Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Menschenrechte im Nahen und Mittleren Osten | Themen | bpb.de

Menschenrechte im Nahen und Mittleren Osten

Anna Würth Sophie Kloos

/ 12 Minuten zu lesen

Was hat der Arabische Frühling im Nahen und Mittleren Osten für die Menschenrechte der Bevölkerung gebracht? Das fragen sich viele angesichts der nicht abreißenden terroristischen Anschläge in der Region, der fortdauernden Diskriminierung von Frauen und des Bemühens vieler Menschen – auch in Ländern, wo kein Krieg herrscht –, den Nahen Osten zu verlassen. Kurz gesagt: Die Bilanz ist wenig ermutigend.

Reporter demonstrieren vor dem Gebäude der Journalisten-Gewerkschaft in Kairo gegen die Festnahme ihrer Kollegen. In Ägypten sitzen mindestens 23 Journalisten wegen ihrer Arbeit im Gefängnis – zum Teil seit Jahren ohne Urteil. (© picture alliance/ZUMA Press)

Alle Staaten der Region haben schon vor Jahrzehnten mindestens sechs, die meisten aber bis zu zehn der internationalen Menschenrechtsverträge ratifiziert. Damit haben sie sich freiwillig dazu verpflichtet, Menschenrechte umzusetzen und darüber hinaus regelmäßig über ihre Erfolge und Misserfolge zu berichten.

Infobox

Zwei grundlegende Pakte sind der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK) und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (kurz: UN-Zivilpakt). Nur Saudi-Arabien, Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate haben diese zwei Pakte nicht ratifiziert.

Dazu ist seit 2008 eine Menschenrechtscharta der Arabischen Liga in Kraft. Diese haben derzeit 13 Mitgliedstaaten der Arabischen Liga ratifiziert. Zu den Verpflichtungen der Arabischen Charta gehören unter anderem, Folter sowie unmenschliche Behandlung und Strafe zu unterlassen, gegen Diskriminierung jedweder Natur vorzugehen, die Entfaltung einer freien Medienlandschaft und Zivilgesellschaft zu fördern und eine effektive Wirtschafts-, Sozial-, und Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Die Umsetzung dieser Verpflichtungen ist bisher mangelhaft.

Bei allen inhaltlichen Mängeln und dem Umsetzungsdefizit macht die Verabschiedung der Charta jedoch deutlich, dass Menschenrechte auch in dieser Region mit muslimischen Mehrheiten eine Bedeutung haben und kein exklusiver Besitz des Globalen Nordens sind.

Der Arabische Frühling

Der Arabische Frühling und die ihm vorangegangenen Proteste wurden getragen von der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und politischer Beteiligung im System. Er war unterlegt mit dem Ruf nach Menschenrechten und vor allem nach Menschenwürde (arabisch: karama) – dem universalen Konzept, das den Menschenrechten zugrunde liegt.

Infobox

In Bewegung gesetzt wurden die Proteste durch den Selbstmord des tunesischen Kleinhändlers Mohamed Bouazizi im Dezember 2010, der sich nach einer seiner vielen demütigenden Auseinandersetzungen mit örtlichen Behörden und einer Polizistin selbst verbrannte. Daraufhin begehrten die Tunesier_innen auf; die Bilder ihres gewaltlosen Aufstandes wurden in der ganzen Region wahrgenommen und beflügelten auch andernorts die Hoffnung auf Veränderung. Vier Präsidenten, die zum Teil mehr als 25 Jahre an der Macht gewesen waren, wurden abgesetzt – der tunesische, ägyptische, libysche und der jemenitische. Nur in drei der 22 Staaten der arabischen Liga – Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und auf den Komoren – gab es 2011 keine bedeutenden Proteste.

Mit dem Arabischen Frühling verband sich zunächst die Hoffnung auf politischen Wandel und mehr Freiheit. Vor allem jüngere Frauen und Männer entwickelten Visionen einer besseren Zukunft. Es wurden Medien, Nichtregierungsorganisationen und Parteien gegründet und Wahlen abgehalten, bei denen die Bevölkerung tatsächlich eine Wahl zwischen verschiedenen Kandidaten (hauptsächlich Männern) und Parteien hatte. In Ländern wie Ägypten führten die Wahlen zu deutlichen Mehrheiten für islamische, sozial-konservative Parteien, die sich – einmal an der Regierung – eher schlecht zurechtfanden und die brennenden sozialen und wirtschaftlichen Fragen nicht angingen. Vielfach wurden neue Verfassungen entworfen und verabschiedet, wie in Tunesien und Ägypten. Hier wurden die Menschenrechte durch die Verfassung stärker verankert. Die ägyptische Verfassung enthielt allerdings auch umstrittene Klauseln, wie etwa die Stärkung des Militärs.

Auch dort, wo Präsidenten nicht abgesetzt wurden, machte sich die politische Unruhe bemerkbar. In den Monarchien Jordanien und Marokko versuchten Regierungen, durch symbolische politische Zugeständnisse ein Mindestmaß an Stabilität und Legitimität zu erhalten. In anderen Staaten, wie zum Beispiel Bahrain und Saudi-Arabien, wurden Proteste gewaltsam im Keim erstickt. . Im Jemen, Libyen und Syrien brachen nach dem Arabischen Frühling Bürgerkriege aus, die inzwischen zehntausende Tote und Verwundete forderten; Millionen Menschen wurden Flüchtlinge innerhalb ihrer Länder. Andere wiederum flüchteten in Nachbarländer und nach Europa. An allen Bürgerkriegen sind neben eine Vielzahl lokaler Parteien, darunter die Unterstützer der bis 2011 herrschenden Regime, auch internationale wie regionale Mächte beteiligt, was eine Lösung der Gewaltkonflikte nicht erleichtert.

Schatten auf der Gegenwart

Folter, mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, Einschränkung der Pressefreiheit und die Diskriminierung von Frauen, Minderheiten sowie Lesben, Schwulen, Bi, Trans- und Intersexuellen (LSBTI) sind in keinem Land des Nahen und Mittleren Ostens verschwunden. Im Gegenteil scheinen Menschenrechtsverletzungen zuzunehmen. Sie werden – wie schon vor dem Arabischen Frühling – vorwiegend mit Verweis auf die "nationale Sicherheit" gerechtfertigt.

In Tunesien sind Meinungsfreiheit und politische Partizipationsrechte inzwischen in der Verfassung verankert und werden auch in der Praxis weitgehend toleriert. Im Namen der Terrorismusbekämpfung gibt es jedoch weitgehende Einschränkungen: Terrorismusverdächtige werden zum Opfer von Folter und Misshandlung. Infolge der Anschläge auf Touristen in Tunis und Sousse 2015 verhängte die Regierung den Ausnahmezustand und verhaftete hunderte Menschen. Das neue Anti-Terror-Gesetz von 2015 gibt Sicherheitskräften unter anderem die Befugnis, Verdächtige 15 Tage ohne Kontakt zu einem Anwalt in Haft zu halten und Gerichtsverfahren unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen. Zudem schränkt es die Freiheit der Meinungsäußerung und die Pressefreiheit ein. Human Rights Watch und Experten der Vereinten Nationen Externer Link: berichten, dass mehr als die Hälfte der Untersuchungshäftlinge in Tunesien von Misshandlungen – von Schlägen, Stresspositionen, Zigarettenverbrennungen bis zu Drohungen gegen Familienmitglieder – betroffen sind. Personen, die sich über Misshandlung beschweren, müssen mit Repressalien rechnen. Viele Untersuchungshäftlinge werden zu vorgefertigten Geständnissen gezwungen.

Auch in Ägypten waren im Februar 2011 Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und weit verbreitete Demütigung und Misshandlung durch eine korrupte Polizei Auslöser der Proteste. Standen zwischenzeitlich Bemühungen um eine grundlegende Reform der Sicherheitskräfte auf der Tagesordnung, ist das heute kein Thema mehr. Folter und Misshandlung sind Bestandteil der alltäglichen Praktiken ägyptischer Sicherheitsbehörden geblieben; eine Verfolgung und Bestrafung solcher Taten findet praktisch nicht statt. Zusätzlich sind in den vergangenen Jahren viele Personen in Ägypten zeitweise verschwunden. Einige tauchten nach Wochen in Gefängnissen auf, einige wurden tot aufgefunden; die ägyptische Menschenrechtsorganisation Externer Link: Koordinierungsstelle für Rechte und Freiheit spricht von insgesamt 1.700 Fällen in 2015 und vermutet eine systematische Politik des Verschwindenlassens. Zwischen September 2015 bis Februar 2016 übermittelte eine UN-Arbeitsgruppe, die sich mit gewaltsamem Verschwindenlassen beschäftigt, 40 neue mutmaßliche Fälle an die ägyptische Regierung. Betroffene berichten, dass sie in Polizeigewalt ihre Mobilgeräte abgeben mussten, so dass die Behörden Zugriff auf sämtliche persönliche Netzwerke wie Facebook sowie likes, tweets und retweets erhielten.

Im September 2015 begnadigte der ägyptische Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi hundert politische Gefangene, darunter einige prominente Journalist_innen und Menschenrechtsaktivist_innen. Jedoch verbleiben zwischen 22.000 (Regierungsangaben Juli 2014) und 40.000 (Angaben von Nichtregierungsorganisationen) Personen in Ägyptens zahlreichen Gefängnissen, viele davon ohne Prozess oder in unfairen Massenprozessen zum Tode verurteilt. Neben Journalist_innen und Aktivist_innen sind die meisten Inhaftierten Unterstützer der Muslimbruderschaft, die inzwischen als terroristische Vereinigung eingestuft wurde. Sie wurden seit Juli 2013 verhaftet, als das Militär die Macht übernahm und den damaligen Präsidenten Mohammed al-Mursi absetzte. Die Haltung der Regierung gegenüber den Muslimbrüdern wird auch in einer Aussage des damaligen Justizministers Ahmed al-Zind deutlich. Ende Januar 2016 verkündete er in einer Fernsehshow, dass er solange nicht zur Ruhe kommen werde, bis nicht für jeden gefallenen ägyptischen Soldaten 10.000 Muslimbrüder getötet seien.

Repression gegen die Zivilgesellschaft

Die Mittel zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft haben sich nicht wesentlich verändert, wohl aber die Intensität ihres Einsatzes. In Ägypten umfassen sie zum Beispiel Ein- und Ausreiseverbote, Verhaftungen, willkürliche Verbote durch abwegige Anschuldigungen und massive gesetzliche und administrative Einschränkungen, die Organisationen in die Illegalität treiben.

In Ägypten werden unabhängige Medien, Kulturschaffende und zivilgesellschaftliche Organisationen immer wieder zu Zielen von Repressalien. So wurden viele Organisationen geschlossen, die für politische Liberalisierung, soziale Reformen oder Menschenrechte einstehen; zuletzt wurde das al-Nadeem Zentrum geschlossen, das seit 30 Jahren Folterüberlebende unterstützt. Vorgeblich will die Regierung gegen Organisationen vorgehen, die aus dem westlichen Ausland finanziell unterstützt werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen müssen sich bei einem Ministerium registrieren, das nahezu unbeschränkte Macht hat, die Registrierung zu verweigern, zu verzögern oder zurückzunehmen.

Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten

Infolge des Arabischen Frühlings wurde das Patriarchat, unter dem junge Männer und junge Frauen gleichermaßen – wenn auch auf andere Weise – leiden, zumindest in Frage gestellt. In den Großstädten haben sich viele Frauen auf Versammlungen und über soziale Netzwerke an den Protesten beteiligt und ihre Stimmen erhoben. Auf die zunehmende politische Sichtbarkeit von jungen Frauen folgten zum Teil spontane, zum Teil systematische Gewaltexzesse. In allen Ländern des Arabischen Frühlings wurden Frauen vor und während der Proteste verhaftet, eingeschüchtert, sexuell belästigt, vergewaltigt und getötet. Die Einkesselung von Frauen auf Demonstrationen und massive sexuelle Belästigung gehören vor allem für Ägypterinnen seit einigen Jahren zum Alltag. Nur Nichtregierungsorganisationen gehen aktiv dagegen vor, während die Sicherheitsbehörden zum Teil selbst an solchen Übergriffen beteiligt sind oder ihnen zuschauen. Ähnliches erfahren auch LSBTI in der gesamten Region. Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen zwischen Männern sind überall strafbar und werden verfolgt. Im Dezember 2015 wurden in Tunesien sechs homosexuelle Studenten zu dreijährigen Haftstrafen verurteilt, in Ägypten wurden 2014 mindestens 20 LSBTI-Personen zu Haftstrafen von bis zu acht Jahren verurteilt. In der Region wird homo- und transphobe Gewalt nicht verfolgt und Homophobie ist gesamtgesellschaftlich tief verwurzelt.

Wirtschafts-, Sozial-, und Arbeitsmarktpolitik

In Tunesien gab es im Januar 2016 wieder eine Welle von Protesten gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Zu dieser Zeit war mehr als ein Drittel der jungen Menschen in Tunesien (37,6 Prozent) arbeitslos – mehr noch als zu Beginn des Arabischen Frühlings. Besonders betroffen von der Arbeitslosigkeit sind junge Frauen. Ähnlich in Ägypten: Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) lag hier die Jugendarbeitslosigkeitsrate 2014 bei 42 Prozent, bei jungen Frauen bei knapp 65 Prozent. Auch unter denjenigen, die Arbeit haben, grassiert häufig Unmut ob der schlechten Bezahlung, der Unterdrückung unabhängiger Gewerkschaftsarbeit und nicht zuletzt der mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten ohne einer Seilschaft aus Verwandten.

In Ägypten gibt es ein Nebeneinander von akutem Mangel und gleichzeitig spekulativem Leerstand von Wohnraum; der Wohnungsmarkt ist mehr oder weniger komplett unreguliert, was ihn für Menschen mit geringem Einkommen unerschwinglich macht. Etwa 12 Millionen Menschen leben in Elendsvierteln. Hinzu kommen Probleme, die mit der schlechten Infrastruktur, hoher Bevölkerungsdichte und Kriminalität zu tun haben. Mit der Unterzeichnung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat Ägypten sich dazu verpflichtet, Zugang zu angemessenem Wohnraum für alle zu schaffen. Doch aktive Wohnungsbaupolitik, gerade für ärmere Schichten, gab es die vergangenen Jahrzehnte kaum. Dafür wurden informelle Siedlungen zum Teil zwangsgeräumt und Menschen in Armut aus den Innenstädten in die Randgebiete verbannt – fernab jeglicher Möglichkeit, ein Einkommen zu erzielen. Menschen, die sich widersetzten, wurden verhaftet. In Tunesien gibt es zwar keinen Wohnungsmangel, aber auch dort treiben steigende Grundstückspreise und Spekulation Wohnungskosten stark in die Höhe.

Das Pro-Kopf-Einkommen ist nach dem Arabischen Frühling in Ägypten und Jordanien kaum gewachsen, in Marokko und Tunesien konnte es immerhin kleine Anstiege verzeichnen. Die politischen Unruhen und die Terror-Anschläge in Tunesien und Ägypten haben zu einem starken Einbruch der Tourismusindustrie geführt. Zwischen 2010 und 2011 brach der Tourismus um 40 Prozent ein und hat sich seitdem nicht erholt. In Ägypten wurde ein wirtschaftlicher Zusammenbruch bislang durch Zahlungen der Golfstaaten verhindert.

Flucht und Migration

Die Bürgerkriege in Syrien, Jemen und Libyen im Nachgang des Arabischen Frühlings vertrieben Millionen Menschen innerhalb ihrer Länder; weitere Millionen flüchteten in die Nachbarländer. Alle Nachbarn der Bürgerkriegsländer haben Menschen aufgenommen. Dabei hat kein Land der Region ein funktionierendes Asylsystem: Flüchtlinge aus Kriegsgebieten werden so zwar temporär aufgenommen, aber ihre Verbleibperspektiven hängen von eigenen Finanzreserven ab. Eine Integration in die ohnehin angespannten Arbeitsmärkte ist den meisten Flüchtlingen verwehrt. So sind einige Länder, zum Beispiel Tunesien, Ägypten und Marokko, heute sowohl Auswanderungs- als auch Einwanderungsländer. Nordafrika ist zudem Transit für viele Subsahara-Afrikaner_innen. Dorthin werden sie auch zurückgeschoben, wenn ihre Reise nach Europa erfolglos ist. Marokko hat mit einem Einwanderungsgesetz reagiert und 2014 einen einmaligen Regularisierungsprozess durchgeführt. Knapp zwei Drittel der ungefähr 30.000 Migrant_innen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara und einige aus Syrien erhielten einen einjährigen Aufenthaltstitel. Aber der Alltag bleibt auch für die regularisierten Migrant_innen schwierig: Sie finden keine Arbeit, und Rassismus ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Auch in Ägypten gibt es viele Schutzsuchende aus dem Irak, Sudan und Syrien, die vom Interner Link: Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen betreut werden. Der Zugang zu sozialen Diensten ist für viele Flüchtlinge noch um einiges schwieriger als für Ägypter; dies gilt sowohl für den Zugang zum Gesundheitswesen als auch für den zu öffentlichen Schulen oder Universitäten.

Für viele Länder bedeutet die Aufnahme der Flüchtlinge erheblichen wirtschaftlichen und politischen Druck. Im Interner Link: Libanon war 2015 jeder fünfte Einwohner aus einem anderen Land geflohen, Interner Link: Jordanien beherbergt um die 700.000 Menschen auf der Flucht, vorwiegend aus Syrien. Dabei haben zum Beispiel Jordanien und der Libanon die Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nicht ratifiziert. Auch die Staaten der Golfregion – zum Beispiel Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate – haben die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert. Die Anzahl offiziell anerkannter Flüchtlinge und Asylbewerber_innen ist deshalb in vielen dieser Länder äußerst gering. Sowohl Katar als auch die Vereinigten Arabischen Emirate erlauben Menschen jedoch, als "Gäste" auf eigene Rechnung und auf bestimmte Zeit in ihrem Land zu bleiben. Sie werden weder als Flüchtlinge anerkannt noch dürfen sie einen Antrag auf Asyl stellen.

Neben Menschen auf der Flucht sind die Interner Link: Golfstaaten auch ein häufiges Ziel von Wanderarbeitern, das heißt ausländischen Arbeiter_innen vornehmlich aus Afrika und Asien. In Saudi-Arabien machen sie 35 Prozent der Bevölkerung aus, im Emirat Dubai und in Katar zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung. Durch die anstehende Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar sind die problematischen Arbeitsbedingungen der Interner Link: Wanderarbeiter aus Asien und Afrika zunehmend Gegenstand öffentlicher Aufmerksamkeit – Menschenrechtsorganisationen sprechen von moderner Sklaverei: Arbeiter_innen sind komplett von ihren Arbeitgeber_innen abhängig und müssen ihnen ihre Pässe geben. Die Arbeitsbedingungen sind katastrophal, Löhne sind extrem niedrig und werden zum Teil nicht oder mit großer Verzögerung ausgezahlt. Die Bewegungsfreiheit der Arbeiter_innen ist stark eingeschränkt, ihre Unterkunft oft menschenunwürdig. Reformen des katarischen Arbeitsrechts Ende 2015 brachten zwar einige Verbesserungen, zum Beispiel, dass Arbeitgeber_innen Löhne auf Konten der Arbeitnehmer_innen einzahlen müssen. Allerdings sind Hausangestellte weiterhin vom Schutz des Arbeitsrechts ausgenommen.

Wie umgehen mit der Vergangenheit?

Was während und nach dem Arabischen Frühling in der Region geschah, insbesondere die Bürgerkriege und Fluchtbewegungen von Millionen Menschen, wird auch zukünftig weitreichende Auswirkungen haben.

Es gab in den Ländern des Arabischen Frühlings eine Reihe von Versuchen, das Unrecht der Vergangenheit aufzuarbeiten. Am weitesten schritt dabei Tunesien voran. Nach dem Zusammenbruch des Ben Ali Regimes und der Erarbeitung einer Verfassung wurde 2013 eine Kommission für Übergangsjustiz gegründet, mit dem Mandat, Menschenrechtsverletzungen zwischen 1955 und 2013 aufzudecken. Fast 17.000 Beschwerden sind bis Oktober 2015 eingegangen und 16.000 Opfer haben Zeugnis abgelegt – darunter viele Frauen, die von Sicherheitspersonal und Polizei systematisch gefoltert und vergewaltigt worden waren.

Leicht ist die Aufarbeitung der Vergangenheit aber auch in Tunesien nicht. Entgegen einigem Widerstand diskutiert das Parlament die Einrichtung einer weiteren Kommission, die "ökonomische Verbrechen", vor allem Korruption, aufdeckt.Diese Kommission würde aus dem Mandat der ursprünglichen "Wahrheit und Würde"-Kommission herausgelöst und in die Hände einer staatlich kontrollierten "Versöhnungs-Kommission" gelegt werden. Vor dem Hintergrund, dass – laut Weltbankangaben – Ende 2010 200 Firmen, die mit Ben Ali und seiner Familie eng verbunden waren, 21 Prozent des gesamten privatwirtschaftlichen Profits erwirtschafteten, wäre diese Entscheidung für die Aufarbeitung der Verflechtungen zwischen Regierungs- und Wirtschaftseliten schwierig.

Was bleibt?

Der Arabische Frühling hat den Menschen in der Region nicht das gebracht, was sich die Aktivist_innen mit ihrem Ruf nach "Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde" erhofft haben. Im Gegenteil: Organisationen wie Amnesty International oder die Stiftung Wissenschaft und Politik schätzen die Menschenrechtssituation schlimmer als zuvor ein – sowohl bei den Bürgerrechten als auch bei den sozialen und wirtschaftlichen Rechten. Dem "Arab Opinion Index" von 2016 zufolge bewerten 50 Prozent der rund 18.000 Befragten den Arabischen Frühling insgesamt als negativ, 41 Prozent äußerten sich positiv, was den Arabischen Frühling und seine Konsequenzen betrifft.

Was auf Seiten großer Teile der Bevölkerung bleibt, ist Ermüdung, Resignation und bei vielen auch Angst. Aber es bleibt auch der Glaube daran, dass die langfristigen Erfolge des Arabischen Frühlings noch ausstehen. So sind 45 Prozent der Befragten des "Arab Opinion Index" hiervon überzeugt – 39 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass der Arabische Frühling zu keinen weiteren Veränderungen mehr führen wird.

Und unabhängig von den langfristigen Auswirkungen der Proteste bleibt, mit den Worten eines arabischen Dichters, ein "Geschmack der Freiheit" und eine, zum Teil nur kurze, Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit, dass man etwas bewegen kann, wenn man sich zusammenschließt.

Weitere Inhalte

Dr. Anna Würth ist Leiterin der Abteilung Internationale Menschenrechtspolitik am Deutschen Institut für Menschenrechte. Sie ist promovierte Islamwissenschaftlerin und lehrte an der Freien Universität Berlin und der University of Richmond in Virginia, USA. Neben ihrer praktischen Erfahrung in der Menschenrechtsarbeit bei Human Rights Watch, ist sie seit 15 Jahren als Gutachterin in der Entwicklungspolitik tätig. Würth veröffentlicht sowohl zu Fragen des zeitgenössischen islamischen Rechts wie auch zu Menschenrechten und Menschenrechtspolitik.

Sophie Kloos ist Direktorin der NGO Asylos. Zuvor war sie dort Koordinatorin des MENA Teams und hat Forschungen zur Situation in Herkunftsländern für Asylanwälte angestellt. Sie ist zudem als Beraterin für die Vereinten Nationen im Bereich Migration und Entwicklung tätig.