht immer unabdingbar sind: Auch die Eltern helfen ihren Kinder, die im Ausland arbeiten, häufig, und nicht alle alten Eltern bedürfen intensiver Betreuung. Auch muss an die Dynamik solcher Verpflichtungen in den unterschiedlichen Lebensabschnitten einer transnationalen Familie erinnert werden. Im Falle der Erwerbsmigration und damit verbunden des Kontaktes zu einem anderen Betreuungssystem für ältere Menschen werden die Verpflichtungen gegenüber den Eltern und die Formen der Umsetzung zwar modifiziert, aber sie verschwinden nicht. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Perspektive der Eltern, die in Polen leben und von denen mindestens ein Kind migriert ist (s. Kurzinformation zum Forschungsprojekt auf S. 6). Dabei werden vor allem drei Phänomene der Betreuung der Eltern im Zusammenhang mit der Migration der Polen betrachtet. Erstens werden die Erwartungen der Eltern gewöhnlich über ihre frühere Unterstützung der Kinder legitimiert. Zweitens wird die Hilfe, die die Eltern von ihren migrierten Kindern erhalten, gewöhnlich von ihnen ausgeglichen – auch die Eltern helfen ihren migrierten (sowie auch den nicht migrierten) Kindern. Drittens führt die Migration eines Kindes selten zur sozialen Marginalisierung der Eltern. Im Gegenteil zeigen meine Untersuchungsergebnisse, dass sich die soziale Sicherheit der Eltern häufig erhöht. Dank der Unterstützung von Seiten der migrierten Kinder können sie außerdem den nicht migrierten helfen. So gesehen übernimmt die Migration eine modernisierende Funktion.