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Die "Agentengesetze", ihre Evolution und Konsequenzen

Benjamin Reeve

/ 8 Minuten zu lesen

Die sogenannten Agentengesetze stoßen auf heftige Kritik: Sie erschweren die Arbeit nicht-kommerzieller Nichtregierungsorganisationen in Russland. Wie sind diese Gesetze entstanden? Was ist ihr politischer Hintergrund?

Unbekannte haben an das Bürogebäude der Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau die Worte "Ausländischer Agent (liebt) die USA" gesprüht. (© picture-alliance/AP)

Einführung

Mit den sogenannten Agentengesetzen führte der russische Gesetzgeber eine neue Kategorie für Vereine ein. Eine nicht-kommerzielle Nichtregierungsorganisation (russ. nekommerčeskaja Organizacija, kurz: NKO), die politische Tätigkeiten ausübt oder finanziert und zugleich Zuwendungen aus dem Ausland erhält, muss sich als "ausländischer Agent" (russ. inostrannyj agent) bezeichnen. Dies wurde im November 2012 in Russland gesetzlich verpflichtend. Sowohl die Auflage sich als "ausländischer Agent" bezeichnen zu müssen, als auch der mit dem Agentenstatus einhergehende Mehraufwand, empfinden die betroffenen NKOs als diskriminierend.

Die Bezeichnung als "Agentengesetze" ist etwas missverständlich, denn es handelt es sich nicht um neue Gesetze, sondern um Novellierungen des im Jahre 1996 erlassenen Gesetzes "Über nicht-kommerzielle Organisationen" (NKO-Gesetz). Auch wenn die Novellen zu "ausländischen Agenten" von 2012 dessen bekannteste Änderung darstellt, dürfen sie nur als Zwischenschritt zur heutigen rechtlichen Situation der NKOs in Russland verstanden werden.

Erste Anpassung 2006

Bereits 2006 stieß eine Änderung des NKO-Gesetzes auf heftige Kritik, und schon damals wurde die zivilgesellschaftliche Arbeit stark erschwert. Vor allem den gesteigerten Verwaltungsaufwand (Registrierungs-, Anmeldungs- sowie Berichts- und Anzeigepflichten) bezeichneten Experten als ausufernd und unübersichtlich. Allein die einschlägige Ausführungsverordnung umfasste über 90 Seiten. Experten kritisierten, dass Fehler bei der Einhaltung der neuen Vorschriften, insbesondere bei kleineren, nicht hauptamtlich geführten Vereinen vorprogrammiert seien. Hierbei erweist sich als besonders problematisch, dass Fehler im Wiederholungsfall strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. In diesem Zusammenhang wurde eine Strafrechtsnorm eigens für die "böswillige Nichterfüllung der Pflichten aus dem Gesetz über nicht-kommerzielle Organisation" geschaffen, durch die Gefängnisstrafen von bis zu zwei Jahren begründet werden können (Artikel 330 Absatz 1 des russischen Strafgesetzbuches). Für manche Initiativen bedeutet der gesteigerte Aufwand auch schlicht nicht weiterarbeiten zu können, da die Anforderungen von Laien nebenberuflich kaum zu erfüllen sind.

Gesetzesänderungen 2012

Durch die Gesetzesänderungen 2012 wurde neben dem allgemeinen Vereinsregister, ein zusätzliches Register für NKOs geschaffen, die die "Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen". Darin sollten sich alle ausländisch Finanzierten und politisch tätigen NKOs eintragen lassen. Dort gelistete NKOs müssen deutlich mehr Verpflichtungen nachkommen als NKOs, die nicht in diesem Register geführt werden. Auch die Bußgelder bei fehlerhafter Vereinsverwaltung erweisen sich für als "Agenten" gelistete NKOs um ein vielfaches höher als für nicht gelisteten NKOs. So kosten bspw. Fehler bei der Berichterstattung gelisteter NKOs 100.000 bis 300.000 Rubel (etwa 1.400 € - 4.100 €), während nicht gelistete NKOs nur 10.000 bis 20.000 Rubel (etwa 140 € - 280 €) zahlen müssen.

Als Beweggrund zu diesen rigiden Änderungen der Gesetzeslage 2006 wurde vielfach die "Orangene Revolution" in der Ukraine genannt. Dem Kreml sei das politische und revolutionäre Potential zivilgesellschaftlichen Engagements im "Bruderland" vor Augen geführt worden. Auch die Novellierungen seit 2012 versteht man heute weitgehend als Reaktion der russischen Regierung auf die "Farbrevolutionen" (in Georgien, Ukraine, Libanon, Kirgisien), auf den "Arabischen Frühling" und auf die Massenproteste gegen die auch von internationalen Wahlbeobachtern kritisierten Duma-Wahlen im sogenannten Protestwinter von 2011/2012. Die russische Führung bewertet diese Protestbewegungen nicht als inneren Ausdruck unzufriedener Bürger, sondern durch äußeren Einfluss entstanden sowie durch ausländische Quellen finanziert und betrieben.

In dieser Logik dient die Kontrolle und Minimierung des vermeintlichen ausländischen Einflusses auf die russische Zivilgesellschaft der inneren Sicherheit und dem Schutz der staatlichen Souveränität. Der russische Präsident Vladimir Putin erklärte, dass es für Russland darum ginge, den mangelhaft geregelten Bereich der Zivilgesellschaft zu ordnen und dadurch das politische System vor äußeren Einflüssen zu schützen sowie die Verbreitung terroristischer und menschenverachtender Ideologien in Russland zu verhindern. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass das Gesetz vor allem auf Menschenrechtsorganisationen sowie Organisationen zur Meinungsforschung und Wahlbeobachtung Anwendung findet.

Amerikanisches Vorbild?

Anfänglich verwiesen russische Politiker in der öffentlichen Diskussion über die intendierten Gesetzesänderungen immer wieder darauf, dass in den USA ein entsprechendes Gesetz seit den 1930er-Jahren gelte. Die Behauptung, dass sich die beiden Gesetze entsprechen, wurde indes vielfach widerlegt. Der wohl gravierendste Unterschied des US-amerikanischen "Foreign Agents Registry Act" (FARA) zum russischen NKO-Gesetz liegt dabei in der Verbindung der Merkmale "Zuwendung" und "politische Tätigkeit". Nach FARA ist eine Kategorisierung als "Foreign Agent" nur dann möglich, wenn konkrete Beweise dafür vorgelegt werden, dass der Verein die aus dem Ausland erhaltene Zuwendung im Auftrag und Sinne des Spenders für politische Tätigkeiten genutzt hat. Das russische Gesetz fordert diese Verbindung nicht. In Russland ist die bloße Feststellung ausreichend, dass eine Spende aus dem Ausland erhalten wurde und die Organisation beispielsweise einer Unterschriftensammlung gegen Steuererhöhungen durchgeführt hat. Für die Eintragung dieser Organisation ins "Agentenregister" muss dem Justizministerium in Russland nicht dargelegt werden, dass eine Verbindung zwischen Spende und Tätigkeit, d.h. ein tatsächliches Agenturverhältnis, besteht.

Evolution des Gesetzes seit 2012

Anfänglich besaß das Justizministerium nicht die Kompetenz, Vereinigungen in dieses Register einzutragen. Zunächst sollten die betroffen NKOs selber beantragen, in das "Agentenregister" eingetragen zu werden. Das "Agentengesetz" konnte auf diese Weise keine Wirkung in der Breite entfalten, da sich nahezu alle Organisationen weigerten eine Eintragung selbst zu beantragen. Die Folge war, dass Massenüberprüfungen durch die Staatsanwaltschaft zu Hunderten Gerichtverfahren führten und die betroffenen NKOs zu einem Registereintrag verurteilt wurden. 2014 entschied der russische Gesetzgeber, dass das Justizministerium als Registrierungsbehörde eine Eintragung ohne Gerichtsentscheid vornehmen kann, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen nachgewiesen sind. Erst mit dieser Änderung konnte das "Agentengesetz" von 2012 eine flächendeckende Wirkung entfalten. Im folgenden Zeitraum kam es zu weiteren großangelegten behördlichen Überprüfungen, die bis 2016 für über 150 NKOs eine Eintragung in das "Agentenregister zu Folge hatten.

Der Umstand, dass sich bis zur Novelle 2014 kaum eine NKOs in das "Agentenregister" eintragen ließ, zeigt bereits, dass dieser Status für NKOs nicht erstrebenswert ist. Ihre Weigerung sich zu registrieren begründeten die Vereinigungen unter anderem mit der diskriminierenden Bezeichnung "ausländischer Agent". Diese sei in Russland negativ konnotiert und werde mit "Spion" oder "Verräter" assoziiert. Potentielle Unterstützer würden durch die Bezeichnung abgeschreckt, wodurch sich Nachwuchs- und Finanzierungsprobleme ergäben. Studien zum medialen Gebrauch des Begriffs und Umfragen zu dessen Verständnis in der Öffentlichkeit stützen dieses Argument. Zudem sei neben dem gesteigerten Verwaltungs- auch der höhere Finanzierungsaufwand, schlecht zu bewältigen. Die Moskauer Agentur für soziale Informationen beziffert die jährlichen Mehrkosten für eine NKO, die im "Agentenregister" gelistet ist, auf rund 273.000 Rubel (etwa 3.800 €). Letztlich sei der Begriff der "politischen Tätigkeit" im NKO-Gesetz unbestimmt, so dass nicht eindeutig sei, welche Tätigkeit politisch sei und welche nicht.

Diese Unbestimmtheit des Gesetzes spiegelt sich nicht zuletzt auch in der uneinheitlichen Rechtsprechung der Fachgerichte wider, die sich mit Zwangseintragungen oder Austragungen aus dem "Agentenregister" beschäftigen mussten. Insbesondere Austragungen banden die Gerichte bis 2015, da der Gesetzgeber bis dahin kein außergerichtliches Verfahren bereitstellte, um aus dem Register gestrichen zu werden. Im bisher einzigen Verfahren, das bezüglich des "Agentengesetzes" durch das russische Verfassungsgericht entschieden wurde, kam das Gericht zu dem umstrittenen Schluss, dass das Gesetz verfassungskonform sei, da es lediglich ein Meldeverfahren zur Bildung eines speziellen Registers etabliere. Die Bezeichnung "ausländischer Agent" sei nicht diffamierend und die abweichenden Pflichten zumutbar. Einer konkreten Bewertung der Bestimmtheit des Gesetzes und der Definition "politischer Tätigkeit" im Speziellen widmete sich das Verfassungsgericht nicht.

Konkretisierung des Begriffs "politischer Tätigkeit"?

Die Beschwerden über das Gesetz brachen indes nicht ab, und seine scheinbar willkürliche Anwendung fand immer wieder den Weg in nationale sowie internationale Medien. Die Venedig-Kommission, ein unabhängiges Beratungsorgan des Europarats für Verfassungsrechtsfragen, sprach sich für eine Konkretisierung des Begriffs "politischer Tätigkeit" aus und bot ihre Hilfe bei diesbezüglichen Reformen an. Auch der Menschenrechtskommissar des Europarats forderte die russische Regierung hinsichtlich eines anstehenden Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu einer Stellungnahme auf. Schließlich kritisierte auch Putin die undeutliche Formulierung des Gesetzes.

In der Folge unternahm der Gesetzgeber 2016 den Versuch, den Begriff der "politischen Tätigkeit" im NKO-Gesetz zu konkretisieren. Das Ergebnis wurde jedoch nicht nur vom russischen Menschenrechtsrat als Verschlechterung bezeichnet. Anstatt das Verständnis "politischer Tätigkeit" im Sinne des Bestimmtheitsgebots zu begrenzen, weite die Änderung das formale Bedeutungsspektrum des Begriffs aus. Sowohl die russische Verfassung als auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) stellen mit dem Bestimmtheitsgebot einen Qualitätsanspruch an erlassene Gesetze. Diese müssen auf eine Weise formuliert sein, die es dem Bürger ermöglicht, die Rechtsfolgen seiner Handlungen vorauszusehen, andernfalls wäre der Bürger der Willkür des Staates ausgesetzt.

Auch wenn allein der enorme Umfang der gesetzlichen Formulierung zunächst festumrissene Tatbestände vermuten lässt, kommt auch der novellierte Begriff "politischer Tätigkeit" einer Generalklausel gleich, deren Tatbestand nahezu alles zugeordnet werden kann. Zwar formuliert das Gesetz Tätigkeitsfelder, die von der "politischen Tätigkeit" ausgenommenen sein sollen, doch überlappen sich diese mit dem zuvor bestimmten Tatbestand. Diese Widersprüchlichkeit führt zu Unbestimmtheit und Willkür. Die Soziologie (z.B. die Meinungsforschung) ist eine Wissenschaft, und diese soll als "unpolitisch" gelten. Sie fällt aber durch ihren Tätigkeitsbereich – Meinungen der Bevölkerung zu gesellschaftlichen Themen zu sammeln, zu analysieren und zu publizieren – wiederum in den Tatbestand, den das Gesetz als "politische Tätigkeit" bestimmt. Mit dieser Argumentation wurde das Meinungsforschungsinstitut "Lewada Zentrum" in das "Agentenregister" eingetragen. Auch der Tierschutz soll laut der Liste an Ausnahmen "unpolitisch" sein. Die Tierbestände hatten sich im Amurer Kreis nach einigen Feuern stark dezimiert. Durch eine Unterschriftensammlung sollte daher eine Aussetzung der Frühlingsjagd bewirkt werden. Die russischen Gerichte bewerteten dies als Einflussnahme auf ein staatliches Organ und somit als "politische Tätigkeit". Der "Murav’evskij Park zur nachhaltigen Nutzung der Natur" wurde auf diese Weise zum "ausländischen Agenten".

Konsequenzen

Die offensichtlichste Konsequenz der rigiden Gesetzgebung seit 2006 ist, dass die Anzahl nicht-kommerzieller Organisationen im Ganzen rückläufig ist. Den Jahresberichten der russischen Gesellschaftskammer lassen sich die Zahlen der Regression von rund 359.000 eingetragenen NKOs im Jahre 2006 zu rund 223.000 im Jahr 2017 entnehmen.

In das Register nicht-kommerzieller Organisationen, die die Funktion eines ausländischen Agenten erfüllen, wurden bis heute über 160 Organisationen eingetragen. Diese NKOs haben sich entschieden, trotz des stigmatisierenden Emblems des "ausländischen Agenten", das auf all ihren Publikationen und Materialien zu sehen sein muss, des erhöhten Verwaltungsaufwands und der beachtlichen jährlichen Mehrkosten weiterzuarbeiten. Viele andere Organisationen haben sich in Aussicht einer Eintragung in das "Agentenregister" selbst aufgelöst, oder sie wurden zuvor für bankrott erklärt bzw. wurden aus sonstigen Gründen aufgelöst.

Deutlich ist, dass sich ein "chilling effect" eingestellt hat. Die Gesetzeslage bewirkt eine Selbstbeschränkung der Bürger (vorauseilender Gehorsam), da sie abschreckend auf die Nutzung der Vereinigungsfreiheit wirkt.

Auch wenn das russische Verfassungsgericht entschieden hat, dass das Gesetz mit der Verfassung konform ist, steht eine Entscheidung, ob das Gesetz der EMRK entspricht, noch aus. Spätestens wenn diese Entscheidung gefällt wird, muss sich das russische Verfassungsgericht erneut mit dem Thema befassen.

Benjamin Reeve, geb. 1982, studierte Rechtswissenschaften, Slawistik und Geschichte in Köln, Moskau und Rom bevor er bei einer Tageszeitung volontierte. Seit 2014 arbeitet er wieder im Wissenschaftsbetrieb und beschäftigt sich mit osteuropäischem Recht und Rechtsvergleichung. Sein Interesse gilt dabei insbesondere der Vereinigungsfreiheit sowie dem Verständnis von Dissens und Andersdenken.