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Analyse: Polexit durch die Hintertür. Polnische Regierungspolitik und europäische Themen | bpb.de

Analyse: Polexit durch die Hintertür. Polnische Regierungspolitik und europäische Themen

Reinhold Vetter

/ 25 Minuten zu lesen

Polexit - Ein Austritt Polens aus der Europäischen Union wird immer wieder thematisiert. Welche Argumente hier eine Rolle spielen, erklären die aktuellen Polen-Analysen.

Unter dem Motto "We're staying, we're Europe" demonstrieren Bürgerinnen und Bürger in Krakau für den Verbleib Polens in der Europäischen Union. (© picture-alliance, NurPhoto | Beata Zawrzel)

Zusammenfassung

Die Frage nach einem Austritt Polens aus der Europäischen Union ist zu einem Dauerthema in der europäischen Öffentlichkeit geworden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die polnische Regierung Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) konsequent ignoriert. Im Gegenzug wird der Warschauer Führung von scharfen Kritikern Polens im Westen der "Polexit" nahegelegt, den diese aber mit Blick auf die EU-Finanzmittel und die eigenen Wähler nicht will. So findet ein ständiges Tauziehen zwischen Brüssel und Warschau statt, wenn es um Themen wie Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, Flüchtlingspolitik, Verwendung der EU-Mittel sowie Energie- und Umweltpolitik geht. Im Grunde genommen sind die EU und insbesondere die Brüsseler Kommission zu schwach, um Vorgaben des EuGH und des Europaparlaments wirksam umzusetzen.Aufgrund mehrerer Entscheidungen europäischer Institutionen sowie zweier Urteile des polnischen Verfassungstribunals (Trybunał Konstytucyjny  – TK) haben die innerpolnische und auch die europäische Diskussion über einen möglichen Austritt Polens aus der Europäischen Union, gewöhnlich Polexit genannt, eine neue Qualität erhalten. So stellte die EU-Kommission im September 2021 einen Antrag an den Europäischen Gerichtshof (EuGH), Polen mit Strafzahlungen zu belegen, weil Warschau einer Anordnung des EuGH zur Auflösung der umstrittenen Disziplinarkammer beim Obersten Gericht (Sąd Najwższy SN) des Landes bisher nicht nachgekommen sei. In Brüssel betrachtet man die Disziplinarkammer, die im Jahr 2018 auf Betreiben der Nationalkonservativen in der Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) geschaffen wurde, als ein Instrument, um politisch missliebige Richter nachgeordneter Gerichte aus dem Dienst entfernen oder versetzen zu können. Bereits am 14. Juli hatte der EuGH angeordnet, die Disziplinarkammer aufzulösen, weil, wie in einer Mitteilung des Gerichts betont wurde, der Rechtsordnung der Europäischen Union schwerer Schaden durch die Tätigkeit dieser Einrichtung zugefügt werde.

Da die polnische Regierung dieser Anordnung nicht nachgekommen war, was der Auslöser für den Antrag der EU-Kommission war, verurteilte der EuGH Polen Ende Oktober zur Zahlung eines Strafgeldes in Höhe von einer Million Euro täglich bis zum Zeitpunkt der Auflösung der Kammer. Der EuGH unterstrich, dass die Regierung in Warschau nicht nur gegen eine bestimmte Richtlinie oder Verordnung der Europäischen Union, sondern grundsätzlich gegen den in Artikel 2 des EU-Vertrags verankerten Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstoße. Es war erst das dritte Mal, dass der EuGH eine Geldstrafe gegen ein Land verhängte – und diese in Rekordhöhe.

Zuvor hatte der EuGH Polen im September mit einer Geldstrafe von 500.000 Euro täglich belegt, weil die polnische Regierung, wie die Luxemburger Richter erklärten, sich nach wie vor weigere, den Abbau von Braunkohle in Turów im äußersten Südwesten nahe der Grenze zur Tschechischen Republik und zu Deutschland einzustellen. Mit seiner Entscheidung gab der EuGH einer Klage der tschechischen Regierung statt, die vorgebracht hatte, dass der polnische Braunkohle-Tagebau in Grenznähe negative Auswirkungen auf die heimische Umwelt habe.

Hinzu kam eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), mit der Polen zu Entschädigungszahlungen an zwei polnische Richter verurteilt wurde. Im Zuge der Justizreform in Polen, so der EGMR, sei das Verfahren zur Ernennung von Richtern von der Exekutive und dem Parlament unzulässig beeinflusst worden. Wegen der Verletzung des Menschenrechts auf ein faires Verfahren müsse Polen zwei Richtern, die im Straßburg Beschwerde eingelegt hatten, je 15.000 Euro zahlen. Im Gegenzug erklärte das polnische Verfassungstribunal Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention für verfassungswidrig. Dieser garantiert allen EU-Bürgern das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und durch Gesetz begründeten Gericht sowie die Möglichkeit, sich direkt an europäische Gerichte zu wenden, wenn sie der Ansicht sind, dass sie in ihrem Heimatland kein faires Verfahren erwarten können.

Großes Aufsehen auf internationaler Ebene erregte aber vor allem ein Urteil des polnischen Verfassungstribunals vom 7. Oktober 2021, das bald darauf rechtskräftig wurde. Mit diesem Urteil stellten die gegenwärtig amtierenden polnischen Verfassungsrichter wesentliche Bestimmungen des EU-Vertrags grundsätzlich in Frage. Das betrifft insbesondere Artikel 1, in dem von einer "immer engeren Union der Völker Europas" die Rede ist, Artikel 4, in dem es heißt, die Mitgliedsstaaten achten den "Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit" und sie und die Union unterstützen sich gegenseitig bei der Erfüllung ihrer vertraglichen Aufgaben, sowie Artikel 19, in dem sich die Mitgliedsstaaten verpflichten, einen wirksamen Rechtsschutz in allen Bereichen zu garantieren, die von EU-Recht erfasst sind. Alle diese Bestimmungen, so das Verfassungstribunal, stünden im Widerspruch zur polnischen Verfassung in einer Situation, in der die europäische Einigung eine "neue Etappe" erreiche, in der die EU-Organe außerhalb ihrer vertraglichen Kompetenzen handelten und die Verfassung nicht mehr das höchste Recht der Republik Polen sei. Letztlich spricht das Verfassungstribunal dem EuGH damit grundsätzlich das Recht ab, sich mit der polnischen Justiz zu befassen.

Äußerst kontrovers verlief dann die Debatte über die tiefe Krise der Rechtsstaatlichkeit in Polen am 19. Oktober 2021 im Europäischen Parlament, in der große Redeanteile von Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestritten wurden. Die Rede der Kommissionspräsidentin gipfelte in der Feststellung, dass das Urteil des polnischen Verfassungstribunals die gemeinsame Rechtsgrundlage der EU in Frage stelle. Demgegenüber befasste sich Morawiecki vor allem mit Urteilen des EuGH, die seiner Meinung nach zur Schaffung eines europäischen Superstaats führen würden. Der Zustand der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie in Polen, so der Ministerpräsident, böten außerdem keinen Anlass zu Beanstandungen. Immerhin kündigte Morawiecki die Abschaffung der Disziplinarkammer beim Obersten Gericht an. Die sich anschließende Debatte offenbarte eine tiefe Kluft zwischen den Abgeordneten der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), der Sozialdemokratie und den Grünen einerseits, die Morawiecki scharf angingen, und den Abgeordneten rechter Fraktionen, auch der PiS , andererseits, die den polnischen Ministerpräsidenten verteidigten. Schließlich nahm das Parlament mit großer Mehrheit eine Entschließung an, in der die polnische Regierung wegen der Missachtung der Rechtsstaatlichkeit scharf kritisiert wurde.

Ausdruck der angespannten Situation war nicht zuletzt die Tatsache, dass das Europäische Parlament Ende Oktober die EU-Kommission verklagte, weil sie, wie es im Beschluss heißt, ein Instrument, das im EU-Haushaltsrecht benannt wird, bisher nicht eingesetzt habe. Dabei geht es um die Möglichkeit, bei gravierenden Rechtsstaatsdefiziten in einzelnen Mitgliedsstaaten Zahlungen aus dem EU-Budget einzufrieren.

Mit scharfer Munition

In den Reaktionen der Politiker des Warschauer Regierungslagers auf die Urteile des EuGH und die Beschlüsse der EU-Kommission zeigten sich zunehmende Konfrontationsbereitschaft und Kompromisslosigkeit. Sogar wohlwollende Beobachter in Polen und in westlichen EU-Staaten fragten sich, wie denn die Regierung von dieser Positionierung wieder werde abrücken können, ohne einen schwerwiegenden Gesichtsverlust hinnehmen zu müssen. Aus der Fülle dieser Aussagen seien nur zwei der wichtigsten zitiert.

So gehörte insbesondere Justizminister Zbigniew Ziobro zu denjenigen, die mit drastischen Äußerungen Öl ins Feuer gossen. Ziobro, der in Personalunion auch das Amt des Generalstaatsanwalts innehat, ist Vorsitzender der Partei Solidarisches Polen (Solidarna Polska), die als Juniorpartner mit der PiS die Regierung bildet. Er und seine Partei stehen in einem ständigen Konflikt mit Ministerpräsident Morawiecki um die Vorherrschaft in der Koalition und die mögliche Nachfolge von Jarosław Kaczyński (PiS) als führende Persönlichkeit der polnischen Nationalkonservativen. Schon kurz nachdem die EU-Kommission beim EuGH beantragt hatte, Polen mit Strafzahlungen zu belegen, trat Ziobro vor die Presse und bezichtigte die Kommission der "Aggression", verbunden mit dem Hinweis, dass diese "mit Rechtsmitteln einen hybriden Krieg" gegen Polen führe. Die Europäische Union, so der Minister, die doch ein Ort des Dialogs sein sollte, entwickele sich zu einem "Instrument der brutalen Erpressung im Dienste des wirtschaftlich Stärkeren". Erpressung könne aber kein Mittel zur Gestaltung der Politik sein, betonte Ziobro.

Aber selbst Ministerpräsident Morawiecki schreckte nicht vor extremen Äußerungen zurück, die man bis dato von ihm eher nicht gewöhnt war und die sich nur noch als verbale Kriegsführung bezeichnen lassen. In einem Gespräch mit der Financial Times sagte Morawiecki allen Ernstes, dass die EU Forderungen an Polen richte, indem sie Warschau "die Pistole an den Kopf halte". Sollte die Kommission, so der Regierungschef, einen "dritten Weltkrieg" beginnen, werde man die eigenen Rechte mit allen Waffen verteidigen, die dem Land zur Verfügung stünden. Nach solcherart Äußerungen von Ziobro und Morawiecki war es dann immer Regierungssprecher Piotr Müller, der sich bemühte, die Wogen zu glätten, ohne aber von den grundlegenden Positionen seiner Regierung abzurücken. Müller unterstrich, dass die Europäische Union eine Gemeinschaft souveräner Staaten sei, in der klare Regeln herrschten. Aus der Kompetenzverteilung innerhalb der EU gehe hervor, dass die Organisation des Justizwesens ausschließlich in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten liege.

Nicht selten wurden in Äußerungen von Morawiecki, Ziobro und anderen Mitgliedern der polnischen Regierung antideutsche Töne laut. So stellte Morawiecki auf einer Pressekonferenz fest, dass die in ganz Europa steigende Inflation nicht zuletzt auf Preismanipulationen des russischen Gaskonzerns Gazprom auf dem Energiemarkt zurückgehe, und erklärte mit Blick auf Deutschland, dass in diesem Zusammenhang die Gasleitung Nord Stream 2 zu einem potentiellen Erpressungsinstrument des Kreml werden könne, woran Deutschland und die in Berlin im Herbst 2021 noch regierende CDU, die Mitglied der EVP ist, eine Mitschuld trage. Genauer stellte der polnische Regierungschef den Zusammenhang zwischen der inflationären Entwicklung und der Rolle von Gazprom auf dem europäischen Energiemarkt jedoch nicht dar.

Justizminister Ziobro wiederum verstieg sich zu der absurden Behauptung, dass der Einfluss des Bundestages auf die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts viel weiter gehe, als im Falle des Sejm und des polnischen Verfassungstribunals. Allerdings verzichtete Ziobro darauf, seine Behauptung zu erläutern und genauere Hinweise zum Prozedere der Wahl der deutschen Verfassungsrichter zu liefern. Stattdessen kündigte er an, beim EuGH Klage gegen Deutschland wegen "Politisierung der Justiz" einreichen zu wollen.

Deutschlandfeindliche Äußerungen haben auch in Medien, die der PiS und der Regierung nahestehen, ihren Platz. Die Wochenzeitung Sieci behauptete, dass es in Polen eine "deutsche Partei" gebe. Dieser sollen angeblich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens angehören, die sich Deutschland besonders verbunden fühlen und eifrig ihre Loyalität zu diesem Land demonstrieren würden. Für sie seien die Interessen Deutschlands oft wichtiger als die Polens. Sieci nannte insbesondere Donald Tusk, ehemaliger Ministerpräsident (2007–2014) und Präsident des Europäischen Rates (2014–2019), den ehemaligen Außenminister Radosław Sikorski (2007–2014) und den früheren Bürgerrechtsbeauftragten Adam Bodnar (2015–2021). Diese bald nach 1989 gegründete Partei, so die Darstellung, erkenne die deutsche Hegemonie in der EU an. Die starke Position dieser Partei in Polen sei das Ergebnis finanzieller Hilfe aus Deutschland in Form von Stipendien, Auszeichnungen und Einladungen an Experten. Deutschlandfreundliche Politiker, Wissenschaftler und Kulturschaffende, so Sieci , hätten im Laufe der Jahre enorme finanzielle Unterstützung insbesondere durch die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Robert Bosch Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung erhalten. Die Rückkehr Tusks in die polnische Politik sei das Ergebnis des deutschen Einflusses in Polen. Wiederholt wurden in den abendlichen Fernsehnachrichten des regierungsnahen Ersten Programms einige Sätze von Tusk, die er im Rahmen einer Rede in deutscher Sprache gehalten hatte, in Reportagen und Kommentare eingefügt, um seine Abhängigkeit von Deutschland zu demonstrieren.

Zur Verbalisierung der kritischen bis angespannten Haltung gegenüber den Deutschen gehört des Weiteren, dass unter dem Einfluss von PiS -Politikern auf vielen Gedenktafeln in Warschau, die an Schandtaten der SS und der Wehrmacht während der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg erinnern, das Wort hitlerowcy (Hitleristen, Nazis) durch Niemcy (Deutsche) ersetzt wurde, um die Täter zu benennen.

Auch den Nationalfeiertag der Unabhängigkeit (11. November) wusste das Regierungslager für seine Antihaltung gegenüber der EU und Deutschland zu nutzen. Gezielt übernahm die polnische Regierung die Schirmherrschaft für die diesjährige zentrale Demonstration, indem sie diese der staatlichen Institution übertrug, die sich um die Anliegen von Veteranen und Verfolgten aus der Zeit der Diktaturen kümmert. In den vergangenen Jahren waren die Demonstrationen am 11. November vor allem von polnischen Rechtsradikalen dominiert worden, wobei es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war. So ermöglichte die Regierung in diesem Jahr vielen polnischen Bürgern, die national und patriotisch empfinden und zum Teil der PiS nahestehen, an dieser Demonstration teilzunehmen, ohne als Sympathisanten der Rechtsradikalen zu erscheinen. Das Ergebnis war ganz im Sinne der Regierung. Viele der Demonstranten unterstützten die Anti-EU- und antideutsche Haltung, welche die Regierungsmitglieder zuvor immer wieder zum Ausdruck gebracht hatten.

Es bleibt die Frage, warum sich Regierungsmitglieder wie Morawiecki und Ziobro sowie Funktionäre der PiS und der Partei Ziobros einer derart aggressiven Rhetorik bedienen, die bei den EU-Institutionen nur Verwunderung und Befremden auslöst. Vieles deutet darauf hin, dass sich beide Parteien schon jetzt, zwei Jahre vor den nächsten Parlamentswahlen im Jahr 2023, im Wahlkampfmodus befinden. Die PiS hat im Parlament aktuell keine Mehrheit mehr und muss deshalb vor jeder parlamentarischen Entscheidung Bündnispartner suchen, sei es in Gestalt der Partei von Ziobro, Solidarisches Polen, sei es bei anderen Fraktionen. Hinzu kommt die Angst vor einem Machtverlust, die vor allem jene PiS -Funktionäre und -Sympathisanten erfasst, die seit dem Machtantritt der Partei Kaczyńskis im Jahr 2015 erhebliches Vermögen angehäuft haben, etwa durch Übernahme lukrativer öffentlicher Posten mit Hilfe ihrer Partei, beispielsweise in der Polnischen Nationalbank (Narodowy Bank Polski  – NBP), in mehrheitlich staatlichen Unternehmen oder in kulturpolitisch aktiven öffentlichen Institutionen. Ein Gang der PiS in die Opposition würde den Verlust dieser Posten bedeuten und möglicherweise juristische Konsequenzen für die betreffenden Personen.

Gedankenspiele in Sachen Polexit

Geradezu zwangsläufig mündete die aggressive Rhetorik der Regierenden in ein öffentliches Nachdenken über einen Austritt Polens aus der EU. So erklärte der Vizemarschall des Sejm und Vorsitzende der PiS -Fraktion, Ryszard Terlecki, während eines Wirtschaftsforums im südwestpolnischen Karpacz, dass man darüber nachdenken müsse, wie weit und wie stark man kooperieren könne, damit alle in der EU ihren Platz fänden, in einer EU, die man akzeptieren könne. Doch wenn es sich weiter so entwickele, wie es den Anschein hat, betonte Terlecki, dann müsse man nach drastischeren Lösungen suchen. Und wörtlich: "Die Briten haben gezeigt, dass ihnen die Diktatur der Brüsseler Bürokratie nicht gefällt. Sie haben sich abgewandt und sind gegangen." Später beschwichtigte Terlecki, er habe damit keineswegs gemeint, dass Polen aus der EU austreten solle.

Einen Schritt weiter ging Marek Suski, ein enger Berater von Ministerpräsident Morawiecki, der als wichtiges Sprachrohr der PiS gilt. Während einer Gedenkfeier erinnerte er daran, dass Polen während des Zweiten Weltkriegs gegen die deutschen und die sowjetischen Besatzer gekämpft habe. Offenbar, so Suski, sei es nun an der Zeit, gegen die Besatzer aus Brüssel zu kämpfen, die versuchten, Polen in die Knie zu zwingen, "damit es vielleicht ein deutsches Bundesland werde, aber kein stolzer Staat freier Polen". Suski gebrauchte das Wort Polexit nicht, aber den Zuhörern im Saal war klar, dass er mit seinen Äußerungen in diese Richtung zielte.

Der Abgeordnete Janusz Kowalski von der mitregierenden Partei Solidarisches Polen kündigte an, man plane für 2027 ein gesamtpolnisches Referendum zu einem möglichen Austritt Polens aus der EU. Der Europaabgeordnete der PiS und Berater des Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński, Ryszard Legutko, ließ in einem Interview für die Wochenzeitung Do Rzeczy durchblicken, dass das Europaparlament im Grunde überflüssig sei, da es eh nur als Bühne für linke und linksradikale Kräfte diene.

So war es nur konsequent, dass der frühere polnische Regierungschef und ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, in einem Gespräch mit dem Fernsehsender TVN 24 festhielt, dass er einen Austritt seines Landes aus der EU nicht für ausgeschlossen halte. Polen, meinte Tusk, könne schneller, als es irgendjemand für möglich halte, kein Mitglied der EU mehr sein, wenn der PiS die Anti-EU-Kampagne aus den Händen gleite.

Widersprüchliches Dementi

Schließlich bemühte sich der Parteivorsitzende der PiS und stellvertretende Ministerpräsident Jarosław Kaczyński, die Austrittsdebatte zu kanalisieren und die Richtung für die Regierungspolitik der kommenden Monate in Sachen EU vorzugeben. Sehr erfolgreich war er damit nicht, wie sich in der Folgezeit erwies, denn er selbst äußerte sich sehr widersprüchlich, was Anlass für weitere öffentliche Spekulationen gab. Kaczyński sagte in einem Interview mit der polnischen Nachrichtenagentur PAP , dass es keinen Polexit geben werde, da man Polens Zukunft eindeutig in der EU sehe. Aber ebenso hob er hervor, dass die EU-Verträge größtenteils von den Mitgliedsstaaten nicht mehr als verpflichtend angesehen bzw. nur noch als Vorwand benutzt würden. Außerdem werde der Grundsatz der Gleichheit der Staaten in drastischer Weise verletzt. Man beobachte, so der Parteivorsitzende, eine Instrumentalisierung der EU durch die stärksten Staaten, insbesondere durch Deutschland. Kaczyński wörtlich: "Dagegen müssen wir uns wehren. Wir sind dafür, dass die EU-Verträge entsprechend präzisiert werden, damit Missbräuche jeglicher Art verhindert werden können. Wir wollen in der EU sein, aber gleichzeitig wollen wir ein souveräner Staat bleiben."

Insbesondere der letzte Satz eröffnete Raum für neue Spekulationen. Es ist kein Geheimnis, dass die EU nach Kaczyńskis Überzeugung in ihrer jetzigen rechtlichen, politischen und administrativen Gestalt zum Scheitern verurteilt ist. Allerdings hat er bislang nicht erläutert, wie er seine Auffassungen innerhalb der EU mehrheitsfähig machen und zu entsprechenden Beschlüssen aller Mitgliedsstaaten kommen will. Immerhin kündigte er an, Polen werde im Rahmen der laufenden "Konferenz zur Zukunft Europas" einen Alternativplan vorlegen. Kurz nach der Veröffentlichung dieses Interview fasste die Führung der PiS einen Beschluss, der im Wesentlichen den Vorgaben Kaczyńskis entsprach.

Der Parteivorsitzende und seine engsten Mitstreiter wissen natürlich sehr genau, dass nach wie vor gut 80 Prozent der Bürger Polens die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU grundsätzlich befürworten. Dies ist ein wesentlicher Grund für das Lavieren der von der PiS geführten Regierung im Umgang mit den EU-Institutionen. Im September 2020 veröffentlichte die Tageszeitung Rzeczpospolita eine Untersuchung des Warschauer Meinungsforschungsinstituts Instytut Badań Rynkowych i Społecznych (IBRiS), wonach nur zehn Prozent der befragten polnischen Bürger glauben, dass die Anwesenheit Polens in der EU mehr Nachteile als Vorteile habe. Demgegenüber, so hieß es, seien fast 70 Prozent der Befragten davon überzeugt, dass die Vorteile die Nachteile überwögen. Die meisten Befragten, nämlich 68 Prozent, äußerten die Meinung, dass der Zufluss von EU-Mitteln der größte Vorteil der Mitgliedschaft Polens in der EU sei. Für 58 Prozent wiederum sind offene Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten der wichtigste Aspekt. 34 Prozent meinten, dass sich die Sicherheit Polens aufgrund der EU-Mitgliedschaft erhöhe. Immerhin sehen 33 Prozent der Befragten eine von ihnen beobachtete ungleiche Behandlung der EU-Staaten als größten Nachteil und für 25 Prozent ist die Auferlegung von Rechtsvorschriften durch die EU, an die sich Polen halten müsse, der größte Nachteil der EU-Zugehörigkeit.

Bei aller Zustimmung hat aber auch die Sorge wegen eines möglichen Austritts Polens aus der EU zugenommen. Laut IBRiS hatten im November 2020 knapp 42 Prozent der Befragten derartige Befürchtungen. Im September 2021 waren es schon mehr als 46 Prozent. Das im estnischen Tallinn beheimatete Forschungsinstitut United Surveys veröffentlichte ebenfalls im September 2021 eine Umfrage unter polnischen Bürgern, wonach 86 Prozent der Befragten dafür votierten, dass Polen Mitglied der EU bleiben solle. Nur sieben Prozent befürworteten einen Austritt. Immerhin 30 Prozent befürchteten, dass ein Polexit -Szenario umgesetzt werden könne.

Politische Unterordnung von Verfassungsorganen

Für Konflikte zwischen Polen und der EU sorgen insbesondere die Haltung der Warschauer Regierung zur staatlichen Gewaltenteilung und zum Rechtsstaat, der Umgang mit dem EU-Haushalt und dem European Recovery Fund , die Frage der künftigen Energieversorgung und der Bewältigung des Klimawandels sowie der Umgang mit Flüchtlingen, die sich aus außereuropäischen Ländern in die EU aufmachen.

Dass die polnischen Nationalkonservativen seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2015 die Gewaltenteilung beeinträchtigt und dem Rechtsstaat schweren Schaden zufügt haben, wird von regierungsunabhängigen nationalen sowie internationalen Experten immer wieder unterstrichen. Diese Kritik wird auch von Mitgliedern der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments sowie von führenden Politikern aus den meisten EU-Staaten vorgetragen. Zu den Verteidigern des Regierungshandelns gehören allenfalls der ungarische Ministerpräsiden Viktor Orbán sowie Vertreter rechter bzw. nationalistischer Parteien wie etwa Marine Le Pen vom Rassemblement National in Frankreich.

In Polen hat nicht zuletzt der ehemalige Bürgerrechtsbeauftragte Adam Bodnar die verhängnisvolle Politik der Regierung in Sachen Justiz präzise beschrieben und analysiert. So betonte der habilitierte Verfassungsrechtler in einer Festschrift zum 70. Geburtstag von Marian Safjan, ehemaliger Präsident des Polnischen Verfassungstribunals und gegenwärtig Richter am EuGH, dass die polnische Regierung unter der Führung der PiS seit ihrem Amtsantritt 2015 die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts und die Gewaltenteilung insgesamt untergraben habe. Das Rechtsverständnis und die Rechtspraxis der PiS , so Bodnar, entsprächen einem "diskriminierenden Legalismus". Die Regierung versuche, sämtliche staatliche Institutionen, darunter die Gerichte, ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Ihre Machtmechanismen nutze sie, um Vertraute zu fördern. Mit formalen Verfahren und informellen Praktiken, stellte Bodnar fest, benachteilige und schikaniere sie Kritiker und Gegner, zerstöre die Neutralität staatlicher Institutionen und unterminiere das Recht und die Rechtsstaatlichkeit.

Bodnar sprach außerdem von einem "formalen Legalismus" der PiS und ihrer Verbündeten, womit er ihre Rechtfertigungsstrategie meint. Diese baue auf der Argumentation der Regierung auf, dass die Mehrheit nun einmal das Recht habe, Änderungen im Einklang mit dem Willen des Souveräns vorzunehmen, da dieser die Regierenden mittels Wahlen zu solchen Änderungen ermächtigt habe. Im potentiell verfassungswidrigen Charakter ihrer Schritte sähen die Politiker des Regierungslagers, so Bodnar, kein ernsthaftes Problem, denn schließlich legitimiere das von PiS kontrollierte Verfassungstribunal mit seinen Urteilen immer wieder das Regierungshandeln. Gerade Ministerpräsident Mateusz Morawiecki bedient sich der Methode des formalen Legalismus.

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die PiS und ihr Koalitionspartner Solidarisches Polen trotz der im In- und Ausland vorgetragenen Kritik ihre Politik der Knebelung der Justiz konsequent fortsetzen. So kündigte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zwar an, man wolle die umstrittene Disziplinarkammer am Obersten Gericht auflösen, doch solle dies im Zuge einer umfassenden Reform des Justizwesens geschehen. An den Plänen für diese Reform wird vor allem im Justizministerium unter Leitung von Minister Zbigniew Ziobro gearbeitet. Dabei geht es um eine umfangreiche Reorganisierung des Obersten Gerichts, die Einführung neuer Disziplinarregeln für Richter sowie die Abschaffung der örtlichen Amtsgerichte zugunsten eines Ausbaus der Bezirksgerichte. All dies wird mit einer Überprüfung aller Richter dieser Institutionen verbunden sein, womit der Regierung neue Instrumente in die Hand gegeben werden, politisch missliebige Richter zu entfernen.

Das Rechtsverständnis der polnischen Nationalkonservativen krankt außerdem daran, dass sie nicht verstehen bzw. bewusst negieren, dass die EU eine eigenständige Organisation mit Rechtsetzungsbefugnissen ist, was gemeinschaftlich von den Mitgliedsstaaten in den europäischen Verträgen festgelegt wurde. Dem Europäischen Gerichtshof ist von den Mitgliedsstaaten aufgegeben, über das EU-Recht zu wachen. Natürlich kann es zu Widersprüchen zwischen nationalen und europäischen Justizorganen kommen, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (Mai 2020) gezeigt hat. Jedoch werden solche Widersprüche gewöhnlich durch wissenschaftliche Konsultationen geklärt und in der Regel aufgehoben. Eine Verschanzung hinter der eigenen Position wäre auch nicht hilfreich.

Wer die EU in der gegebenen Rechtsform negiert, müsste alles daransetzen, sie radikal zu verändern bzw. sogar aufzulösen oder die eigene Mitgliedschaft aufkündigen. Aber das will und kann die PiS nicht, denn selbst wenn man die EU in eine reine Wirtschaftsgemeinschaft umwandeln würde, bräuchte man gemeinsame rechtliche Regeln etwa zur Festlegung von Qualitätsstandards und Gewährleistung von Vertragssicherheit. Das Rechtsverständnis der PiS ist insofern anachronistisch, als ihre Politiker nicht begreifen, dass wir aufgrund der Globalisierung in einer Zeit der Internationalisierung des Rechts leben. Ein Beispiel dafür sind die internationalen juristischen Bemühungen, der globalen Macht der großen Internetkonzerne wie Google und Amazon Schranken zu setzen.

Es geht ums Geld

Ein Blick auf den EU-Haushalt 2021–2027 und den European Recovery Fund zeigt, wie Politiker der PiS und

Tatsächlich ist Polen seit Jahren der größte Nettoempfänger des EU-Haushalts. Im Jahr 2020 erhielt das Land 12,4 Milliarden Euro mehr, als es einzahlte. Ein Jahr zuvor betrug der positive Saldo 12,37 Milliarden Euro. Das entspricht 2,4 Prozent des polnischen Bruttoinlandsprodukts. Im Rahmen des EU-Budgets 2021–2027 stehen Polen 76 Milliarden Euro aus dem Strukturfonds und 30 Milliarden aus dem Agrarfonds zu. Allerdings wurde auf dem EU-Gipfel im Dezember 2020 die Vergabe der Strukturgelder zum ersten Mal an die Befolgung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft. Der Druck der Mitgliedsstaaten in dieser Frage war groß. So wurde Polen aufgetragen, das Investitionsklima insbesondere durch den Schutz der Unabhängigkeit der Justiz zu verbessern, den Zugang zu unabhängigen Gerichten zu ermöglichen und Berechenbarkeit von Maßnahmen und Institutionen im Bereich der Gesetzgebung zu gewährleisten, weil all das entscheidende Faktoren für das Funktionieren des Binnenmarktes seien. Allerdings wurde in dem Beschluss der Mitgliedsstaaten auch festgeschrieben, dass die Feststellung eines Verstoßes gegen Grundsätze des Rechtsstaats allein nicht ausreicht, um EU-Finanzhilfen zu kürzen. Vielmehr muss klar nachgewiesen werden, dass der Verstoß negative Auswirkungen auf die Verwendung von EU-Mitteln hat. Als der EU-Haushalt beschlossen wurde, verzichteten Polen und Ungarn auf ein Veto gegen die Einführung dieses "Rechtsstaatsmechanismus", behielten sich aber vor, beim EuGH dagegen zu klagen. Das geschah im März 2021. Eine Antwort wird bis Ende 2021 erwartet.

Außerdem stehen Polen 24 Milliarden Euro als Zuschuss und 34 Milliarden als Darlehen aus dem European Recovery Fund zu. Auch hier zählt für die Vergabe der Gelder aus diesem Fonds die Bedingung, dass die Empfängerländer die Rechtsstaatlichkeit achten. Doch bald nach diesem Beschluss der europäischen Staats- und Regierungschefs begann Polen, Urteile des EuGH zu ignorieren.

Politiker der PiS und von Solidarisches Polen bemühen sich immer wieder, die Bedeutung der EU-Mittel für Polen herunterzuspielen. So sagte der Berater des Ministerpräsidenten, Suski, dass diese Gelder nicht so bedeutend seien. Ohne die Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds werde man "schon klarkommen", Polen könne man nicht aushungern. Auch der Präsident der Polnischen Nationalbank, Adam Glapiński, ein alter Weggefährte des PiS -Vorsitzenden Jarosław Kaczyński, versicherte, dass in der Wirtschaft zwar jede Milliarde wichtig sei, dass man "das aber auch ohne diese Gelder schaffen" werde.

Das Gegenteil ist richtig. Ohne die EU-Mittel wird die polnische Regierung die Finanzierung ihrer aufwendigen Sozialprogramme, die enorme Aufstockung der Verteidigungsausgaben und die Bewältigung der COVID-19-Krise nicht leisten können, es sei denn auf Kosten des Wirtschaftswachstums und der Stabilität der Währung. Hier hat Glapiński bereits angedeutet, dass die umlaufende Geldmenge ja erhöht werden könne.

Asylsuchende müssen draußen bleiben

Die Migrationspolitik der polnischen Regierung ist eine Mischung aus berechtigter Verteidigung gegen das aggressive Auftreten des belarussischen Regimes, mangelnder Bereitschaft zur Kooperation in der EU, Unmenschlichkeit gegenüber asylsuchenden Migranten und lautstarker Propaganda wegen eines angeblich terroristischen Hintergrunds vieler von ihnen. Immerhin sind sich die EU-Kommission und die polnische Regierung darin einig, dass der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko durch das Einschleusen von Migranten Unruhe in Polen und den anderen an Belarus angrenzenden EU-Staaten erzeugen will. Teilweise verhalten sich die belarussischen Grenzschützer sehr aggressiv, so dass die Gefahr bewaffneter Auseinandersetzungen droht. Die parallel abgehaltenen gemeinsamen Militärübungen von Belarus und Russland (November 2021) stellen sicherlich für die Ukraine und die baltischen Staaten eine Bedrohung dar, für Polen aber eher nicht.

Ob der von der polnischen Regierung im September 2021 verhängte Ausnahmezustand im Grenzgebiet notwendig ist, der den Zutritt von Ärzten, Hilfsorganisationen, Medienvertretern und Geistlichen verhindert, wird von vielen polnischen Kommentatoren bezweifelt. Eher, so heißt es, wolle die Regierung vermeiden, dass unliebsame Meldungen von der Grenze an die Öffentlichkeit dringen. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass hilfesuchende Asylbewerber rechtswidrig wieder nach Belarus abgeschoben werden. Sogar die Bitte des Primas von Polen, Wojciech Polak, regierungsunabhängigen Ärzten die Versorgung von Migranten an der Grenze zu erlauben, wurde von der Regierung abgelehnt. Als der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz, Erzbischof Stanisław Gądecki, dazu aufrief, Geld zu sammeln, um den Migranten helfen zu können, wurde dies von zahlreichen Priestern abgelehnt. Auch die von der EU-Kommission angebotene Hilfe durch die Grenzschutzagentur Frontex, die Asylbehörde Easo und die Polizeibehörde Europol stieß in Morawieckis Kabinett auf taube Ohren.

Die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Regierung mit der EU steht in krassem Gegensatz zu öffentlichen Äußerungen Morawieckis, wenn er im englischsprachigen Dienst des Medienkanals Youtube warnt, dass "Europa, unser gemeinsames Haus", in Gefahr sei. Diktatoren in Belarus und Russland, so Morawiecki, wollten Europa destabilisieren. In einem Brief an die Mitglieder des Europaparlaments nannte der Ministerpräsident sieben Grundsätze für eine seiner Meinung nach wirksame Politik der EU gegenüber der Bedrohung aus dem Osten: Keinerlei Zugeständnisse an Moskau; Konsultationen mit Polen, bevor mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verhandelt wird; Solidarität der EU mit den Ländern, die Lukaschenkos Machenschaften am stärksten ausgesetzt sind; Taten statt Worte in der Außenpolitik der EU-Staaten; enge Kooperation mit den USA; eine gemeinsame EU-Energiepolitik; stärkere Berücksichtigung der Interessen der Ukraine. Diese Grundsätze vertrat Morawiecki dann auch in seinen Gesprächen und mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace kündigte schließlich an, etwa 150 Soldaten an die polnisch-belarussische Grenze schicken zu wollen. Eine ähnliche Ankündigung machte auch der estnische Verteidigungsminister Kalle Laanet. Da der Ausnahmezustand im Grenzgebiet am 2. Dezember ausgelaufen ist und laut Gesetz auch nicht verlängert werden konnte, verabschiedete der Sejm gegen den Widerstand des Senats ein "Gesetz zum Schutz der Staatsgrenze", das es dem Innenminister erlaubt, per Verordnung ein zeitlich begrenztes Aufenthaltsverbot für die Grenzregion zu verhängen – etwa für Journalisten und Angehörige von Hilfsorganisationen. Verfassungsrechtler und gestandene Medien wie die überregionale Tageszeitung Rzeczpospolita haben das Gesetz als verfassungswidrig bezeichnet.

Vertreter von Amnesty International und der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte wiesen wiederholt darauf hin, dass Asyl suchende Migranten an der Grenze festgehalten werden, ohne nach Polen einreisen oder nach Belarus zurückkehren zu können, unter ihnen jesidische Familien aus dem Irak mit kleinen Kindern. Mehrfach wurden Leichen von Migranten in den Wäldern an der Grenze aufgefunden. Stark übertrieben scheint die allabendlich in den Fernsehnachrichten des regierungsfreundlichen Ersten Programms präsentierte Auffassung der Regierung zu sein, dass viele der ankommenden Migranten in Verbindung mit den Taliban, dem sogenannten "Islamischen Staat" und anderen terroristischen Gruppen stünden. Tatsache ist aber auch, dass einzelne Gruppen von Migranten mehrfach unter Beihilfe belarussischer Grenzschützer versucht haben, gewaltsam auf polnisches Gebiet vorzudringen, wobei polnische Soldaten und Polizisten verletzt wurden.

Wie sehr die Meinungen zur Situation an der polnisch-belarussischen Grenze auch in westlichen EU-Staaten auseinandergehen, zeigen etwa die Äußerungen deutscher Politiker. Während der geschäftsführende Innenminister Horst Seehofer bei einem Besuch in Warschau das Vorgehen der polnischen Regierung ausdrücklich lobte, forderte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eine vorläufige Einreiseerlaubnis für Flüchtlinge aus Belarus. Ähnliche Forderungen wie Schäuble erhob das Deutsche Rote Kreuz. Immerhin einigten sich die EU-Staaten auf Sanktionen gegen Fluggesellschaften, die Migranten nach Belarus bringen.

Offensichtlich haben die Telefongespräche der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem belarussischen Machthaber Lukaschenko (November 2021) dazu beigetragen, die Situation an der Grenze etwas zu entschärfen. Migranten wurden in einer festen Unterkunft einquartiert, andere in ihre Heimatländer zurückgeflogen. Andererseits wurden die Telefonate der Kanzlerin in den rechtslastigen polnischen Medien und von einzelnen Politikern der Regierungsparteien scharf kritisiert. Man könne nicht mit Diktatoren verhandeln, hieß es. Nur Sanktionen seien angebracht. Auch Morawiecki erklärte öffentlich, Merkels Gespräche mit Lukaschenko hätten dessen Regime legitimiert. Präsident Andrzej Duda unterstrich öffentlich, sein Land werde keine Vereinbarungen akzeptieren, die ohne Beteiligung Polens festgelegt würden. Derlei Äußerungen sind nur vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die polnische Regierung aufgrund ihrer mangelnden Kooperationsbereitschaft innerhalb der EU, etwa hinsichtlich der Verteidigung der Grenze, ihr Land weiter in die außenpolitische Isolation geführt hat. Dazu mag auch die Rechtsprechung des EuGH einen Teil beigetragen haben. Sie hat sich in jüngster Zeit vergleichsweise stark auf Polen konzentriert und ist juristisch korrekt; sie wirkt politisch aber insofern kontraproduktiv, als sie die polnische Regierung in ihrer Wagenburgmentalität bestärkt hat.

Geht es um die Energie- und Umweltpolitik, dann lässt sich absehen, dass Polen vorerst kaum etwas beisteuern wird, um die ehrgeizigen Ziele der EU-Kommission in Sachen Klimaschutz zu erreichen. Hierfür gibt es zwei Gründe. Zum einen gehört der Umweltschutz nicht zu den vorrangigen Zielen der von der PiS geführten Regierung. Allerdings stand dieser auch bei ihren Vorgängern nicht oben auf der Agenda. Zum anderen steht Polen nicht zuletzt wegen der rückständigen Struktur seiner Energieversorgung, die vor allem auf Kohle basiert, vor besonders großen Problemen. Insofern kann man das EuGH-Urteil zum Braunkohle-Tagebau Turów durchaus als unangemessen ansehen. Zwar hat Polen beim jüngsten Klimagipfel COP26 in Glasgow (November 2021) zusammen mit 30 anderen Staaten eine Verpflichtung unterschrieben, wonach alle Unterzeichner den Ausstieg aus der Kohle zum Ende der 2030er Jahre verwirklichen wollen. Doch schon bald nach dem Ende des Gipfels sagte der Sprecher des Ministeriums für Klima und Umwelt, dass man das Ziel erst gegen Ende der 2040er Jahre verwirklichen werde, da Polen hinsichtlich seiner Energiewirtschaft noch zu den Entwicklungsländern gehöre. Allerdings ist Polen Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), der nur die wichtigsten Länder mit entwickelten Volkswirtschaften angehören.

Fazit

Betrachtet man die Missachtung der EU-Gerichtsbarkeit durch die Regierungsparteien PiS und Solidarisches Polen, die von Jarosław Kaczyński vorgestellten Pläne zur deutlichen Aufstockung der Verteidigungsausgaben, die Flüchtlingspolitik des Kabinetts und die aggressive Rhetorik der Regierungsmitglieder, ist eine innere Logik erkennbar. Kaczyński und seine Mitstreiter wollen sich gegenüber ihren Wählern als entschlossene und standhafte Vorkämpfer für die vollständige Unabhängigkeit Polens präsentieren – mit (fast) allen Mitteln und koste es, was es wolle. Gegen die "Diktatur" der EU und die "Vorherrschaft" Deutschlands, gegen Russland (notfalls ohne die NATO) und gegen die Flüchtlingswelle, die angeblich hauptsächlich Terrorismus ins Land bringt. "Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor", sagte Kaczyński. Diese Kriegsrhetorik und die Migrationspolitik der Regierung dienen auch dazu, von realen Problemen etwa bei der Bewältigung der COVID-19-Krise abzulenken.

Dies ist eingebettet in eine Situation, in der sich die EU in einem weitreichenden Krisenmodus bewegt. Neben den Entwicklungen in Polen und Ungarn sind in der Gemeinschaft auch das Erstarken des Nationalismus in westlichen EU-Staaten, die zunehmende Marginalisierung der EU in der internationalen Politik, die finanzielle Verschwendung in der Gemeinschaft, die mangelnde Effektivität des Apparats der EU, die grassierende Korruption in Bulgarien, Rumänien, Malta und anderswo und eben auch die Missachtung von Urteilen der europäischen Gerichte zu beobachten.

Doch die Regierungen aller Mitgliedsstaaten und auch die EU-Kommission haben nicht den Willen, eine strategische Debatte über eine durchgreifende Reform der Gemeinschaft anzustoßen – sei es zugunsten einer stärkeren Vergemeinschaftung oder zugunsten einer Begrenzung der von der EU bearbeiteten Politikfelder und einer Rückübertragung bestimmter Aufgaben an die Nationalstaaten oder einzelne staatenübergreifende Regionen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die von der EU-Kommission angestoßenen "Konferenzen zur Zukunft Europas" wenig strategisch bedeutsame Konzepte hervorbringen werden. Durchdachte, Erfolg versprechende Vorschläge kommen eher aus der Wissenschaft, beispielsweise von den deutschen Verfassungsrechtlern Dieter Grimm und Andreas Voßkuhle, sie finden in der Politik aber kaum Beachtung. Im Grunde genommen sind beide Seiten schwach: die EU und insbesondere die Kommission in Brüssel, weil sie Vorgaben des EuGH und des Europaparlaments kaum wirksam durchsetzen kann, und die Regierung in Warschau, die der EU eher ablehnend gegenüber steht, aber auf die EU-Mittel angewiesen ist und genau weiß, dass die Mehrheit der polnischen Bürger einen Polexit nicht akzeptiert. Kaczyński setzt auf die zunehmende Schwäche der EU.

So hat die Regierung in Warschau eine gewisse Bewegungsfreiheit in ihrem Kurs des Lavierens. Grundlegende oder radikale Lösungen wie eine deutliche Änderung des Kurses der PiS , ihre Verdrängung von der Macht oder ein Austritt Polens aus der EU stehen vorerst nicht an. Also Polexit höchstens in Raten oder durch die Hintertür.

Fussnoten

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Reinhold Vetter ist freier Wissenschaftler und Publizist. In diesen Tagen erscheint von ihm Das Bollwerk des Katholizismus wankt. Rapide Säkularisierung in Polen. Baden-Baden 2021.