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Analyse: Flugzeugabsturz, Präsidentenwahl - und weiter? Eine Bilanz des letzten halben Jahres in Polen | Polen-Analysen | bpb.de

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Analyse: Flugzeugabsturz, Präsidentenwahl - und weiter? Eine Bilanz des letzten halben Jahres in Polen

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Zusammenfassung

Der Flugzeugabsturz vom 10. April und die Stichwahl um das Präsidentenamt am 4. Juli 2010 waren die wichtigsten Marksteine in der jüngsten politischen Entwicklung in Polen. Das erste Datum führte überraschenderweise zu einer Art polnisch-polnischem Burgfrieden, zu innenpolitischer Mäßigung selbst im Wahlkampf und - aufgrund der russischen Anteilnahme - zu einer Welle der Sympathie für Russland. Auf das zweite Datum folgte eine Rückkehr der früheren innenpolitischen Polarisierung mit neuen Erscheinungen, etwa einer Debatte um das Verhältnis von Staat, Kirche und Religion. Allerdings hat der (unerwartet knappe) Wahlsieg des Regierungskandidaten Bronislaw Komorowski eine Situation herbeigeführt, in der fortan nicht mehr eine schwierige Kohabitation, sondern Harmonie das Verhältnis von Präsident und Regierung bestimmen wird. Damit dürfte sich Polen dem politischen Mainstream in der Europäischen Union weiter annähern. Derweil hat in der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwosc - PiS) von Jaroslaw Kaczynski ein beispielloser Richtungskampf begonnen.

Einleitung

Die Flugzeugtragödie vom April im russischen Smolensk, als Staatspräsident Lech Kaczynski, die Spitze der Armee, Politiker, hohe Beamte, Geistliche und andere Persönlichkeiten ums Leben kamen, ist aufgrund ihrer Schockwirkung mit den Terrorangriffen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten verglichen worden. Der Vergleich hinkt natürlich. Er hinkt unter anderem deswegen, weil Politik und Gesellschaft in den USA in ihrer großen Mehrheit eine einheitliche Deutung des damaligen Ereignisses gefunden haben. In Polen dagegen zeichnete sich schon als sich Jaroslaw Kaczynski in der Nacht des 10. April in Smolensk weigerte, Beileidsbekundungen des russischen Regierungschefs Wladimir Putin und des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk entgegenzunehmen, ab, dass es zwei widerstreitende Sichtweisen auf diese Katastrophe, ihre Vor- und und ihre Nachgeschichte geben würde. Nach Ende der notwendig gewordenen vorgezogenen Präsidentschaftswahlen trat dieser Konflikt offen zu Tage. Er dürfte noch geraume Zeit weiterwirken.

Um es hier vorwegzunehmen: In diesem Streit geht es nicht so sehr um die Vermutung, Terroristen oder russische Geheimdienste könnten den Flugzeugabsturz herbeigeführt haben. Es geht vor allem um die Ereignisse davor und danach. Vereinfacht gesagt: Das oppositionelle Lager der national-konservativen Partei PiS, der sich der verunglückte Staatspräsident Lech Kaczynski zugehörig fühlte und deren Vorsitzender sein Zwillingsbruder Jaroslaw ist, glaubt erstens an eine »politische und moralische Mitverantwortung« des Regierungslagers, weil es, auch aufgrund des innenpolitischen Dauerkonflikts zwischen Regierung und Staatspräsident, zu getrennten Gedenkfeiern im russischen Katyn gekommen war - die Regierungschefs Tusk und Putin waren am 7. April in Katyn, Präsident Kaczynski flog mit seiner Delegation am 10. April. Zweitens kritisiert das Kaczynski-Lager, dass die Ermittlungen der russischen Seite schleppend verlaufen und dass die russischen Antworten auf wiederholte polnische Rechtshilfeersuchen in Sachen Flugzeugabsturz bisher ausgeblieben sind. Damit geht die Vermutung einher, dass die russische Seite etwas zu vertuschen habe, was den Zustand des Flughafens in Smolensk oder das Verhalten der russischen Fluglotsen betrifft.

Den ersten Kritikpunkt muss die polnische Regierung wohl nicht allzu ernst nehmen. Doch beim zweiten Punkt hat sich Anfang August erstmals Innenminister Jerzy Miller öffentlich mit Kritik an der russischen Seite zu Wort gemeldet. Mit Rückendeckung seines Regierungschefs mahnte Miller an, die russischen Ermittler sollten Aktenbände mit noch fehlenden Dokumenten über den Absturz zügig nach Warschau übermitteln. Mitte August wurden dann weitere Dokumente übergeben. Die Untersuchungen der zwei ermittelnden polnischen Organe, der Militärstaatsanwaltschaft und der von Miller geleiteten Kommission für die Untersuchung von Luftfahrtunfällen, dauern an.

Ein verhaltener Wahlkampf

Nachdem also am 10. April der Präsident und 95 Mitreisende ums Leben gekommen waren, begann für Polen eine dramatische Zeit: Immer wieder rollten Leichenwagen im Konvoi langsam durch die Straßen von Warschau, die von der trauernden Bevölkerung gesäumt waren, und die Staatsbegräbnisse wollten kein Ende nehmen. Auf Sejmmarschall Bronislaw Komorowski, der zugleich Kandidat der regierenden liberal-konservativen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska - PO) für die im Herbst anberaumte reguläre Wahl des Staatspräsidenten war, kam gemäß Verfassung nun eine dritte Rolle zu: Im Todesfalle des Präsidenten übernimmt der Sejmmarschall dessen Amtsgeschäfte. Komorowski und auch Ministerpräsident Tusk haben die heikle Lage, in der die Opposition die Hälfte ihrer Führungsriege verloren hatte, behutsam und ohne größere Fehltritte gemeistert. Viel schwerer wiegend noch war die Tragödie für Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski. Auffallend war, dass trotz der Emotionen und des Ausfalls vieler Führungspersonen der Staat weitgehend reibungslos funktionierte, ohne Hahnenkämpfe und Kompetenzwirrwarr.

In der vorherrschenden Stimmung des Innehaltens, der Besinnung, auch der Würdigung der ums Leben gekommenen politischen Gegner herrschte lange Zeit eine spürbare Unlust, Wahlkampf zu führen. Darüber hinaus verstärkte das Hochwasser dieser Wochen diese Stimmung; es forderte mindestens 15 Menschenleben und laut Regierung wird die Beseitigung der Folgen dieser Katastrophe 12 Milliarden Zloty, also etwa 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, kosten. Als der Wahlkampf - kurz und relativ mild - schließlich in Gang kam, barg er eine große Überraschung: Der national-konservative Jaroslaw Kaczynski zeigte sich gemäßigt und rückte deutlich in die politische Mitte. Während des Hochwassers besuchte Kaczynski Frankfurt an der Oder, sandte Signale der Freundschaft an Deutsche und Russen und gestand frühere »Fehler« ein. Die Postkommunisten wolle er künftig nur noch »Linke« nennen, sagte er. Angesichts dieser Charmeoffensive waren die Wahlkämpfer des Regierungskandidaten Komorowski zeitweise ratlos, zumal Kaczynskis Umfragewerte zu steigen begannen. Komorowski, ursprünglich der eindeutige Favorit, hielt sich in diesem »Wahlkampf der Eintracht«, wie er ihn abschließend nannte, sehr zurück.

Dennoch gelang es ihm, den ersten Wahlgang mit 41,5 Prozent der Stimmen zu gewinnen. Kaczynski folgte mit 36,5 Prozent. Drittplatzierter wurde überraschend der junge, smarte Grzegorz Napieralski von der Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy Demokratycznej - SLD) mit 13,7 Prozent. Der radikalliberale exzentrische Außenseiter Janusz Korwin-Mikke erhielt 2,48 Prozent. Es folgten Vizepremier Waldemar Pawlak, der Chef der mitregierenden Polnischen Bauernpartei (Polskie Stronnictwo Ludowe - PSL), mit bemerkenswert schwachen 1,75 Prozent, Ex-Außenminister Andrzej Olechowski (1,44 Prozent), der einstige rabiate Bauernführer Andrzej Lepper (1,28 Prozent, womit sein politischer Abstieg besiegelt sein dürfte) und drei weitere Kandidaten.

Napieralski, seitdem Hoffnungsträger eines Milieus der linken Mitte, gab seinen Anhängern vor der Stichwahl keine Wahlempfehlung. Zwei Wochen nach dem ersten Wahlgang folgte dann die Entscheidung: 53,0 Prozent für Komorowski, 47,0 für Kaczynski. Die Wahlbeteiligung lag im ersten Wahlgang bei 54,9, im zweiten bei 55,3 Prozent, was für polnische Verhältnisse, auch angesichts der Urlaubszeit, gute Ergebnisse sind. Erwartungsgemäß siegte Komorowski nördlich und westlich einer gedachten Linie, die von der litauischen Grenze bis nach Oberschlesien reicht, Kaczynski östlich und südlich davon. Komorowski war vor allem in den großen Städten erfolgreich, bei jüngeren und besser ausgebildeten Wählern.

Ein optimistischer Anfang

Nun richteten sich aller Augen auf den Wahlsieger. Bronislaw Komorowski wirkte, gerade aufgrund des ungewöhnlichen Wahlkampfs, auf manche Beobachter zunächst wie Christian Wulff in Deutschland: ein Mann des Establishments, solide, berechenbar, vielleicht auch langweilig, jedenfalls ein getreuer Gefolgsmann des Regierungschefs bzw. der -chefin. Allerdings ist die Biografie Komorowskis bewegter als jene seines deutschen Kollegen. Aus einer aristokratischen Familie aus den früheren polnischen Ostgebieten (Litauen) mit langem Stammbaum kommend, hatte der Vater von fünf Kindern schon früh als ein Mann mit wertkonservativer Ausstrahlung gegolten, der geeignet sei, den Kaczynskis ihre Wähler abspenstig zu machen. Auch seine lupenreine Solidarnosc-Vergangenheit passt ins Bild: Schon in den 1970er Jahren war er in der Bürgerrechtsbewegung aktiv, wurde mehrmals verhaftet und war zur Zeit des Kriegsrechts interniert. Später war er Fachmann für Außen- und Verteidigungspolitik, 2000/01 Verteidigungsminister, seit 2007 Sejmmarschall.

Wie wird Komorowskis Präsidentschaft aussehen? Seine Lage im Wahlkampf war nicht einfach, war doch die Debatte in seiner Partei bisher in die Richtung gegangen, das Präsidentenamt durch die Änderung der Verfassung eher zu schwächen, um Reibereien mit der Regierung wie unter Lech Kaczynski zu minimieren. So hat Komorowski bald klarstellen müssen, dass mit einer Schwächung der präsidialen Kompetenzen vor Ablauf seiner Amtszeit nicht zu rechnen sei. Laut geltender Verfassung hat er also erhebliche Befugnisse, auf Gesetzesvorhaben der Regierung (vor allem blockierend) einzuwirken. Doch das wird kaum sein Ziel sein.

In seiner Rede nach seiner Vereidigung am 6. August zeichnete das neue Staatsoberhaupt ein optimistisches Bild von der Lage Polens: »Wir leben in einem unabhängigen, sicheren und in der Welt respektierten Land.« Er wiederholte das Motto seines Wahlkampfs, das auch weiterhin wichtig bleibe: »Eintracht baut auf«, Eintracht sei besser als Kampf, Verachtung und Hass. Komorowski zog auch eine bemerkenswerte Bilanz der Zeit seit 1989: »Die Systemtransformation ist vollzogen.« Allerdings müssten sich die beiden in dieser Zeit wiedergewonnenen Werte, »der eigene, unabhängige und demokratische Staat und eine freie, aktive Gesellschaft«, gegenseitig »ergänzen«, wenn Polen seine heutige »zivilisatorische Chance« nutzen wolle. Als Herausforderungen für die Zukunft nannte der Präsident vor allem die Infrastruktur, das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und das Rentensystem. Bei der »Modernisierung des Landes« werde er Regierung und Parlament ein Verbündeter sein.

Akzente der Präsidentschaft

Nach außen solle Polen »den Alten Kontinent stärken, inspirieren und dynamisieren« sowie das Weimarer Dreieck (Polen, Deutschland, Frankreich) stärken. Die Beziehungen zu Deutschland und Frankreich spielten »für europäische Stabilität und Zusammenhalt, aber auch für die Lage unseres Landes eine Schlüsselrolle«. An zweiter Stelle nannte Komorowski die »enge Beziehung zu den Vereinigten Staaten und das transatlantische Band«. Es folgten die Zusammenarbeit mit der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn), mit Ländern wie der Ukraine, die in die EU streben, und mit Russland - den gerade hier »begonnenen Prozess der Annäherung und Versöhnung« wolle er fördern. Auch die »große Familie« der Auslandspolen könne unverändert auf Polens Hilfe zählen.

Ende August legte sich Komorowski in Sachen Afghanistan-Einsatz fest: Polen solle ihn möglichst »bis Ende 2012 beendet haben«. Seine ersten Auslandsreisen unternahm der Präsident - nach einer halb privaten Reise nach Litauen - Anfang September nach Brüssel, Paris und Berlin. Die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks stand dabei im Vordergrund, darüber hinaus bei seinem Besuch in Deutschland die Geschichtspolitik: Komorowski überreichte in Berlin zehn Deutschen Auszeichnungen, die vor 1989 die verbotene Gewerkschaft »Solidarnosc« unterstützt hatten, und gedachte im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen des dort ermordeten polnischen Generals Stefan Grot-Rowecki der Heimatarmee (Armia Krajowa - AK). Allgemein vermied der Präsident kontroverse Stellungnahmen.

Betrachtet man seine Aussagen im Wahlkampf und danach, lassen sich einige weitere Akzente herausarbeiten. Im Wahlkampf hatte Komorowski von der anstehenden »dritten großen Tranche der Reformen nach den Regierungen Tadeusz Mazowieckis und Jerzy Buzeks« (1989/90 und 1997-2001) gesprochen, aber auch dafür plädiert, sich vor den Parlamentswahlen 2011 »auf einige Fragen zu konzentrieren, die kein politisches Risiko bergen, zum Beispiel im Bereich der Innovativität und der Wissenschaft«. Die Sanierung des gebrechlichen staatlichen Gesundheitswesens hat er im Wahlkampf als wichtige Aufgabe, vielleicht auch schon für die allernächste Zukunft, bezeichnet (Kaczynski hatte dieses Reizthema mit Erfolg in den Wahlkampf eingebracht), doch konkrete Vorschläge bis heute noch nicht geäußert. An manche weltanschaulich heiklen Fragen wie die bestehende Abtreibungsregelung will Komorowski nicht rühren. Eine klare Position gegen Kaczynski und die Amtskirche bezog er jedoch im Wahlkampf in der Frage der In-vitro-Fertilisation, die rechtlich geregelt werden müsse - »Ich bin für das Leben, also auch für die Methode in vitro«.

Arbeitsfelder

Die Regierung kann sich weiterhin im Licht einer guten wirtschaftlichen Lage sonnen. Nachdem das Wirtschaftswachstum 2009 mit 1,8 Prozent die Spitzenposition in der EU markiert hatte, setzte es sich im ersten Halbjahr 2010 mit 3,1 Prozent (so die Schätzung der Regierung) fort. Auch weitere Kennziffern (Juli: Arbeitslosigkeit 11,4 Prozent, Inflation im Jahresvergleich 2 Prozent; starker Anstieg des Exports und der ausländischen Direktinvestitionen) stimmten optimistisch. Doch es gab auch Anzeichen der Krise: Die Einkünfte des öffentlichen Budgets sanken im ersten Quartal 2010 im Jahresvergleich um 13,2 Prozent, während die Ausgaben um 3,6 Prozent stiegen. So beschloss die Regierung unter Donald Tusk, die Mehrwertsteuer für viele Waren und Dienstleistungen von 2011 an für drei Jahre von 22 auf 23 Prozent zu erhöhen. Ob die gute Entwicklung der Wirtschaft bei gleichzeitig schwieriger Lage der Staatsfinanzen den Eifer für schwierige Reformprojekte beflügelt oder eher zu Nichtstun und Steuererhöhungen verleitet, darüber lässt sich trefflich streiten.

Nicht vergessen werden sollte, dass Warschau vor schwierigen und weitreichenden energiewirtschaftlichen Entscheidungen steht. Seit Monaten wartet ein russisch-polnischer Vertrag über die russischen Erdgaslieferungen bis 2037 auf die Unterschriften, doch hat Brüssel Einspruch erhoben: Er verstoße gegen EU-Recht und gebe dem russischen Gazprom-Konzern eine Monopolstellung in Polen. Zugleich streiten Warschau und Berlin über die Verlegung der deutsch-russischen Ostseepipeline quer durch die Zufahrt zum polnischen Hafen Swinemünde (winoujscie): Warschau fordert - auch nach ersten Zugeständnissen der deutschen Seite - eine tiefere Verlegung der Leitung in den Meeresboden, weil Polen bis 2014 ein Terminal für Flüssiggas-Tanker im Hafen baut, dessen Zugang gewährleistet sein muss. Ein drittes Problem bereitet die größte polnische Auslandsinvestition, die seit 2006 dem Orlen-Konzern gehörende Raffinerie im litauischen Maeikiai. Nachdem Russland »wegen technischer Defekte« vor drei Jahren die Öllieferungen an die Raffinerie gestoppt hatte, ist die Anlage offenbar unrentabel und Orlen denkt nach eigenen Angaben darüber nach, sie zu verkaufen - wobei ein russischer Konzern das Rennen machen könnte.

Ein weiteres Ereignis dieses Jahres werden die Kommunal- und Regionalwahlen sein, die im November stattfinden werden. Allerdings schlägt sich die Landes- und Parteipolitik nicht direkt in den Ergebnissen solcher Wahlen nieder, schon gar nicht bei der Direktwahl der Oberbürgermeister. In den größten Städten des Landes kandidieren vielfach recht beliebte Amtsinhaber. Viele können sich gute Chancen ausrechnen, im Amt bestätigt zu werden, so zum Beispiel in Warschau, Danzig, Breslau, Kattowitz und Krakau.

Und weiter?

Sachfragen hin, Personalfragen her - wichtig bleibt für große Teile der Öffentlichkeit bis heute der Umgang mit der Katastrophe von Smolensk, die Aufklärung der Ursachen, das Gedenken an die Opfer. Hier liegt unverändert ein Minenfeld, und hier kam in den vergangenen Monaten mehr als anderswo die katholische Kirche ins Spiel (vgl. Polen-Analysen Nr. 74 http://www.laender-ana lysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen74.pdf). Wie heikel diese Themen sind, war gleich zweimal zu sehen: Bei der Entscheidungsfindung, wo das Präsidentenpaar Lech und Maria Kaczynski zu begraben sei, und drei Monate später im Streit um das Holzkreuz vor dem Präsidentenpalast in Warschau, das im Gedenken an die Opfer des Unglücks direkt nach der Katastrophe errichtet worden war. In beiden Fällen schoben die Amtskirche und die Politik die Entscheidung wie einen Schwarzen Peter hin und her. Beim ersten Mal, im April, musste es schnell gehen: Nach wenigen Tagen verkündete Kardinal Stanislaw Dziwisz, der beliebteste Kirchenführer des Landes, das Präsidentenpaar werde in der Gruft der Kathedrale auf der Krakauer Wawel-Burg beigesetzt, im Pantheon des Landes, wo Dziwisz als Krakauer Erzbischof Hausherr ist. Diese Entscheidung sei gefallen, sagte Dziwisz, um »zu vereinen, nicht zu spalten«. Für kurze Zeit kam es zu Protesten überwiegend junger Menschen, doch dann hatte das Land im Großen und Ganzen seinen Frieden mit dieser Entscheidung gefunden.

Ganz anders verlief die Entwicklung in der Frage, wie mit dem schlichten Holzkreuz vor dem Präsidial­amt und überhaupt mit dem Gedenken in Warschau zu verfahren sei. Hier kam es im August zu Ausschreitungen vor dem Präsidentenpalast. Polen musste - wie manche andere, »ältere« Demokratie auch - die Erfahrung machen, dass einige hundert Demonstranten genügen, um die Staatsgeschäfte zu blockieren oder in eine andere Richtung zu lenken. Es lief darauf hinaus, dass die Behörden den Palast inklusive Kreuz mit fest installierten Barrieren umgaben und alle Fußgänger vor dem Gebäude auf die andere Straßenseite verwiesen. Inzwischen wurde das Kreuz vom Vorplatz in die Kapelle des Präsidentenpalastes umgesetzt. Wie wird es in dieser Frage weitergehen?

Das dürfte zum großen Teil von der Entwicklung in der PiS abhängen. Die Partei Kaczynskis erlebt seit den Wahlen im Juli einen Richtungsstreit, wie sie ihn bisher nicht kannte. Offenbar will sich der Parteichef noch mehr als bisher auf eine kleine Gruppe von »Falken« stützen (darunter Zbigniew Ziobro, Antoni Macierewicz), während die »Tauben« aus dem Wahlkampfstab, die für das unerwartet gute Wahlergebnis verantwortlich waren (Joanna Kluzik-Rostkowska, Pawel Poncyljusz), ja selbst engste Mitstreiter des toten Lech Kaczynski (Elzbieta Jakubiak) öffentlich gerüffelt werden, nicht zuletzt wegen zu selbständiger Äußerungen. Jaroslaw Kaczynski hat sich dazu hinreißen lassen, sogar die Legitimität des »Herrn Komorowski« als gewählten Präsidenten in Frage zu stellen. Die inzwischen zu hörende Prognose, PiS drohe ins Sektiererische abzugleiten, ist vermutlich richtig, ebenso wie die in den polnischen Medien zitierte Aussage einer Warschauer Psychologin, Jaroslaw Kaczynski habe bis zur Wahl eine Phase des Verdrängens und der Selbstbeherrschung erlebt, während jetzt das Trauma des Verlusts seiner privat und politisch engsten Weggefährten in Smolensk aggressiv durchschlage. Dagegen scheinen die Regierung unter Ministerpräsident Tusk und die von ihm geführte Partei PO geradezu eine Insel der Stabilität zu sein, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass mit Präsident Komorowski und dem neuen Sejmmarschall Grzegorz Schetyna, der nicht als bedingungslos loyal gegenüber dem Parteichef gilt, zwei neue Machtzentren neben Tusk entstanden sind. Eine am 8. September veröffentlichte Umfrage zeigt, dass die Polen nach Smolensk nicht wesentlich anders auf eine aggressive Kaczynski-Partei reagieren als vor Smolensk: 52 Prozent würden heute die regierende PO wählen, nur 35 Prozent PiS. (Ferner acht Prozent die linke SLD, drei Prozent die mitregierende PSL.) Die Vermutung liegt nahe: Wenn Kaczynski seinen harten Kurs fortsetzt, wird die Schere zwischen PO und PiS weiter auseinandergehen, selbst eine neue Parteigründung durch frustrierte PiS-Politiker erscheint denkbar. Eine ungewöhnliche Lage: Polen hätte mittelfristig keine große, handlungsfähige und wirklich ernstzunehmende Oppositionspartei.

Über den Autor

Dr. Gerhard Gnauck, Historiker und Politologe, ist Korrespondent der Zeitung »Die Welt« für Polen, die Ukraine und das Baltikum.

Fussnoten