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Analyse: Polen – vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland | bpb.de

Analyse: Polen – vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland

Piotr Arak

/ 17 Minuten zu lesen

Diese Analyse widmet sich der Arbeitsmigration und dem stillen Wandel, der sich in den letzten Jahren vollzogen hat. Einst wanderten mehr Polen aus als ein, nun aber nimmt das Land immer mehr Arbeitsmigrierende aus anderen Ländern auf. Wie ist der Wandel zu erklären?

Ein indischer Arbeitnehmer arbeitet in einem Schnellrestaurant in Warschau. (© picture alliance/JOKER)

Zusammenfassung

Jahrelang sind mehr Menschen aus Polen ausgewandert als eingewandert. Wir waren das "Land der Klempner", die die französischen, deutschen und britischen Arbeitgeber verführten. Aber dieses Image verändert sich. In Polen hat eine stille Revolution stattgefunden, die nur wenige Menschen im Westen bemerken. Wir sind zu einem Land geworden, das massenhaft Wirtschaftsmigrierende aus der Ukraine und anderen Ländern aufnimmt. Im Bereich der Kurzzeit-Migration hat Polen die USA überholt und steht damit weltweit an erster Stelle. Entscheidend ist jedoch, ob es gelingt, dass die zirkuläre zu einer permanenten Migration wird.

Emigrationswelle

Das polnische Hauptstatistikamt (Główny Urząd Statystyczny – GUS) präsentiert jedes Jahr eine Schätzung, wie viele Polinnen und Polen sich mindestens drei Monate pro Jahr im Ausland aufhalten. Aus den letzten Daten von 2018 geht hervor, dass 2017 ungefähr 2,5 Millionen Polen teilweise in der Emigration lebten, davon 90 Prozent in Europa. Das GUS schätzte außerdem, dass über 80 Prozent der zeitweilig Emigrierenden mindestens zwölf Monate im Ausland blieben, was bedeutet, dass diese Personen den langfristig Emigrierenden zuzurechnen sind. Laut Statistik nimmt die polnische Emigration ständig zu, aber nicht so dynamisch wie früher. 2017 wuchs die Zahl der Polen im Ausland im Vergleich zum Vorjahr nur um 25.000, das war der geringste Zuwachs seit 2010.

2017 stieg – im Vergleich zum Vorjahr – vor allem die Zahl der in Deutschland (etwa 16.000), Großbritannien (5.000) und den Niederlanden (4.000) lebenden Polen. In den genannten Ländern leben die größten Gruppen polnischer Migrantinnen und Migranten in Europa, und zwar entsprechend 703.000, 793.000 und 120.000 Personen. Gemäß den Schätzungen des GUS ist die Anzahl der polnischen Emigrierten in Irland seit 2014 auf etwa demselben Niveau, etwas über 110.000 Personen.

Viele Experten erwarteten, dass die Daten von 2018 zeigen würden, dass die Anzahl der außerhalb des Landes wohnenden Polen fiele. Laut Schätzungen des britischen Statistikamtes ONS lebten 832.000 in Polen geborene und 905.000 Personen mit polnischer Staatsbürgerschaft in Großbritannien. Ende 2017 sahen die Zahlen folgendermaßen aus: 922.000 (90.000 mehr), 1.021.000 (116.000 mehr). Ein Signal für eine Umkehr der bisherigen Migrationstrends waren die im November 2018 veröffentlichten Daten für den Zeitraum von Juli 2017 bis Juni 2018, als das ONS schätzte, dass auf dem Gebiet Großbritanniens etwa 985.000 Polen lebten – zum ersten Mal seit Ende 2016 weniger als eine Million Menschen. Das bedeutet, dass ungefähr 10.000 Polen entschieden, in ein anderes Land umzusiedeln, oder wegen der Unsicherheit aufgrund des drohenden Brexits nach Polen zurückkehrten.

Es gibt darüber hinaus noch Meldedaten, die jedoch unterschiedlich interpretiert werden können, da unklar ist, ob die Ab- oder Anmeldungen daraus resultieren, dass jemand in ein anderes Land umzieht oder Dokumente, die man z. B. alle zehn Jahre erneuern muss, aktualisiert wurden. Über Polen im Ausland wissen wir nur so viel, wie uns die Schätzungen der Statistikämter mitteilen. Dieses begrenzte Wissen ist der Preis für den freien Bevölkerungsfluss in der EU.

Rückkehrpotenzial

Seit 2004, als sich für die polnische Bevölkerung weitere Arbeitsmärkte in der EU eröffneten und die Zahl der aus Polen Emigrierenden aus diesem Grund anstieg, fragen sich Politiker aller Couleur, ob diese Menschen zurückkehren werden. Die Zahl der Rückwanderer ist schwer zu schätzen, denn fast jeder fünfte Pole hat eine zeitweilige Emigration hinter sich. Experten teilen die polnischen Migrierenden in mehrere Kategorien ein:

"Störche"

Der Storch ist ein Emigrant, der sowohl in dem Land, aus dem er stammt, als auch in dem Land, in das er emigriert ist, arbeitet und lebt. Es handelt sich um Personen, die alle paar Monate nach Polen "einfliegen", wo sie ihre Familie oder Teile davon zurückgelassen haben. Störche sind auch Saisonarbeiter, die einen Teil des Jahres im Ausland und einen Teil im eigenen Land verbringen.

"Hamster"

Hamster sind eine der beliebtesten Formen der Emigration. Solche Personen reisen aus, um Geld für ein konkretes Ziel zu sparen. Meist sind das Wohnungskauf, Hausbau, Firmengründung, Rücklagen für die Zukunft der Kinder oder auch um Schulden zu bezahlen. Hamster sind auch junge Leute, die in den Urlaub oder für einige Zeit ins Ausland fahren – sie wollen sich auf diese Weise Geld für ein neues Auto, eine Wohnung, den Führerschein oder andere kleinere oder größere Annehmlichkeiten verdienen.

"Lachse"

Die letzte Form sind die Lachse – Personen, die im Bewusstsein, ihr Herkunftsland für immer zu verlassen, ins Ausland gehen. Meist sind das alleinstehende Personen, die nichts zu verlieren haben, oder ganze Familien, die ihr Leben komplett verändern wollen. Die Mehrheit der Emigrierenden erklärt zwar, dass sie zurückkehren werde, aber Leben und Schicksal ließen viele Hamster zu Lachsen werden, die ihr Heimatland nur selten besuchen.

Neueste Daten der Polnischen Nationalbank (Narodowy Bank Polski – NBP) deuten darauf hin, dass zwischen 10 und 15 Prozent der polnischen Migranten aus Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden zurückkehren könnten. Überträgt man diese Zahl auf die Gesamtzahl der Polen, die zeitweilig im Ausland leben, ergibt das zwischen 250.000 und 380.000 Personen, die sich im Laufe der nächsten Jahre vielleicht dafür entscheiden könnten, nach Polen zurückzukehren. Vor allem das langsame Wirtschaftswachstum in Westeuropa und das kleine Wirtschaftswunder an der Weichsel tragen möglicherweise dazu bei.

Das kleine Wirtschaftswunder

Nach der Wirtschaftskrise in den Jahren 2007–2009 entwickelte sich die polnische Wirtschaft so schnell wie kaum eine andere. Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum betrug in den Jahren 2010–2018 in Polen 3,5 Prozent, nur Estland (3,7 Prozent), Malta (5,7 Prozent) und Irland (6,4 Prozent) hatten eine ähnlich gute Wirtschaftsleistung, die Mehrheit der Länder ist aber nicht mit Polen vergleichbar. Zur gleichen Zeit wuchs die Wirtschaft in der Europäischen Union durchschnittlich um 1,6 Prozent, in der Eurozone um etwa 1,4 Prozent. Die Hauptzielländer polnischer Emigration nach 2004 können keine ähnlich guten Ergebnisse vorweisen. In Deutschland wuchs die Wirtschaft durchschnittlich um 2,1 Prozent, in Großbritannien um 1,9 Prozent und in den Niederlanden nur um 1,4 Prozent.

Dieses kleine polnische Wirtschaftswunder schlägt sich auch in den Daten nieder, die das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf betreffen und das durchschnittliche Wohlstandsniveau anzeigen. Polen überholte nach der Wirtschaftskrise in der Kaufkraftparität sowohl Ungarn als auch Griechenland, 2019 sogar Portugal. Polens Wirtschaftswachstum betrug im Jahre 2018 5,1 Prozent und lag damit an zweiter Stelle hinter Malta.

Von der Arbeitslosigkeit – einst ein grundlegendes Problem des polnischen Arbeitsmarktes – ist keine Rede mehr. Die Arbeitslosenquote lag noch 2003 bei 20 Prozent, Ende 2018 betrug sie 3,9 Prozent. Es gab nur wenige Länder mit niedrigerem Prozentsatz arbeitsloser Personen im Alter von 18–64 Jahren. In Tschechien betrug die Arbeitslosenquote 2,2 Prozent, in Deutschland 3,4 Prozent, in Ungarn und auf Malta je 3,7 Prozent und 3,8 Prozent in den Niederlanden. Betrachtet man den Arbeitsmarkt von der anderen Seite, so finden sich dort Griechenland mit einer Arbeitslosenquote von 19,3 Prozent, Spanien mit 15,3 Prozent oder Italien mit 10,6 Prozent und Frankreich mit 9,1 Prozent.

Auch Polen hatte jahrelang ein Beschäftigungsproblem. Aber bereits 2017 wurde das für 2020 gesetzte Ziel der Beschäftigungsquote überschritten. Bis 2020 sollten dies 71 Prozent der 20–64-Jährigen sein. Bereits im Jahr 2018 betrug die Beschäftigungsquote 72,2 Prozent. Seit 2010 wuchs sie in Polen um fast acht Prozentpunkte. Sie ist weiterhin niedriger als die durchschnittliche EU-Beschäftigungsquote (73,2 Prozent), aber bedeutend höher als in Griechenland, Italien, Kroatien, Belgien oder Frankreich. Deutschland und Schweden haben vor diesem Hintergrund mit 80 Prozent und 82,6 Prozent die höchsten Beschäftigungsquoten. Polen hat also noch Nachholbedarf, aber die Zahlen zeigen auch, dass noch Beschäftigungsreserven im Land bestehen, u. a. unter den nicht berufstätigen Frauen, bei jungen Menschen im Alter von 18–24 Jahren oder bei Menschen mit Behinderungen.

Die steigenden Gehälter sind verantwortlich dafür, dass die polnische Bevölkerung das relativ starke Wirtschaftswachstum spürt und das Interesse wächst, nach Polen zu emigrieren. 2018 waren sie in Polen um 28 Prozent höher als 2012, in der EU wuchsen sie um durchschnittlich 12 Prozent und in der Eurozone um nur 10 Prozent. Im selben Zeitraum gab es jedoch auch Länder, in denen das Wachstum der Gehälter noch höher war, darunter Rumänien, Bulgarien, Lettland, Litauen, Estland und die Slowakei. In Tschechien lag es bei 26 Prozent und in Deutschland betrug es nur 13 Prozent.

2018 betrug das durchschnittliche Monatsgehalt in Polen 1.196 Euro und war damit höher als in Portugal, wo es bei nur 1.154 Euro lag, aber immer noch niedriger als in Tschechien – 1.322 Euro – und natürlich in Deutschland – 3.880 Euro. In derselben Zeit betrug das mittlere Einkommen in der Ukraine nur 386 Euro. Gehälter sind der wichtigste, die Emigration bestimmende Faktor und da sie in Polen fast dreimal so hoch sind wie in der Ukraine, wurde Polen zum attraktiven Einwanderungsland.

Immigration nach Polen

Nach der neusten Prognose des International Migration Outlook 2018, die jedes Jahr von der OECD veröffentlicht wird, führte Polen 2017 das weltweite Ranking beim Zustrom ausländischer, saisonaler, kurzzeitiger Arbeitskraft (und überholte dabei selbst die USA). Das ist insofern untypisch, weil Polen nie ein Immigrationsland war und noch immer ein Emigrationsland ist, was an den vorher genannten Daten deutlich wird. Der gegenwärtige Zustrom kurzzeitig Migrierender wurde durch das Zusammenkommen verschiedener "Pull-Faktoren" in Polen, darunter ein liberales Beschäftigungssystem für Ausländer aus den Ländern der Östlichen Partnerschaft, mit "Push-Faktoren" in diesen Ländern (eine Schocksituation, wie in der Ukraine nach Ausbruch des Krieges und die Zerstörung der Wirtschaft in den Jahren 2014–2015) begünstigt. Überdies verließen ukrainische Migrierende Russland aufgrund der russischen Aggression zu Gunsten von Polen. Wichtige "Pull-Faktoren" für Ukrainerinnen und Ukrainer sind dabei auch: niedrige Reisekosten, die Möglichkeit, mit der Familie in der Ukraine in Verbindung zu bleiben, ausgebaute Migrationsnetzwerke, die Ähnlichkeit zwischen den Sprachen und die kulturelle Nähe. Die gegenwärtige Migrationswelle aus der Ukraine wird deshalb als "lokale Mobilität" bezeichnet. Gemeint ist ein spezifisches System, in dessen Rahmen Menschen häufig für kurzzeitige Erwerbsarbeit aus der Ukraine nach Polen kommen, wobei sie ihre Ausgaben im Aufenthaltsland gering halten und gleichzeitig ihre Lebensaktivitäten auf die Ukraine konzentrieren. Migration im klassischen Sinne wird dagegen so verstanden, dass ein dauerhafter Wechsel des Lebensmittelpunkts stattfindet. Das Zusammenspiel dieser Faktoren führte zu einem Boom in der Kurzzeit-Migration, der sich global bemerkbar machte.

Die größte Zuwanderung von Ukrainern nach Polen (abzulesen an der Anzahl der zur kurzfristigen Arbeit berechtigenden Erklärungen von Arbeitgebern und Zahl von Arbeitsgenehmigungen) wurde in den Jahren 2014–2016 verzeichnet. Damals stieg das Tempo, in dem die Zahl der ausgegebenen Dokumente zunahm, um einige Dutzend und sogar 100 Prozent jährlich.

Liberale Einwanderungspolitik

Ein Zustrom von so vielen Menschen war deshalb möglich, weil Polen eine sehr liberale Immigrationspolitik für die sechs Länder der Östlichen Partnerschaft verfolgt (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldawien und Ukraine). Seit 2008 ist das sogenannte "Erklärungssystem" verpflichtend, kraft dessen Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, die vorübergehend in Polen arbeiten wollen (d. h. einen Zeitraum, der sechs Monate im Laufe von 12 Monaten nicht überschreitet), keine Arbeitserlaubnis benötigen. Es reicht, dass sie eine im Kreisarbeitsamt registrierte Erklärung des zukünftigen Arbeitgebers besitzen, der damit bestätigt, diesen Personen Arbeit zu überlassen, und dass die Arbeit auf Grundlage eines schriftlichen Vertrags zu den Bedingungen, die in der Erklärung genannt sind, ausgeführt wird. Die Anzahl der Erklärungen ist nicht gleich mit der Anzahl der Migrierenden. Eine Person kann mehrere solcher Erklärungen besitzen. 2018 registrierten die Arbeitsämter 1,4 Millionen Erklärungen, die bestätigten, dass ukrainischen Bürgern Arbeit übertragen werden soll. Im Rekordjahr 2017 waren es sogar 1,7 Millionen. Zum Vergleich: Kurz vor dem Krieg 2013 waren es 218.000, ein Jahr später 372.000 und im Jahr 2015 schon 763.000 Erklärungen.

Außer dieser Beschäftigungsform gibt es zudem die reguläre Arbeitserlaubnis, durch die es möglich ist, ein begrenztes oder unbegrenztes Aufenthaltsrecht zu erhalten. Die Zahlen sind jedoch nur schwer mit den Daten zu vergleichen, die aus anderen öffentlichen Registern stammen. Die verlässlichsten Zahlen zu legaler Beschäftigung und langfristiger Ansiedlung ukrainischer Bürgerinnen und Bürger in Polen liefern die Daten der Sozialversicherungsanstalt (Zakład Ubezpieczeń Społecznych – ZUS) zu Personen, die Sozialbeiträge zahlen.

2018 wurden etwa 534.000 Ausländer von außerhalb der EU amtlich registriert, zusätzlich 36.000 Bewohner anderer EU-Länder. In den Jahren 2008–2018 wuchs die Zahl der Ausländer, die sich in diesem Zeitraum beim ZUS für die Rentenversicherung anmeldeten, um das Neunfache. Meist wird Polen von Nicht-EU-Bürgern als Ziel gewählt – deren Zahl stieg um das Elffache. Unter allen ZUS-Versicherten stellen die Ausländer bereits 3,6 Prozent. Es dominieren Bürger der Ukraine (426.000) und der Republik Belarus (33.000). Danach kommen Menschen aus Vietnam (8.000), Moldawien (7.000) und Russland (7.000).

Einwanderung aus der Ukraine

Meist wählen Personen zwischen 20–49 Jahren Polen als Einwanderungsland. Die Ausländer siedeln sich in der Regel in den Woiwodschaften Masowien, Niederschlesien und Großpolen an. Die wenigsten Ausländer wählen die Woiwodschaft Heiligkreuz. Am häufigsten werden Ausländer durch einen Arbeitsvertrag eingestellt (56 Prozent), aber auch durch einen Dienstvertrag oder einen Vertrag mit einer Zeitarbeitsfirma (40 Prozent). Nur 3 Prozent leiten eine eigene Firma. Die "durchschnittlichen" beim ZUS versicherten Ausländer sind Bürger der Ukraine im Alter von 25–29 Jahren mit einem Arbeitsvertrag. Die übrigen Beschäftigten aus anderen Ländern arbeiten oft auf Grundlage von Werkverträgen und führen somit keine Beträge zur Sozialversicherung ab, oder gehen auch illegalen Beschäftigungsformen nach. Seit 2018 können Ukrainer, die einen biometrischen Pass besitzen, ohne zusätzliche Formalitäten für drei Monate nach Polen einreisen und arbeiten in der Schattenwirtschaft, die in Polen geschätzt 14 Prozent des BIP ausmacht.

Der Hauptfaktor für die Arbeitsimmigration bleibt die geografische Nähe – darauf wiesen 52 Prozent der befragten Ukrainer 2018 hin. Sie wissen auch die niedrige Sprachbarriere zu schätzen. Für 41 Prozent der Befragten ist dies von großer Bedeutung. Polnisch zu lernen ist für Ukrainer kein großes Problem, meist sind sie schon nach einem Monat in der Lage, sich auf Polnisch zu verständigen und Gesagtes zu verstehen, da die Sprachen zur selben Sprachfamilie gehören und sich im Wortschatz recht ähnlich sind.

Aufgrund der Komplexität der in Polen gesammelten Arten administrativer Daten über Ausländer muss man andere Schätzungsmethoden hinzuziehen, um zu erfahren, wie viele ausländische Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich in Polen leben und arbeiten. Die Analysefirma Selectivv, die auf die Untersuchung von Daten des Mobil-Telekommunikationsmarktes spezialisiert ist, analysiert die Bewegung in den polnischen Mobilfunknetzen. Die Analytiker von Selectivv nehmen an, dass eine Person aus der Ukraine, die in Polen lebt, die SIM-Karte eines polnischen Anbieters besitzt, aber eine ukrainische oder russische Benutzeroberfläche auf dem Telefon nutzt, und dass diese Person mindestens einmal im Jahr in der Ukraine ist und in diesem Zeitraum die SIM-Karte wechselt. Auf Grundlage dieser Daten wurde errechnet, dass sich 1,27 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in Polen aufhalten, was bedeutet, dass 3,5 Prozent der Einwohner Polens aus der Ukraine stammen.

Die Städte, in denen die meisten Ukrainer wohnen und arbeiten, sind Warschau, Breslau, Krakau, Posen, Danzig und Lublin. In Warschau wohnen sie vor allem in den Stadtteilen Praga und Ursynów und überall dort, wo es Arbeiterhotels gibt. Außerhalb der großen Städte wohnen zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer im Süden Polens und in der Umgebung von Radom. Dies weiß man dank der Analyse der Lokalisierungsdaten, die Smartphones und Tablets senden.

Laut Selectivv leben in Polen mehr Ukrainer (56 Prozent) als Ukrainerinnen (44 Prozent). Es gibt mehr Männer in kleinen Städten und auf dem Land, die Frauen konzentrieren sich auf die großen Ballungsräume. Das hängt mit dem größeren Bedarf im Dienstleistungssektor in den Städten zusammen, in dem die Frauen dominieren: in der Gastronomie, im Einzelhandel, in Kosmetikstudios und im Gesundheitswesen. In der Provinz dagegen werden mehr Hände für körperlich anstrengende Arbeit gebraucht, u. a. im Baugewerbe und der Landwirtschaft.

Interessanterweise benutzen 12 Prozent der in Polen arbeitenden Ukrainerinnen mobile Apps, um ihre Schwangerschaft zu planen, was heißen könnte, dass sie vorhaben, im Land zu bleiben und eine Familie zu gründen.

Die Daten der Mobilfunkanbieter lassen sich mit denen der Polnischen Nationalbank vergleichen. 2017 wurden Ukrainer in Warschau und Lublin befragt und es fanden sich viele gemeinsame Eigenschaften, u. a. dass zwei Drittel der Personen einfache Arbeiten verrichten und sie insgesamt mehr als zwei Jahre in Polen arbeiten. Außerdem bleiben in Ostpolen mehr Personen dauerhaft – nur 18 Prozent der Ukrainer aus Lublin sind wegen Saisonarbeit in Polen, in Warschau dagegen sind es 65 Prozent.

Die Löhne der Ukrainer in Polen sind vergleichbar mit den Gehältern der Polen, aber doch letztendlich niedriger, wenn es sich um informelle Beschäftigungsarten handelt oder wenn die Wohnung vom Arbeitgeber gestellt wird. 2018 verdienten 75 Prozent der Ukrainer in Polen monatlich über 2.500 Zloty netto (etwa 590 Euro), 15 Prozent meldeten eine Höhe von über 3.500 Zloty (etwa 820 Euro) monatlich. Zum Vergleich: Der Durchschnittslohn der Polen betrug 2018 ungefähr 5.000 Zloty brutto (etwa 1.175 Euro), was nach dem Abzug von Steuern und Sozialversicherung dem Betrag entsprechen würde, den die Ukrainer "auf die Hand" bekommen. Oft arbeiten die Ukrainer in Polen aber mehr als die acht arbeitsrechtlich vorgeschriebenen Stunden. Überdies sparen die Ukrainer vor allem, während sie in Polen arbeiten. Für den Lebensunterhalt geben 39 Prozent nur 200 bis 500 Zloty monatlich aus, jeder fünfte sogar unter 200 Zloty. Einen Betrag von 500 bis 1.000 Zloty geben dagegen 29 Prozent aus.

Zum Studium nach Polen

In Polen wächst auch die Zahl der ausländischen Studierenden. Im Studienjahr 2017/18 studierten an polnischen Universitäten 72.743 ausländische Studierende aus 170 Ländern, was einen Ausländeranteil von 5,6 Prozent ergibt. Inzwischen ist diese Zahl auf fast 80.000 Studierende angewachsen. Ausländer mit polnischer Abstammung bilden in dieser Gruppe 10,6 Prozent, bedeutend weniger als noch vor zehn Jahren, als es 25,6 Prozent waren. Obwohl die Mehrheit der ausländischen Studierenden an staatlichen Universitäten zu finden ist, haben die privaten es geschafft, über 33.000 Personen anzuziehen, also 45 Prozent aller ausländischen Studierenden in Polen. Ganz vorne liegen die Studierenden aus der Ukraine mit fast 38.000 (52 Prozent), auf dem zweiten Platz die Belarussen mit 6.044 Personen (8 Prozent), auf dem dritten Platz die Inder mit 2.987 Personen (4 Prozent). Einige Nationen wählen Studienfächer mit bestimmter Ausrichtung, z. B. studieren Norweger meistens Medizin (1.390 von 1.466). Dieses Fach wählte auch die Mehrzahl der Studierenden aus Schweden, den USA, Taiwan oder arabischen Ländern sowie über die Hälfte der Deutschen.

Arbeitsgenehmigungen und Staatsangehörigkeit

Neben der stärksten Einwanderergruppe aus der Ukraine kommen auch immer öfter Personen aus anderen Regionen der Welt nach Polen, z. B. aus Nepal, Bangladesch und Indien. Dies sieht man an der Zahl der Arbeitsgenehmigungen: 328.800. Das waren 93.100 mehr als 2017, oder 263.000 mehr als 2015. Vor allem werden in Polen Arbeitsgenehmigungen für Ausländer erteilt, die nicht an eine frühere Arbeitserlaubnis anschließen. Es sind also jedes Jahr neue Arbeiter, die sich auf dem polnischen Arbeitsmarkt registrieren lassen. Allerdings wird es sicher in ein paar Jahren eine Welle von Aufenthalts- und Arbeitsverlängerungen geben, denn der Zustrom von Immigrierenden wächst schon seit drei bis vier Jahren an.

Wie erwähnt, erhielten Bürger der Ukraine die meisten Arbeitsgenehmigungen. Über 70 Prozent der Ausländer, denen die Erlaubnis, in Polen zu arbeiten, erteilt wird, haben einen ukrainischen Pass. Danach kamen Menschen aus Nepal mit 6,1 Prozent. Der größte Anteil an Nepalesen wurde in der Woiwodschaft Opole verzeichnet – die Region Polens, aus der am meisten Menschen abwandern. Außerdem wurde 2018 eine nicht geringe Zahl von Arbeitsgenehmigungen auch an Bürger aus Indien und Bangladesch ausgestellt (je 2,5 Prozent). Die meisten wurden in der Woiwodschaft Masowien erteilt, was damit zu tun haben könnte, dass ausländische Konzerne wie McDonald’s und Uber Arbeitskräfte anziehen.

2018 waren Arbeitgeber, die eine Genehmigung erhalten hatten, ausländische Arbeitnehmer zu beschäftigen, hauptsächlich in folgenden Sektoren tätig: Verwaltung und Unternehmensführung (24,4 Prozent Anteil an der Gesamtanzahl der Genehmigungen), Baugewerbe (22,8 Prozent), industrielle Verarbeitung (21,4 Prozent) und Transport und Lagerverwaltung (15,9 Prozent). 2018 überstieg der gemeinsame Anteil der oben genannten Sektoren in allen Woiwodschaften 75 Prozent.

Fazit

Die Alterung der Gesellschaft ist auf dem polnischen Arbeitsmarkt bereits spürbar. 2019 gab es erstmals einen Rückgang von auf dem Arbeitsmarkt aktiven Personen im Alter von 20–64 Jahren. Zeitgleich mit der guten Konjunktur auf dem Arbeitsmarkt ging in Polen die Anzahl der beruflich aktiven Personen zurück. Auch wenn die Veränderung gering war – im ersten Quartal 2019 waren es 0,4 Prozent im Jahresvergleich – ist sie bei einer solchen Konjunktur doch eine Überraschung. Die Gründe dafür sind rein demografischer Natur. Zu Beginn des Jahres 2019 sank die Zahl der Erwerbspersonen, und in den folgenden Jahren werden ca. 100.000 bis 150.000 Personen aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Die polnische Wirtschaft wird immer mehr Einwanderer benötigen, und zwar nicht nur auf temporärer Basis.

Unterdessen ist es schwierig, vorherzusehen, wie sich in den nächsten fünf bis sieben Jahren die Situation der Arbeitsmigranten aus der Ukraine in Polen entwickeln wird. Es ist unklar, ob die Dynamik der zirkulären Migration bestehen bleibt und ob Polen weiterhin für die Einwohner der Westukraine interessant sein wird. Denn ab 2019 ist auch der deutsche Arbeitsmarkt für Ukrainer geöffnet und wird, nach Schätzung von Wirtschaftswissenschaftlern der Polnischen Nationalbank, möglicherweise ein Viertel von ihnen aus Polen abziehen. Normalerweise entscheidet sich in jedem Zielland ein Teil der Migrierten, länger zu bleiben. Momentan wächst auch die langfristige Migration aus der Ukraine nach Polen, aber deutlich langsamer. Ob sich die Proportionen zwischen kurzzeitiger und langfristiger Migration verändern, hängt von vielen Faktoren ab, sowohl von der polnischen Migrationspolitik als auch von der Migrationspolitik anderer Zielländer.

Noch lässt sich keine geografische Umorientierung der ukrainischen Migrierenden aus Polen in andere EU-Länder beobachten, doch ist deutlich zu sehen, dass die größten potenziellen Konkurrenten für Polen in diesem Bereich Tschechien und Deutschland sind. Entscheidend ist dabei, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer nur mittelmäßig viel Geld sparen können, wenn sie in Polen arbeiten. Unter anderem aufgrund der Kursunterschiede und der relativ niedrigen Lebenshaltungskosten in Polen ist die zirkuläre Migration nach Polen momentan die finanziell bessere Option im Vergleich zu einer Arbeit in der Ukraine oder der vollständigen Niederlassung, die mehr Mittel erfordert, um eine Familie in Polen zu versorgen.

Die gegenwärtige Migrationswelle aus der Ukraine nach Polen ist auf der Makroebene eine gesellschaftliche Reaktion auf eine Schocksituation (Ausbruch des bewaffneten Konflikts und die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation) und man sollte sie nicht als langfristige Tendenz behandeln. Die Ukraine, die selbst von ernsthaften demografischen Problemen und einem Defizit auf dem Arbeitsmarkt geplagt wird, könnte vielleicht bald den polnischen Arbeitsmarkt nicht mehr verstärken.

Die Bevölkerungszahl in der Ukraine nimmt immer mehr ab: Laut Schätzungen gab es 2018 nur 35,5 Millionen Ukrainer, obwohl die offiziellen Daten von 42 Millionen ausgehen, allerdings war die letzte Zählung vor 18 Jahren. Außerdem ist die Beschäftigungsquote in der Ukraine relativ hoch (ca. 60 Prozent der Ukrainer im Produktionsalter, die Grauzone nicht gerechnet). Und laut Analysen der Ukrainischen Nationalbank hat die Arbeitsmigration (bei zurückgehender Bevölkerungsanzahl) bereits ein so hohes Niveau erreicht, dass sie das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in der Ukraine bremst; vor allem wegen des Mangels an Arbeitskräften im Baugewerbe, der Industrie, der Landwirtschaft und im Transport. Gleichzeitig erhöht der Zustrom von Beschäftigten aus der Ukraine das polnische Bruttoinlandsprodukt um 0,3–0,9 Prozentpunkte jährlich, aber dieser positive Impuls wird nicht größer, es sei denn, die zirkuläre würde zu einer permanenten Migration werden, was in der Migrationssprache bedeutete, dass die Störche zu Lachsen würden.

Übersetzung aus dem Polnischen: Marlena Breuer

Dieser Text ist ein Vorabdruck aus dem "Jahrbuch Polen 2020: Polnische Wirtschaft", herausgegeben vom Deutschen Polen-Institut. Das Jahrbuch erscheint in Kürze im Harrasowitz Verlag, Wiesbaden.

Piotr Arak, Soziologe und Wirtschaftsanalyst, ist Direktor des Polnischen Wirtschaftsinstitutes (Polski Instytut Ekonomiczny), Warschau. Vorher war er tätig für Deloitte, Polityka Insight, United Nations Development Programme sowie für das Ministerium für Verwaltung und Digitalisierung und die Kanzlei des Ministerpräsidenten der Republik Polen. Er ist Autor zahlreicher Studien in den Gebieten Digitalisierung, Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik.