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Zusammen ist man weniger allein Fußball in der Türkei

Andreas Bock

/ 10 Minuten zu lesen

Nirgendwo werden sportliche Rivalitäten so erbittert ausgefochten wie in der Türkei. Trotzdem schlossen sich im Frühjahr 2013 Anhänger der drei großen Istanbuler Fußballklubs zusammen, um gegen die Regierung zu protestieren. Was bedeutet das für den türkischen Fußball?

Anhänger der Beşiktaş-Ultragruppe "Çarşı" am 8. Mai 2013: Tausenden Fans der drei großen Istanbuler Fußballklubs Fenerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş schlossen sich gemeinsam den Demonstranten an. (© picture-alliance)

Die Proteste gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan dauerten erst wenige Tage, da verbreitete sich im Internet ein Foto, das zunächst für große Verwunderung sorgte: Es zeigte drei Männer auf der Bosporus-Brücke. Das Besondere daran: Die Männer waren Fans der großen Istanbuler Klubs Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe. Sie standen dort Arm in Arm, und auf dem Bild prangte der Slogan: "Tayyip, do you know: Istanbul United!" Tausende Fußballanhänger der drei Klubs hatten sich im Protest gegen die Regierung solidarisiert. Nun standen sie zusammen auf der Bosporus-Brücke, vor dem Galatasaray-Gymnasium oder im Gezi-Park, um gegen eine Regierung aufzubegehren, die sich ihrem Empfinden nach immer mehr in ihr Privatleben einmischte. Sie hatten sich das alte Motto der Ultra-Bewegung zu Eigen gemacht: Getrennt in den Farben, vereint in der Sache.

Verfeindet bis aufs Blut

Ein solches Szenario wäre viele Jahrzehnte undenkbar gewesen, denn die Beziehung zwischen den Fans der großen Istanbuler Vereine war nicht von ein paar persönlichen Animositäten geprägt – die Anhänger waren verfeindet bis aufs Blut. Noch wenige Wochen vor den Protesten war ein Fenerbahçe-Anhänger nach dem Istanbuler Derby gegen Galatasaray an einer Busstation niedergestochen worden. Wenn es im türkischen Fußball um solche Territorialkämpfe und Vergeltungsschläge ging und manchmal sogar um Leben und Tod, standen meistens die drei Istanbuler Klubs Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe im Fokus, denn zu ihnen halten die meisten Türken. 2011 führte die Tageszeitung "Habertürk" eine Umfrage durch, die ergab, dass 89 Prozent der türkischen Bevölkerung zu einem dieser Vereine hält. Diese Hegemonie zeigt sich auch im Sportlichen: Seit Gründung der Süper Lig 1959 haben neben den großen Drei nur Trabzonspor (sechsmal) und Bursaspor (einmal) die türkische Meisterschaft gewinnen können.

Jedem Istanbuler Klub haftet dabei noch heute ein Stereotyp an. Galatasaray und Fenerbahçe, so heißt es, würden die wirtschaftliche und politische Elite des Landes anziehen, Beşiktaş verstehe sich hingegen als Underdog und Heimat der Linken und Intellektuellen: So ist das "A" im Logo der größten Beşiktaş-Ultragruppe "Çarşı" auch nicht umsonst umkreist, so wie das Zeichen für Anarchie. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hingegen ist Fenerbahçe-Fan, während der bekannte Schriftsteller Emrah Serbes bei Lesungen gerne einen "Çarşı"-Schal trägt.

Konflikte zwischen den Istanbuler Fanlagern hat es immer schon gegeben. Doch in den siebziger und frühen achtziger Jahren wurde es brutal. Damals fanden die Derbys aller Istanbuler Klubs ausschließlich im engen Inönü-Stadion von Beşiktaş statt. Da sich niemand um einen Vorverkauf oder eine gleichmäßige Verteilung der Karten kümmerte, übernachteten die rivalisierenden Fans schon am Abend vor den Spielen im angrenzenden Park, um am frühen Morgen die Eingänge und Blöcke zu besetzen und notfalls mit Fäusten und sogar Messern zu verteidigen. Die Männer von "Çarşı" erzählen heute, dass so über mehrere Jahre kein einziger Fenerbahçe- oder Galatasaray-Anhänger ins Stadion gekommen sei.

Das Jahr 1997 gilt als vorläufiges Ende der gewalttätigen Auseinandersetzungen. Damals kamen die führenden Köpfe der drei großen Fangruppen im Stadtteil Beşiktaş zusammen. "So viele Tote, so viel Gewalt", sagte der Chef der Galatasaray-Ultras. "Lasst es uns beenden." Die Männer nickten und schlossen einen Friedensvertrag, der immer noch gültig ist.

Doch auch heute gibt es noch Tote bei Fußballspielen – die Chefs der Gruppen sprechen dann allerdings von Einzelfällen, von Fans, die ohne ihre Autorisierung handeln würden. Der Verband greift erst seit einigen Jahren härter durch, heute sind bei den großen Derbys zum Beispiel keine Gästefans mehr zugelassen. Außerdem gibt es jede Saison zahlreiche Platzsperren und sogenannte "Ladies Nights", bei denen nur Frauen und Kinder ins Stadion gelassen werden.

Auf der Suche nach Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl

In Europa bekamen Fußballfans erstmals vor 20 Jahren eine Ahnung davon, wie fanatisch türkische Fußballfans sein können. Damals, im Herbst 1993, spielte Galatasaray in der Champions League gegen Manchester United. Die Istanbuler Fans empfingen die englischen Spieler am Flughafen mit wütenden Gesängen, sie zogen sich den Finger über die Kehle, schrien "Welcome to Hell" und hämmerten mit den Fäusten gegen den Mannschaftsbus. Noch heute erinnern englische Medien vor jedem Spiel gegen türkische Teams an jene Partie am 3. November 1993, an die "Hölle von Istanbul".

Trainer bei Galatasaray war damals der Deutsche Rainer Hollmann. Er weiß, dass man bei Niederlagen in Istanbul manchmal auf der Hut sein muss. "Wenn du gewinnst, bist du der König der Welt, wenn du verlierst, dann wirst du durch die Stadt getrieben", sagt er. Vor dem ersten Derby fragte ihn sein Co-Trainer Ahmet Akçan, ob sein Kühlschrank gut gefüllt sei. Hollmann verstand nicht. Da sagte Akçan: "Rainer, falls wir verlieren, kannst du eine Woche nicht aus dem Haus gehen." Es gibt neben Hollmann zahlreiche deutsche Trainer, die solche oder ähnliche Geschichten aus ihrer Zeit in der Türkei erzählen können.
Ein anderes Spiel, das jenes wilde Bild des türkischen Fußballs nachhaltig prägte, war die Uefa-Cup-Partie zwischen Galatasaray und Leeds United im April 2000, bei dem zwei englische Fans niedergestochen wurden. Die Leeds-Supporter hatten die türkische Flagge entehrt, sagten die Galatasaray-Fans. Die Galatasaray-Fans sind wahnsinnig, sagten die Leeds-Anhänger. Die Täter mussten ins Gefängnis, manche sitzen immer noch.

Über all die Jahre versuchten sich Journalisten, Soziologen und auch Trainer an Erklärungsversuchen zur besonderen Bedeutung des türkischen Fußballs und dem manchmal überbordenden Enthusiasmus. Die Experten sprachen oft von dem vielzitierten Spiegelbild der Gesellschaft oder davon, dass Fußball für viele Menschen das Einzige im Leben sei.

Hollmann, der zwei Jahre in Istanbul lebte, glaubt nicht an diese These: "Das würde ja bedeuten, dass die Leute dort nichts als Fußball haben. Dabei bietet die Stadt so unglaublich viele Möglichkeiten. Istanbul ist eine pulsierende Metropole voller Kultur." Die Türken, sagt er, lieben den Fußball schlichtweg anders als die Deutschen. "Die Liebe kommt eher vom Herzen." Der türkische Sportjournalist Bağış Erten glaubt indes, dass die Türken mehr als andernorts auf der Suche nach einer Identität und einem Zusammengehörigkeitsgefühl sind. "Manchmal ist dabei das Level des Enthusiasmus hoch und die Hemmschwelle zur Gewalt niedrig. Eine explosive Mischung." Zudem trugen viele Fans schon vor den Protesten im Frühjahr 2013 eine latente Skepsis gegen Autoritäten in sich. Die Spielmanipulationen der vergangenen Jahre, die Repressionen der Verbände und zuletzt die Politik von Premierminister Erdoğan – all das habe bei vielen das Gefühl der ständigen Ohnmacht verstärkt und würde oft in rasender Wut kulminieren.

Der Sportsoziologe Ahmet Talimciler glaubt allerdings, dass die Türken keine richtige Fußballkultur haben. Deshalb könnten die Menschen auch nicht lernen, wie man sich in einem Fußball-Umfeld verhält: "Unsere Fußballkultur wurde auf der Grundlage der Zerstörung der gegnerischen Fans geprägt", sagte er noch im Mai 2013 in der türkischen Tageszeitung "Zaman". Ein Grund dafür seien auch die Vorbilder, denn selbst Manager, Trainer oder Spieler würden sich regelmäßig an die Gurgel gehen: "Es gibt mittlerweile so viele Spannungen. Und das reflektiert sich in den Straßen und auf den Tribünen."

Spielt sein Verein schlecht, dann ist der türkische Fan krank

Doch selbstverständlich charakterisiert sich der Fußball in der Türkei nicht nur durch Gewalt. Hollmann spricht in höchsten Tönen über die Zeit bei Galatasaray. Er erinnert sich an Sätze wie den des damaligen Spielmachers Gheorghe Hagi, der sagte: "Unsere Fans erwecken Tote wieder auf." Oder an jenen Tag, als Galatasaray gegen Manchester United eine Runde weiterkam: "Das Spiel begann um 21.45 Uhr, das Stadion war aber bereits um 10 Uhr morgens voll. Die Fans haben vierzehn Stunden durchgesungen." Auch Christoph Daum hat nie ein schlechtes Wort über die Türkei verloren. Immer wieder kehrte der deutsche Trainer zurück, bei Fenerbahçe und Beşiktaş trugen sie ihn auf Schultern durchs Stadion, denn er gewann den Pokal und die Meisterschaft. "In der Türkei ist Fußball eben keine Nebensache, sondern Teil der Menschen, Teil des Lebens", sagt er. "Spielt sein Verein schlecht, dann ist der türkische Fan hasta, also todkrank. Es ist dort viel extremer, viel emotionaler, viel tiefer."

Ein Ausdruck davon ist auch die ständige Suche nach Superlativen. Die Anhänger von Beşiktaş und Galatasaray konkurrieren seit Jahren um den Lautstärke-Weltrekord. Im Inönü wurden bei einem Spiel gegen den FC Liverpool einmal über 131 Dezibel gemessen. Seitdem brüsten sie sich damit, die lautesten Fans der Welt zu sein. Wenn man allerdings Galatasaray-Anhänger fragt, erzählen sie dieselbe Geschichte aus ihrem Stadion. Dort seien sie ebenfalls über 131 Dezibel gekommen, und deswegen nennen sie sich auch die lautesten Fans der Welt. Wer mal ein Spiel im Inönü oder im alten Ali-Sami-Yen-Stadion besucht hat, kann das nachvollziehen. Wenn die "Abis", die großen Brüder, die inmitten der wogenden Massen auf den Wellenbrechern stehen und Schlachtrufe wie "Cim bom bom" oder "Kartal Gol Gol Gol" anstimmen, beben die Tribünen.

Die Galatasaray-Anhänger behaupten außerdem, die größte Fangruppe der Welt zu haben. Viele Fans sind in den "UltrAslan" organisiert, einer Gruppe, die sich im Jahr 2000 gegründet hat. Kurz zuvor konnte Galatasaray als erstes türkisches Team mit dem Uefa-Cup einen Europapokal gewinnen. In jenem Jahr glaubten die Fans, dass alles ein bisschen größer und bombastischer werden müsse. Heute gibt es Fangruppen überall auf der Welt, in Berlin oder Helsinki genauso wie in New York oder Buenos Aires. Die Fans folgen ihrem Klub überall hin, und dabei geht es nicht nur zu Europapokalspielen durch die rumänische Provinz oder nach Gelsenkirchen, sondern auch zum Wasserball nach Rom oder zum Rollstuhl-Basketball nach Prag. Es geht darum, Präsenz zu zeigen, die Farben des Klubs und der Heimat zu präsentieren, es geht um den alten Fan-Slogan "You’ll never walk alone!"

“Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand"

Um diese Losung, wenn auch in einem anderen Kontext, ging es auch am 31. Mai 2013, als sich Fans von Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe zusammentaten und in Taksim auf die Straße gingen.

Nur eine Montage - aber eine mit Aussagekraft: Anfang Juni 2013 verteilten Demontranten am Gezi-Park eine Broschüre unter dem Titel "Istanbul United", mit dem Foto der Anhänger der drei rivalisierenden Klubs. Über ihnen sind die Logos der Vereine zu einem verschmolzen. (Burak Gunay) Lizenz: cc by-sa/3.0/de

Die Mitglieder von "Çarşı" waren die Wortführer. Als sie Ende Mai den Gezi-Park erreichten, riefen die Demonstranten voller Erleichterung "Çarşı geliyor!", "Çarşı kommt!", und selbst Fenerbahçe- und Galatasaray-Fans sagten später in Interviews: "Ich trage Çarşı im Herzen!" Sie alle wussten, dass die Gruppe vom Marktplatz im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş gut organisiert und erfahren im Widerstand gegen die Polizei war. Außerdem hatte sich "Çarşı" schon oft politisch positioniert. Als zum Beispiel der Kameruner Samuel Eto’o einmal von anderen türkischen Fans rassistisch beleidigt wurde, hielten sie ein Plakat hoch: "Wir sind alle schwarz, wir sind alle Eto’o!" Und als der armenisch-türkische Schriftsteller Hrant Dink ermordet wurde, sangen sie: "Wir sind alle Armenier!" In der Türkei ist das auch heute kein gewöhnliches Statement.

Im Gezi-Park trugen manche nun Guy-Fawkes-Masken, sie halfen Verletzten auf die Beine, bauten Barrikaden, machten Essen und stellten die Polizisten mit ironischen Gesängen bloß: "Euer Pfefferspray ist unser Parfüm." Die Besetzung des Gezi-Parks endete an dem Tag, als die führenden "Çarşı"-Mitglieder verhaftet wurden. Einige warten noch immer auf ihren Prozess.

Doch der Protest ging weiter. Als im August die Süper-Lig-Saison begann, trugen die Fußballfans zahlreicher Klubs ihr Anliegen in die Stadien. Gleichzeitig versuchte die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, dt: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) des amtierenden Ministerpräsidenten Erdoğan die Meinungshoheit zu gewinnen. So verfügte zum Beispiel der Verband in vorauseilendem Gehorsam einen Passus für alle Dauerkarteninhaber, nach dem diese sich verpflichteten, keine politischen Parolen auf den Tribünen anzustimmen. Doch weil sich etliche Fans nicht daran hielten, drehte der Staatssender Lig TV bei Spielübertragungen immer wieder den Ton ab. Die Widerstandsbekundungen erklangen nicht nur in Istanbul, sondern auch in Anatolien. Teilweise wenig direkt, dafür umso lustiger. Die Fans von Gençlerbirliği Ankara sangen zum Beispiel: "Politische Parole, politische Parole!" In den Istanbuler Stadien erklang derweil in der 34. Minute – 34 ist das KFZ-Kennzeichen von Istanbul – ein durchdringender Schlachtruf: "Überall ist Taksim! Überall ist Widerstand!"

Eine neue Fankultur?

Hatte sich also in jenen Sommermonaten im gemeinsamen politischen Protests, einer Sache, die über dem Fußball stand, eine neue Fankultur entwickelt? Waren nun die Feindschaften für immer vergessen? Würden sich die Rivalitäten fortan einzig auf das Sportliche beschränken? Tatsächlich ist die Sache komplizierter, als es der Slogan "Istanbul United" ausdrückt, denn nicht alle Fans hießen den gemeinsamen und fanübergreifenden Protest gut. Gerade die führenden Köpfe der großen Fenerbahçe- und Galatasaray-Gruppen, "Genç FB" und "UltrAslan", distanzierten sich von den Protesten, sie hielten an den alten Feindschaften fest, auch weil sie zu Teilen mit der Regierungspartei sympathisierten. Viele von ihnen versuchten in der 34. Minute die Gesänge der Edogan-Gegner mit Pfeifkonzerten zu übertönen. Die zersplitterten Fanblöcke führten zu einer explosiven Gemengelage, selbst bei Beşiktaş. Dort zeigte sich im September 2013 beim Derby gegen Galatasaray, dass es auch Anhänger gibt, die den Protest ablehnen und sich politisch nicht als links verstehen. Es kam zu einem Platzsturm, der als Provokation gewertet und für den die kurz zuvor gegründeten Gruppe "1453 Kartalları" verantwortlich gemacht wurde. Auch wenn sie sich davon distanzierte, gab sie in der Zeitung "Sabah" an, eine rechte Gruppe zu sein. Ein Sprecher sagte: "Es hat uns gestört, dass Çarşı politisch so in den Vordergrund gedrängt ist."

Versuche der Regierung öffentlich darzustellen, dass die Fußballfans mehrheitlich hinter ihr stehen, endeten hingegen auch in unfreiwilliger Komik: Ministerpräsident Erdoğan ließ sich zum Beispiel neben angeblichen Beşiktaş-Anhängern ablichten, die eine "Çarşı"-Flagge hochhielten. Um nicht den Unmut seiner echten Anhängern auf sich zu ziehen, verzichteten die Statisten allerdings auf das Anarchie-Zeichen in dem Logo. Als die Sache aufflog und sich das Foto als gestellt erwies, verbreitete sich die Geschichte rasend schnell im Internet. Die Beşiktaş-Fans lachten sich schlapp – und tausende Fenerbahçe- und Galatasray-Fans lachten mit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kartalları ist das türkische Wort für Adler, das Vereinsymbol von Beşiktaş. Im Jahr 1453 eroberten die Osmanen Konstantinopel: in der heutigen Türkei gewinnt dieses Datum wieder an nationaler Bedeutung.

Weitere Inhalte

Andreas Bock, geboren 1977 in Hamburg, studierte Kulturwissenschaften und ist heute Redakteur beim Fußballmagazin 11FREUNDE. 2013 war er zweimal in Istanbul: Im Frühjahr begleitete er über mehrere Wochen die Galatasaray-Gruppe "UltrAslan", im Spätsommer traf er die führenden Mitglieder der Beşiktaş-Gruppe "Çarşı" für eine Reportage über die Gezi-Proteste.