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Keine Hoffnung, nirgends? Was Europa für die Roma tut Europa und seine Unfähigkeit, mit seiner größten Minderheit umzugehen

Peter Riesbeck

/ 14 Minuten zu lesen

Es scheint, als würde die Europäische Union endlich etwas tun für die gleichberechtigte Teilhabe der Roma. Doch bisher bleibt vieles Stückwerk und die Erfolge sind noch selten.

(© Paula Bulling)

Einleitung

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bediente sich großer Worte. Als eine "einzigartige Möglichkeit, die Roma-Problematik höher auf der EU-Agenda anzusiedeln", bezeichnete er die Roma-Strategie der EU im Jahr 2012. Die Einsicht kam reichlich spät, wenn man bedenkt, dass die Roma mit zehn bis zwölf Millionen Menschen die größte Minderheit in Europa sind. Denn erst 2011 hatte die EU erstmals ein Roma-Aktionsprogramm verabschiedet. Doch nach zwei Jahren fällt eine erste Zwischenbilanz gemischt aus: "Es ist ohne Zweifel ein positiver Schritt, dass die EU-Kommission die Lage von Roma in Europa endlich auf die Tagesordnung gesetzt hat. Unter der Präsidentschaft Ungarns wurden die Mitgliedstaaten aufgefordert, nationale Strategien oder Maßnahmenpakte zur gleichberechtigten Teilhabe von Roma in den jeweiligen Ländern zu entwickeln und umzusetzen", sagt Herbert Heuß vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, fügt aber auch ernüchternd hinzu: "Leider ist die Umsetzung nach unserer Einschätzung nach wie vor minimal."

Wovon reden wir?

Als Roma wird eine Gruppe von Menschen bezeichnet, deren Sprache (beziehungsweise die ihrer Vorfahren) sich auf das indogermanische Romanes zurückverfolgen lässt. Die genaue Zahl lässt sich schwer beziffern. Die EU-Kommission geht von zehn bis zwölf Millionen Roma in Europa aus, davon leben sechs Millionen in den Mitgliedstaaten der EU. Wenn im Folgenden der Begriff Roma benutzt wird, dann als neutrale Sammelbezeichnung – wie in den Dokumenten von EU und Europarat.

Linguistische Forschungen zeigen, dass die Roma vor 600 Jahren aus dem indischen Subkontinent zugewandert sind. Die Gruppe ist dabei sehr heterogen. So betont Herbert Heuß, die Roma seien "auch innerhalb der verschiedenen Länder keine homogene Gruppe, sondern sie unterscheiden sich vielfältig nach Sprache und Tradition, ökonomischer Lage oder Religion. Roma sind entsprechend in (fast) allen Schichten der jeweiligen nationalen Bevölkerungen in den jeweiligen Mitgliedstaaten vertreten, in denen sie oft seit Jahrhunderten ansässig sind".

Eine Dachorganisation wie etwa das European Roma and Travellers Forum (ERTF) versteht sich als Vertretung der "Roma, Sinti, Kalé, Fahrenden und verwandter Gruppen". Als Kalé – wörtlich Schwarze – gilt dabei eine Untergruppe der Roma in Spanien, Portugal und im Süden Frankreichs. Sinti bezeichnet die Roma in Deutschland und Italien, in Frankreich auch Manouche, in den Niederlanden auch Manoesje genannt. Die Religionszugehörigkeit kann dabei – je nach der Mehrgesellschaft, in der die Roma leben – differieren. Überwiegend sind die Roma katholisch. In Bulgarien, dem früheren Herrschaftsgebiet der Osmanen, pflegen die Roma einen muslimischen Glauben. Da sie auch Türkisch sprechen, werden sie von der Mehrheitsgesellschaft auch irrtümlich als Türken bezeichnet beziehungsweise wegen des gespannten Verhältnisses der Mehrheitsgesellschaft zur türkischen Minderheit auch deshalb diskriminiert. In Rumänien sind zum Teil auch sehr stark die freikirchlichen Adventisten ("Pfingstgemeinde") unter den Roma vertreten. Allein diese Differenzierung zeigt, dass es e i n e Roma-Strategie nicht geben kann.

Das Minderheitenrecht und der Geist der Umsetzung

Erste Berichte über die Roma in Europa stammen aus der Zeit um 1400. So berichtet der Lübecker Chronist Hermann Cornerus über eine "vorher nicht gesehene umherschweifende Menge von Menschen". Sie erhielten zunächst kaiserliche oder päpstliche Schutzbriefe. Schon Ende des 15. Jahrhunderts setzten aber, etwa mit dem Freiburger Reichsabschied (1498), Ausgrenzung und Verfolgung ein. Den traurigen Tiefpunkt bildete die NS-Herrschaft, der bis zu 500.000 Sinti und Roma zum Opfer fielen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zunächst nur zögerliche Versuche, die Minderheitenrechte und damit auch die Rechte der Roma zu stärken, etwa im Zuge des Pakts über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen (1966). Das änderte sich verstärkt nach 1989, als sich sowohl die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) als auch der Europarat und die Europäische Union mit der Thematik befassten. Problematisch ist dabei mitunter die Beschreibung der Roma als europäische Minderheit. Denn sie verkennt, dass die Roma seit Jahrhunderten in den Nationalstaaten leben und die Nationalstaaten auch eine Pflicht haben, die entsprechenden Rechte der Minderheiten zu gewährleisten. „Die Roma werden noch immer als Bedrohung der ethnischen Homogenität der Nationalstaaten gesehen“, klagt etwa Rudko Kawczynski vom European Roma and Travellers Forum (ERTF).

QuellentextHerbert Heuß, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma

Die Roma sind aber gerade keine europäische Minderheit – wie es oft wohlmeinend gesagt wird –, sondern sie sind zuallererst nationale Minderheiten in ihren Heimatländern.

Quelle: Heuß, 2011, S. 23

Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

Im allgemeinen Bemühen um Minderheitenrechte nahm sich nach 1990 im neu konstituierenden Osten Europas auch die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) der Rechte der Roma an. Die Nachfolgeorganisation - Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) - verabschiedete 2003 einen Sinti-und-Roma-Aktionsplan, um zu gewährleisten, dass Sinti und Roma "fähig sind, eine gleichberechtigte Rolle in unseren Gesellschaften zu spielen und ihre Diskriminierung abzuschaffen".

Derzeit prüft die Organisation, ob einseitige Reisebeschränkungen für Roma, wie sie Serbien und Mazedonien erlassen haben, um eine Migration der Roma in EU-Staaten zu verhindern, gegen das in der Helsinki-Akte verankerte Grundrecht der Reisefreiheit verstoßen. So merkt die frühere Generalsekretärin von Amnesty International (AI) und heutige Europaabgeordnete Barbara Lochbihler kritisch an: "Die Haltung der EU ist insofern etwas scheinheilig, als sie in ihrem Inneren auf die Rechte der Roma pocht. Gleichzeitig auf Staaten wie Serbien und Mazedonien aber massiv Druck ausübt, um die Ausreise von Roma zu begrenzen. Ich nenne das eine Beschränkung der Reisefreiheit."

Der Europarat

Dem Europarat gehören 47 Mitgliedstaaten an, das bietet die Möglichkeit, die Rechte der Roma in einem größeren Rahmen außerhalb der EU-Staaten – etwa auf dem Balkan – zu verankern. So verabschiedete der Europarat 1992 eine "Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprache". Wegweisend war 1995 die Verabschiedung des "Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten" , das den Sinti und Roma – unter anderem in Deutschland – den Status einer nationalen Minderheit garantiert.

Gemeinsam mit der EU startete der Europarat 2011 das Programm RoMed: Es bildet Roma oder ihnen Nahestehende zu Mediatoren im Umgang mit den Behörden aus. In Slowenien etwa versuchen die Mediatoren, Kinder bereits im Vorschulalter an Bildungseinrichtungen wie Kitas heranzuführen. Ebenfalls gemeinsam mit der EU fördert der Europarat die European Alliance of Cities and Regions for Roma-Inclusions, ein Programm, das Roma-Projekte in Großstädten unterstützt. Nach der Ausweisung von Roma aus Frankreich unter Präsident Nicolas Sarkozy im Sommer 2010 setzte der Europarat mit dem niederländischen Völkerrechtler Jeroen Schokkenbroek einen Sonderbeauftragten für die Rechte der Roma ein.

Eine nicht zu unterschätzende Wirkung hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Zwar kann der Europarat die Urteile des Gerichts nicht durchsetzen, weil ihm dazu die exekutive Gewalt fehlt. Doch entfalten sie eine erhebliche öffentliche Wirkung. So rügte der Gerichtshof zum Beispiel 2007 das Land Tschechien wegen der Unterbringung von Roma-Kindern in Sonderschulen.

Die Europäische Union

Die Europäische Union (EU) nahm sich im Zuge der Osterweiterung auch verstärkt des Schutzes der Sinti und Roma an. Mehrere Mitgliedstaaten der EU (Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Spanien) unterstützten ab 2005 die "Dekade zur Integration der Roma". Im Jahr 2010 setzte die EU eine Taskforce zur Inklusion der Roma ein. Im April 2011 verpflichtete die EU unter der Ratspräsidentschaft Ungarns die Mitgliedstaaten, nationale Roma-Strategien zu erlassen. Die Ziele in den vier Bereichen Bildung, Gesundheit, Arbeitsmarkt und Wohnungsbau werden jährlich von der EU-Kommission überprüft und kommentiert. So sollen die EU-Mitgliedstaaten etwa "dafür sorgen, dass die Roma in gleichem Maße und unter den gleichen Bedingungen wie die restliche Bevölkerung Zugang zu Gesundheitsprävention und sozialen Dienstleistungen haben". Oder in der Bildungspolitik "sicherstellen, dass alle Roma-Kinder – egal ob sesshaft oder nicht – Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Bildung haben, nicht diskriminiert oder ausgegrenzt werden und zumindest die Grundschule abschließen".

Rund 26,5 Milliarden Euro hat die EU zwischen 2006 und 2013 nach eigenen Angaben für Roma-Programme ausgegeben, vor allem aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) mit 16,8 Milliarden Euro und des Europäischen Sozialfonds (ESF) mit 9,6 Milliarden Euro. Am bekanntesten ist wohl der Roma Education Fund (REF), der Roma-Kindern den Zugang zu (Hochschul-)Bildung erleichtern soll; er geht auf Vorarbeiten der Soros-Stiftung zurück und wird auch vom Europarat unterstützt.

Spanien zum Beispiel hat sich im Zuge seiner Roma-Strategie im Jahr 2012 verpflichtet, die Zahl der Schulabbrecher unter Roma-Kindern durch geeignete Bildungsprogramme von derzeit 22,5 Prozent auf 10 Prozent im Jahr 2020 zu senken. Bulgarien sagte 2012 Bildungsmaßnahmen für 28.000 Roma zu.

Hehre Ziele. Aber trotz großer Anstrengungen bleiben angesichts solcher planwirtschaftlicher Elemente große Bedenken am Vorgehen der EU. So moniert Barbara Lochbihler: "Die Staaten geben zwar ihre Ziele an, aber die EU-Kommission hat keinerlei rechtliche Grundlage, die Umsetzung dieser Ziele auch verbindlich anzumahnen." Und Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Sinti und Roma in Deutschland, hält fest: "Wenn die europäischen Strategien Erfolg haben sollen, dann müssen sie auch auf diesen in Teilen der Mehrheitsbevölkerung verankerten Rassismus zielen."

Keine Hoffnung, nirgends?

(© Paula Bulling)

Die Liste der Versäumnisse einer kohärenten Roma-Politik ist lang – vor allem im Osten Europas. In Tschechien beispielsweise gab es die Aufforderung, die Regierung solle die Auswanderung der Roma unterstützen, "in das Land, aus dem ihre Vorfahren zuerst kamen, das ist idealerweise ein Bundesstaat in Indien", so der japanischstämmige Tomio Okamura von der rechtspopulistischen Partei "Dämmerung der direkten Demokratie" 2013 im tschechischen Wahlkampf. In Brüssel und im Rest Europas verhallen solche Äußerungen aber leider oft ohne entsprechende Reaktion. Ebenso die vielfältigen rassistischen Übergriffe – teilweise sogar von der Polizei. Die Ausgrenzung der Roma "geschieht unverbrämt und ohne Hemmung und Scham. […] Moralische Stoppregeln gelangen nur in seltenen Fällen zur Geltung", notiert Klaus-Michael Bogdal .

Ausgrenzung und Alltagsrassismus gibt es aber nicht allein in den osteuropäischen Mitgliedstaaten der EU. So brauchte die EU-Kommission im Jahr 2010 Wochen, bis sie bei der Abschiebung von Roma aus Frankreich eingeschritten ist. Und der frühere britische Innenminister David Blunkett warnt mit Blick auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen vor Unruhen, sollten die "Spannungen" zwischen Roma und der Mehrheitsbevölkerung in England nicht angegangen werden. Auch in Deutschland hat sich die Debatte zuletzt verengt auf die sogenannte Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien.

Es gibt Lichtblicke. So hat die EU-Kommission die Stadt Berlin in ihrem "Roma-Statusbericht" 2013 für ihr Bildungsprogramm für Roma-Kinder gelobt. Vor allem der Bezirk Neukölln hatte dabei eine Vorreiterrolle übernommen. Mit Unterstützung des EU-Sozialfonds wurden dort 2011 sogenannte Willkommensklassen eingeführt, spezielle Einsteigerklassen für Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen, die von pädagogisch vorgebildeten Rumänen oder Bulgaren unterstützt wurden. Im Oktober 2013 wurden zudem sogenannte Trainingstage eingeführt, kurzzeitige Betriebsbesuche, um Schülern – nicht nur aus der Gruppe der Roma – einen Einblick in verschiedene Berufsfelder zu geben. "Die Zivilgesellschaft hat geholfen, diesen regionalen Aktionsplan zu entwickeln", merkt die EU-Kommission in ihrem Fortschrittsbericht 2013 an. Dies zeigt vor allem auch, dass es in der Verwaltung auf entschiedenes und pragmatisches Handeln ankommt. Es gibt also Fortschritte, sie werden aber allzu oft verschwiegen.

Fazit

Es scheint verfrüht, zwei Jahre nach der Roma-Strategie der EU eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Doch lassen sich – auch mit Blick auf ältere Programme von OSZE und Europarat – erste Schlussfolgerungen ziehen, auf die Experten hinweisen. Die EU muss die Mitgliedstaaten in die Pflicht nehmen, auf die Zivilgesellschaft setzen und auch Roma-Vertreter in ihre Überlegungen stärker miteinbeziehen.

Kofinanzierung überprüfen

Die wirtschaftliche Krise in Europa berührt auch die Roma-Politik, gerade die der EU-Mitgliedsländer im Osten. Experten regen deshalb an, eine Aussetzung der Kofinanzierung der Roma-Programme durch die Mitgliedstaaten vorübergehend auszusetzen. Herbert Heuß vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma erklärt grundsätzlich: "Die Probleme bei der Umsetzung liegen zunächst in der bisherigen Struktur begründet: Die EU stellt mit Recht fest, dass die Verantwortung für die Verbesserung der oft desolaten Situation großer Teile der Roma-Bevölkerung bei den jeweiligen Mitgliedsländern liegt. Dort fehlt aber oft, besonders bei den neuen Mitgliedsländern, aber ebenso auch bei einer Vielzahl der alten EU-Mitglieder, der politische Wille, überhaupt langfristige Programme für eine Verbesserung der Lage umzusetzen. Hinzu kommen die notwendige nationale Gegenfinanzierung, die viele Länder nicht in dem Maße aufbringen können oder wollen, wie es von der EU erwartet wird; außerdem oftmals fehlendes Fachwissen für die EU-Antragstellung (besonders auf der lokalen Ebene), und schließlich in einigen Ländern auch eine massive Korruption." Heuß fordert daher: „Die EU muss sich darüber klar werden, dass eine Veränderung vor Ort oft ein langfristiges Kommitment aller Beteiligten erfordert, und dieses eben auch eine langfriste Finanzierung – was zur Zeit wegen der auf Projekte ausgelegten Förderung unmöglich ist.“

Geld ist nicht alles – die Zivilgesellschaft mit einbeziehen

Die EU setzt mit ihren auf Zielvorgaben bedachten Programmen allein auf schnell vorzeigbare Erfolge – und vergisst mitunter die Menschen. "Die EU-Mitgliedstaaten müssen die Roma daher stärker in ihre Programme einbeziehen", sagt die Europaabgeordnete Barbara Lochbihler. Und Herbert Heuß ergänzt: "Vor allen Dingen aber sollte die EU darüber nachdenken, wie neben der unabdingbaren direkten Verantwortung der Mitgliedstaaten dann alternative Strukturen eingesetzt werden können, wenn in den Mitgliedstaaten der politische Wille nahezu total fehlt. Dann müssen auch zum Beispiel internationale NGOs in die Lage versetzt werden, langfristige Programme vor Ort zu planen und mit einer direkten Finanzierung durch die EU umzusetzen." Es ist also wie mit dem Fünfjahresplan. Die Ziele gelingen nicht ohne die Menschen.

Roma-Vertreter mit einbeziehen

Vor allem vergisst die EU in ihrem Ansatz eines. Die mit ein zubinden, um die es geht. Herbert Heuß gibt dabei zu bedenken: „Was in den neuen Mitgliedsstaaten oft genug fehlt, ist eine dauerhafte Finanzierung einer nationalen Selbstvertretung, die unabhängig von den jeweiligen Regierungen die Belange der Roma-Gruppen als nationaler Minderheit vertritt.  Nicht zuletzt deshalb fehlt oft auf Seiten der Minderheit eine stabile Struktur, um Programme langfristig umzusetzen. Die Umsetzung ist aber auch eine Frage der Mehrheitsgesellschaft: "Was im Ansatz der EU überhaupt nicht vorkommt, ist die Frage: Warum gibt es eigentlich einen so starken Antiziganismus in Europa? Das ist ein Problem, das die Kommission verkennt. Überhaupt bezieht die Kommission im Umgang mit den Mitgliedstaaten in dieser Frage die Anti-Rassismus-Richtlinie der EU zu wenig mit ein. Dabei ist diese Richtlinie eines der wenigen Instrumente, mit denen auch verbindlich auf Veränderung gedrängt werden kann."

Rudko Kawczynski, Vorkämpfer für die Rechte der Roma seit Jahrzehnten, bemängelt deshalb: "Es braucht drei Dinge: Die EU muss die Zivilgesellschaft der Roma stärken. Warum etwa gibt es aus Griechenland keine Roma-Migration nach Mitteleuropa? Weil es dort einen halbwegs funktionierenden Rechtstaat gibt. Das lässt sich von Rumänien und Bulgarien nicht uneingeschränkt behaupten. Zum anderen muss die EU das Wissen über die Roma, ihre Geschichte und ihre Verfolgung stärken. Das müsste in jedem Mitgliedsland der EU auf dem Lehrplan der Schulen stehen. Zum dritten müsste die EU viel massiver gegen Menschenrechtsverletzungen gegen die Roma durch ihre Mitgliedstaaten vorgehen. Wenn, wie im slowakischen Kosice – der Kulturhauptstadt Europas 2013 – geschehen, Mauern gegen Roma errichtet werden, kann die EU nicht schweigen."

Das Roma-Thema und die Armutsfrage

Der österreichische Sozialdemokrat Otto Bauer hat Minderheitenspannungen als einer der Ersten auch als soziale Frage beschrieben. In seiner bemerkenswerten Beschreibung der Roma in Ost- und Ost-Mitteleuropa greift auch Norbert Mappes-Niediek diesen Ansatz auf. Er beschreibt nicht nur, wie sich rund um die EU-Programme eine eigene Roma-Industrie an Hilfsvereinen herausbildet . Mappes-Niediek plädiert auch dafür, die Situation der Roma als eine spezifische in ihren Ursachen, aber doch eingebettet in die Armutsfrage in Osteuropa zu begreifen. "Arm sind die Roma nicht wegen ihrer besonderen Kultur und auch nicht wegen des Rassismus, sondern aus exakt demselben Grund, aus dem auch viele Nicht-Roma in Ost- und Südosteuropa arm sind. Es fehlt an bezahlter Arbeit." Das ist der Grund, warum die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgarien und Rumänien zum Ende des Jahres 2013 zu einer solch erbitterten Debatte in der EU führt.

Romani Rose, vom Deutschen Zentralrat der Sinti und Roma, kritisiert deshalb, dass eine "vorgebliche 'besondere Lebensweise' oder 'traditionelle Kultur', für die Situation der Roma verantwortlich gemacht werde". "Auf diese Weise wird die Minderheit für ihren Ausschluss von einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe selbst verantwortlich gemacht und soziale und ökonomische Probleme, die strukturell bedingt sind, werden kulturalisiert."

Klaus-Michael Bogdal wählt eine größere Perspektive: "Die Fähigkeit der Entzivilisierung ist den europäischen Gesellschaften nicht abhandengekommen. Muster der Wahrnehmung der Fremden, die bleiben, Bedrohungsszenarien […] sind tief verankert und werden immer dann sichtbar, wenn die eigene Ordnung gefährdet scheint. […] Beginnt nicht die Geschichte von neuem, wenn die afrikanischen und arabischen Einwanderer an den Küsten Europas stranden? […] Der zivilisatorische Abstand wird neu vermessen und schafft Raum für staatliches Handeln und alltägliche Diskriminierung. […] Und für die Roma in Ungarn, Rumänien, im Kosovo, in der Slowakei beginnt die Ausgrenzung erneut, jetzt in den heimischen Siedlungen und überall dort, wo sie Europas offene Grenzen überschreiten." Es ließe sich trefflicher auch so sagen: Wer keine Heimat hat, hat es auch nicht leicht mit der Freizügigkeit.

Weitere Inhalte

Peter Riesbeck, Jahrgang 1968, studierte Chemie (Staatsexamen) und Politikwissenschaften (Magister). Er schreibt seit 1997 für die Berliner Zeitung, seit 2012 berichtet er als EU-Korrespondent aus Brüssel.