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Dualismus der Macht | Russland | bpb.de

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Dualismus der Macht Offizielles Regieren und informelle Willensbildung

Margareta Mommsen

/ 9 Minuten zu lesen

Neben den offiziellen Akteuren gibt es eine zweite Säule der Macht in Russland: eine Art mitregierende geheime Oligarchie. Beide Machtsäulen versuchen ihren Einfluss zu vergrößern - durch die "Vertikale der Macht" oder Interessenkartelle.

Der 'Kreml' - Sitz des Präsidenten und Symbol der staatlichen Macht (flickr/giladr) Lizenz: cc by/2.0/de

Von außen betrachtet erfolgen Willensbildung und konkrete Umsetzung der Politik in den offiziellen Regierungseinrichtungen Russlands. Gleichzeitig haben jedoch die informellen Kräfte in den Grauzonen des Regimes einen starken Einfluss auf die Politik: Verdeckte Interessengruppen und Seilschaften aus Hochbürokratie und wirtschaftlichen Großunternehmen versuchen, ihre Interessen in die politische Willensbildung einzubringen. Offizielle Regierungsgremien und informelle Zentren einer oligarchischen Willensbildung sind eng miteinander verzahnt. Kritische Soziologen sprechen von einem "Netzwerkstaat" oder auch vom "tiefen Staat".

Regierungseinrichtungen - "Machtvertikale" und Dominanz der Exekutive

Zu den offiziellen Regierungseinrichtungen zählen die Präsidialadministration und das Ministerkabinett, die jeweils über große Verwaltungsstäbe verfügen. Die Administration bildet das politisch wichtigste Herrschaftszentrum. Die sowjetischen Muttermale der neuen Organe blieben bei ihrer Einrichtung unverkennbar: Während die Administration das Erbe des mächtigen früheren Zentralkomitees (ZK) der KPdSU antrat und im ZK-Gebäude am Alten Platz in Moskau angesiedelt blieb, übernahm die Regierung die Rolle der in der Sowjetunion üblichen Wirtschaftskabinette.

Der neu geschaffene Sicherheitsrat weckte mit seiner Aura der Geheimhaltung Erinnerungen an das allmächtige sowjetische Politbüro. Weder die Administration noch der Sicherheitsrat sind der parlamentarischen Kontrolle unterstellt und können ungeachtet ihrer tatsächlich weitreichenden Machtbefugnisse nicht zur politischen Verantwortung gezogen werden. Wie schon in der UdSSR zeichnen sich die Regierungseinrichtungen durch sich überlappende Kompetenzen aus, d. h. dass die Mitarbeiterstäbe in Administration und Kabinett in gleiche Fachressorts gegliedert sind. Es handelt sich um jeweils etwa 1.800 Beamte. Die Doppelungen führen zu Leerlauf und Konkurrenz zwischen den aufgeblähten Bürokratien.

Einzelne Bereiche wie die allgemeine Gesellschaftspolitik, darunter der "Umgang" mit den Parteien, Jugendorganisationen, Verbänden, NGOs und den Medien, gehören zum Vorrecht der Administration. Auf sie allein bezieht sich der bedeutungsschwere Begriff des "Kreml". Er steht nicht nur für den Sitz des Präsidenten. Er symbolisiert zugleich die in den Moskauer Kremlpalästen in Geschichte und Gegenwart konzentrierte staatliche Macht. In der Administration befindet sich die "Abteilung für Kader", die im Sowjetsystem bei der Rekrutierung des politischen Spitzenpersonals eine Schlüsselfunktion spielte. An dieser Praxis hielt man fest. Denn auch im postsowjetischen Regime spielt die Anwerbung neuer Kräfte auf Empfehlungen der "Kaderabteilung" eine wichtige Rolle - politische Parteien fallen als klassisches Rekrutierungsreservoir für das Führungspersonal aus.

Während Jelzin seine Mitstreiter aus unterschiedlichen sozialen und beruflichen Milieus heranzog, folgte der frühere KGB-Oberst Putin eng dem Prinzip der Rekrutierung kraft persönlicher Bekanntheit und unbedingter Loyalität. Er holte seine Mitarbeiter aus den Reihen der Studien- und Arbeitskollegen sowie aus dem engsten Freundeskreis. Die Ausgesuchten brachten aus ihren Subkulturen unterschiedliche liberale, technokratische und autoritäre Prägungen in ihre Moskauer Ämter mit. Um sich dauerhaft ihrer Unterstützung zu versichern, beteiligte Putin sie an staatlichen Wirtschaftspfründen.

Reihenweise landeten hohe Beamte in den Aufsichtsräten der Großunternehmen. Zumeist rekrutierten sich diese "Unternehmerbürokraten" aus den Geheimdiensten, deren Vertreter allgemein als "Siloviki" bezeichnet werden (von sila, Kraft, Gewalt). Kein Land der Welt kennt so viele Regierungsmitglieder in Unternehmensführungen wie Russland. Auch dieser Umstand illustriert die für das Regime besonders typische Verschmelzung von Politik und Wirtschaft.

Neben der Patronage des Personals zeichnet sich das System Putin durch Errichtung einer "Vertikale der Macht" aus. Zu diesem Trend gehörte, dass bestehende Institutionen degradiert und ersatzweise gefügige Gremien ohne Verfassungsbasis geschaffen wurden. Die unter Jelzin mächtigen Gouverneure kamen gleich auf zwei Fronten unter Attacke. Einmal wurde ihr Moskauer parlamentarisches Vertretungsorgan entmachtet, indem die Gouverneure im Föderationsrat ihre direkte Repräsentation zugunsten bloßer regionaler Delegierter verloren. Zum andern wurden sieben "Bevollmächtigte Vertreter des Präsidenten" als Kontrolleure des Zentrums über die Provinzen eingesetzt. Ersatzweise sollte ein konsultativer "Staatsrat" dem unverbindlichen Austausch zwischen den Provinzfürsten und dem Präsidenten dienen.

Zu dem "Staatsrat" fügte sich bald eine neue beratende "Gesellschaftskammer" hinzu, eine Art geklontes Parlament. Die Initiative dazu erfolgte vor dem Hintergrund des Terroranschlags auf eine Schule im nordossetischen Beslan Anfang September 2004. Der Anschlag veranlasste Putin zur erneuten Stärkung der "einheitlichen Macht der Exekutive", um vorgeblich terroristischen Anschlägen besser begegnen zu können.

Ein weiterer Schritt bei der Straffung der Vertikale war die 2006 erfolgte Abschaffung der Volkswahl der Gouverneure. Aus der Sicht des Kreml dienten all diese Neuerungen dazu, die Effizienz der Staatsorgane zu erhöhen, Feedback aus der Gesellschaft zu erhalten und das autoritäre Regime in seinem Bestand zusätzlich abzusichern. All dies widerspricht jedoch den Verfassungsprinzipien der Gewaltenteilung und der demokratischen Repräsentation.

Putins "Kontrollsystem" (Heinemann-Grüder) erfuhr seine Vollendung durch eine immer sorgfältigere Lenkung der Wahlen zur Staatsduma wie zu den regionalen Parlamenten. Die Duma verkam zu einer weiteren Abteilung der Präsidialadministration. Bezeichnend für den Machtverlust des Parlaments war die Aussage des Duma-Vorsitzenden Boris Gryzlov im Oktober 2005, dass "die Duma kein Platz für politische Diskussionen" sei.

Verdeckte Interessenkartelle und informelle Oligarchie

Die Macht im russischen System ist auf zwei Bereiche verteilt: Parallel zu der dargestellten Vorherrschaft der Exekutive mit dem Präsidenten und seiner Administration an der Spitze existiert ein zweiter informeller Herrschaftsbezirk, eine Art mitregierende geheime Oligarchie. Bei der in der Vertikale zentralisierten und in Präsident Putin personifizierten Macht handelt es sich daher nur um die Außenfassade des Regimes. Der Präsident verkörpert das zentrale Scharnier zwischen den beiden Machtbereichen und er fungiert als Patron der cliquenwirtschaftlichen Strukturen der Oligarchie.

Die Ursprünge des "patronalen Präsidentialismus" (Henry E. Hale) gehen auf die Privatisierung sowjetischer Staatsunternehmen und auf das Bestreben der Frühkapitalisten zurück, im Einvernehmen mit der staatlichen Bürokratie weitere Besitztümer zu erlangen. So entstanden bereits in den neunziger Jahren Netzwerke mehrerer um Einfluss und Eigentum konkurrierender Seilschaften. Ein Soziologe bezeichnete das Phänomen als "kompetitive Oligarchie" und verstand darunter eine Gruppe rivalisierender Akteure, die sich die Staatsmacht teilen.

Seriöse Beobachter stellten wiederholt fest, dass in dieser Oligarchie "wenige ranghohe Beamte und Großunternehmer das Sagen haben". Völlige Informalität und großer Einfluss der Staatsunternehmen sind Grundmerkmale des herrschenden Machtkartells. Zu ihm werden einflussreiche Gruppen im Umfeld so bekannter Unternehmen wie Gasprom, Rosneft oder Rosoboroneksport gerechnet. Wer genau in dem diffusen Netzwerk von Interessen dominiert, ist schwer auszumachen. Manche halten es für unmöglich, zwischen Gasprom, Rosneft und dem Staat zu unterscheiden, andere meinen, es sei unklar, ob der Kreml Gasprom und Lukoil kontrolliere oder ob es eher umgekehrt sei.

Es sind etwa 13 bis 15 Klans, die in dem permanenten Poker um Macht und Eigentum involviert sind. Ihre Repräsentanten sind eng mit den Verwaltungsebenen der staatlichen Machtvertikale verzahnt. Der Präsident hat die Aufgabe, auf einen Interessenausgleich zwischen den wichtigsten Spielern zu achten. Es liegt auf der Hand, dass die Angleichung der unterschiedlichen Interessen umständliche Entscheidungsprozesse voraussetzt. Die für das Regime typische Ergänzungswahl der politischen und ökonomischen Eliten nach dem Loyalitätsprinzip lässt zudem an der professionellen Kompetenz der Akteure zweifeln. Hinzu kommt, dass die zunehmende Zuteilung lukrativer Posten auf Verwandte und Nachkommen der Führungskaste eine neue Qualität der Vetternwirtschaft erzeugt. Die Funktionalität der "kompetitiven Oligarchie" erscheint daher äußerst fragwürdig.

Doppelte "Operation Nachfolger" zur Machtsicherung Putins

Angesichts der einzigartigen Funktion Putins als Scharnier zwischen dem oligarchisch und dem autokratisch verfassten Teil des Systems war ein Machttransfer auf einen anderen politischen Akteur kaum vorstellbar. Da sich Putin jedoch entgegen dem Willen vieler seiner Mitstreiter dazu entschloss, die Präsidentschaft nach dem Ablauf seiner zweiten Amtszeit aufzugeben, bedurfte es mehrerer Griffe in den Kasten der "Handsteuerung" des Systems, um den Erfolg der "Operation Nachfolger" zu gewährleisten.

Dass Putin dank der vom Kreml angeleiteten staatlichen Fernsehkanäle über eine große Popularität und Autorität verfügte, erleichterte sein Vorgehen. Dieses Kapital wurde in beiden Systemteilen optimal zur Nutzung gebracht. Zunächst deutete die Kremlpartei "Einiges Russland" die im Dezember 2007 anstehenden Parlamentswahlen in ein rechtswidriges "Plebiszit für Putin" um. Ohne Parteimitglied zu sein, kandidierte Putin für die Partei. Um den Wählern den "Volksentscheid" einzubläuen, rief man Putin während des Wahlkampfes zum "nationalen Führer" aus. Die Fanfaren fanden Gehör. Die Partei erhielt die erwünschte verfassunggebende Mehrheit in der neuen Duma.

Zugleich stärkte der Erfolg in der faktischen Volksabstimmung Putins Schiedsrichterrolle in der informellen Kremloligarchie. Dies war dringend erforderlich, da sich angesichts der Risiken des bevorstehenden Machttransfers unter den konkurrierenden Gruppen erhebliche Unruhe ausgebreitet hatte. Vor allem entglitten verschiedene Seilschaften aus dem Lager der "Siloviki" Putins Autorität. Sie trugen ihre Rivalitäten als öffentliche Schlammschlachten in der Presse aus. So bezichtigten sich der FSB (KGB) und die staatliche Drogenpolizei gegenseitig der Vorteilnahme und Bestechung. Es kam sogar zu Verhaftungen. Der ganze Vorgang verstieß gröblich gegen alle Regeln der "gelenkten Demokratie". Er ermöglichte jedoch den Blick weit in die informellen Bereiche der dualistischen Machtstruktur hinein und machte die tatsächlich inhomogene und instabile politische Führungsstruktur für jedermann sichtbar.

Am 10. Dezember 2007 präsentierte Putin die Kandidatur Dmitrij Medwedjews als einen Vorschlag mehrerer politischer Parteien. Medwedjew, Putins langjähriger Mitstreiter, ein Rechtswissenschaftler mit liberalem Zungenschlag, appellierte öffentlich an Putin, im Falle seiner Wahl den Vorsitz der Regierung zu übernehmen. Putin willigte ein. Die Bitte um Putins Mitregentschaft ließ darauf schließen, dass das informelle Machtkartell auf Putins Begleitschutz bestanden hatte. So konnten Putins Beamte weiterhin an der Macht bleiben. Mangels einer eigenen Hausmacht war Medwedjew von Anfang an ein schwacher Kremlherr.

Die Wahlen im März 2008 kamen einer Nominierung gleich. Jeder offene Wettbewerb unterblieb. Die auf Putin eingeschworene Gesellschaft folgte dem Appell des Kreml und votierte mit 70,3 Prozent der Stimmen für Medwedjew. Einmal mehr erwies sich die Demokratie als tatsächlich "lenkbar". Ein Kommentator sprach zurecht von "einem autoritären System mit Zustimmung der Gesellschaft". Einen Tag nach Medwedjews Amtseinführung bestätigte die Duma mit überwältigender Mehrheit Putin als Ministerpräsident.

Die am Ende der Präsidentschaft Medwedjews erneut anstehende "Operation Nachfolger" erschütterte das Regime weitaus stärker als der Wechsel vier Jahre zuvor. Die Unsicherheit in den informellen Herrschaftszirkeln über eine zweite Präsidentschaft Medwedjews oder eine Rückkehr Putins und die damit zusammenhängenden Machtkämpfe zwischen deren jeweiligen Anhängern drangen bereits seit Ende 2010 an die Öffentlichkeit. Offenkundig wurde Putin von der ihn favorisierenden Lobby aus Vertretern der Sicherheitsorgane und der Großunternehmen im Energie- und Rüstungsbereich gedrängt, seinen Anspruch auf das höchste Staatsamt so früh wie möglich kundzutun. Dies geschah auf einem glanzvoll inszenierten Parteitag des "Einigen Russland" am 24. September 2011. Die hier bekannt gegebene Absicht eines Ämtertauschs traf jedoch in den informellen wie den offiziellen Regierungsbezirken auf Kritik und Empörung. Selbst Putins langjähriger Gefährte, Finanzminister Aleksej Kudrin, warf das Handtuch. Schließlich löste die geheim abgesprochene Rochade zusammen mit den Unregelmäßigkeiten bei den Dumawahlen vom Dezember 2011 die größte gesellschaftliche Protestbewegung seit 20 Jahren aus.

Putin wurde am 4. März 2012 mit einer offiziellen Zustimmung von knapp 64 Prozent der abgegebenen Stimmen - Wahlexperten schätzen die tatsächliche Zustimmung zu Putin auf 50 Prozent - wiedergewählt und Medwedjew wurde von der Duma als Premierminister bestätigt. Nach einem langen Tauziehen zwischen den Duumviren und ihren Hintermännern wurde das neue Kabinett am 21. Mai vorgestellt. Ungeachtet so mancher neuer liberaler Ökonomen aus dem Umfeld Medwedjews behielten bekannte Hardliner aus Putins Entourage wichtige Ministerposten. Außerdem zog Putin etliche entlassene Minister in seiner Präsidialadministration wieder an Land. Sein mächtiger Bundesgenosse Igor Setschin, zuletzt Stellvertretender Premierminister und informeller "Energiezar" Russlands, wurde mit dem Vorstandsvorsitz von Rosneft großzügig ‚abgefunden'.

Weiterhin Technokraten und Oligarchen an der Macht

Im Ergebnis des Ämtertauschs der Duumviren entstanden vier Regierungen: ein förmliches Ministerkabinett aus Technokraten sowohl wirtschaftsliberaler als auch konservativ autoritärer Couleur, eine klar konservative Parallelregierung aus Hardlinern in der Administration, weiter ein informelles Kabinett aus Putins ebenfalls auf Bewahrung des autoritären Systems ausgerichteten "Freunden" aus den Großunternehmen, und zuletzt das von Medwedjew eingeführte institutionelle Novum einer so genannten "offenen Regierung". Dieses beratende Gremium aus Fachleuten ist mit dem Kabinett durch ein eigenes, von einem Oligarchen geführtes Ministerium verkoppelt. Alles in allem erhöhte sich die Unübersichtlichkeit der Regierungseinrichtungen, während sich gleichzeitig ihre politische Verantwortlichkeit und gesellschaftliche Verankerung weiter verringerte.

Auf die Dauer der dritten Präsidentschaft Putins pendelte sich der frühere Parallelismus der Apparate in Regierung und Präsidialadministration wieder ein. Letztlich war dies nur eine Fortsetzung der Konstellation zur Sowjetzeit, als die Arbeit in den Ministerien von den Abteilungen des ZK der KPdSU verdoppelt wurde. Wie schon seinerzeit das Zentralkomitee die stärkere Bastion der Bürokratie abgab, so dominiert auch heute Putins Präsidialadministration gegenüber den Apparaten des Regierungschefs Medwedjew. Dies sind jedoch nur die nach außen sichtbaren staatlichen Domänen der Macht. Demgegenüber agiert die in Wirklichkeit vorherrschende Oligarchie aus Wirtschaftskapitänen und Geheimdienstlern im Geheimen. Über die Zusammensetzung dieses neuen informellen "Politbüros" geben weiterhin anonyme Umfragen Aufschluss.

Prof. Dr. Margareta Mommsen, em. Professorin der Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians Universität München, Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft. Forschungsschwerpunkte und Publikationen: Das politische System Rußlands, Systemwandel und Systemvergleich.