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Menschenrechte

Gisela Hirschmann

/ 10 Minuten zu lesen

Die Menschenrechte sind im internationalen Recht fest verankert und universell gültig, doch in der Realität werden sie immer wieder massiv verletzt. Zivilgesellschaftliche Akteure sorgen durch ihr mitunter selbstgefährdendes Engagement dafür, dass Menschenrechtsverletzungen weltweit öffentlich angeprangert werden und sich Institutionen des Schutzes der Betroffenen annehmen.

Die UN-Gründungscharta verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Achtung der Menschenrechte. Vertragsunterzeichnung der russischen Delegation am 26. Juni 1945 (© NBC NewsWire / NBC / NBCU Photo Bank via Getty Images)

Aus der Geschichte Lehren ziehen – diese heute weitgehend selbstverständliche Einstellung begründete die Entstehung des heutigen Menschenrechtssystems. Als mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges das Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in allen Details bekannt wurde, zog die Staatengemeinschaft daraus die Konsequenz, dass fundamentale Rechte von Individuen im internationalen Recht verankert werden mussten. Bürgerinnen und Bürger sollten sich gegenüber der jeweiligen Regierung darauf berufen und ihre Rechte nötigenfalls einklagen können. Diese Erkenntnis mündete in die Gründungscharta der Vereinten Nationen (UN) 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 sowie 1966 in die Verabschiedung eines Zivilpaktes und eines Sozialpaktes. Damit wurde der Schutz der Menschenrechte global verrechtlicht: Präzise Regelungen wurden verbindlich festgeschrieben und Verfahren geschaffen, durch die sich Individuen gegen die Verletzung ihrer bürgerlichen und sozialen Rechte wehren konnten. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Staaten mit dem Beitritt zu den Menschenrechtspakten und der Ratifikation der Zusatzprotokolle bewusst eine Einschränkung in ihrer Souveränität akzeptierten. Bürgerinnen und Bürger haben nun die Möglichkeit, vor den Fachausschüssen einzelner Verträge Beschwerde einzulegen, wenn ihre Rechte durch ihren Staat verletzt wurden (Individualbeschwerdeverfahren). Außerdem verpflichteten sich die Vertragsstaaten, mindestens alle fünf Jahre über die Situation der Menschenrechte auf ihrem eigenen Territorium zu berichten (Staatenberichtsverfahren). Durch diese Regelungen wurden erstmals Mechanismen zur umfassenden Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und Beschwerdeinstanzen für Individuen jenseits des eigenen Staates geschaffen.

QuellentextInternationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte

Diskriminierungsverbot
Recht auf Leben
Verbot der Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
Verbot der Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangsarbeit
Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit
Recht auf Freizügigkeit
Gleichheit vor dem Gesetz, Unschuldsvermutung, faires Gerichtsverfahren, verfahrensrechtliche Mindestgarantien, Doppelstrafverbot
Rückwirkungsverbot
Anerkennung als Rechtsperson
Schutz vor Eingriffen in die Privatsphäre
Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
Recht auf unbehinderte Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung
Recht auf Versammlungsfreiheit
Recht auf Vereinigungsfreiheit
Recht auf Heirat und Familiengründung; Schutz der Familie
Rechte von Kindern auf Schutz
Recht von Staatsbürgern auf Mitwirkung an Gestaltung öffentlicher Angelegenheit, auf freie Wahlen und auf Zugang zu öffentlichen Ämtern

Politik & Unterricht, 3/4–2014, S. 5

QuellentextInternationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Diskriminierungsverbot
Recht auf Arbeit
Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen (angemessener Lohn, gleiches Entgelt für gleiche Arbeit, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, Arbeitspausen, angemessene Begrenzung der Arbeitszeit, bezahlter Urlaub, Vergütung gesetzlicher Feiertage)
Recht auf Gründung und Betätigung von Gewerkschaften
Recht auf soziale Sicherheit (Sozialversicherung)
Schutz von Familien (Gründung, Erziehung), Müttern (Mutterschaftsurlaub) und Kindern (vor wirtschaftlicher und sozialer Ausbeutung)
Recht auf angemessenen Lebensstandard (ausreichende Nahrung, Bekleidung, Unterkunft und Wasser*) und Recht auf Schutz vor Hunger
Recht auf erreichbares Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit
Recht auf Bildung (Grundschulpflicht, offener Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen)
Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben und auf Teilhabe an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts sowie Schutz geistiger Urheberrechte

* Das Recht auf Wasser ist nicht explizit erwähnt, wird aber im Wesentlichen aus dem Recht auf angemessenen Lebensstandard und dem Recht auf Gesundheit hergeleitet und wurde später durch UN-Resolutionen bekräftigt.

Politik & Unterricht, 3/4–2014, S. 5

Doch schnell wurde klar: Das Unterzeichnen von Konventionen und Verpflichtungserklärungen reicht nicht aus, um Menschenrechte durchzusetzen. Denn trotz dieser beträchtlichen Anzahl präziser und völkerrechtlich bindender Verträge werden weiterhin Menschenrechte durch Staaten verletzt. Menschenrechte sind aber universell gültig und sollten nicht vor staatlichen Grenzen Halt machen. Zu ihrem Schutz braucht es Regelungen jenseits nationaler Grenzen, eben globale Regulierungsformen, die auf staatliche Souveränität keine Rücksicht nehmen.

Um den Menschenrechtsschutz effektiv voranzutreiben, stehen der Staatengemeinschaft verschiedene Instrumente zur Verfügung. So wurden im Rahmen der Vereinten Nationen Institutionen geschaffen, die die Einhaltung der völkerrechtlichen Verträge überwachen sollen. 1994 wurde das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mit Sitz in Genf eingerichtet, das alle UN-Aktivitäten im Bereich Menschenrechtsschutz koordinieren soll (siehe unten). Außerdem wurde die 1946 eingerichtete UN-Menschenrechtskommission 2006 durch den UN-Menschenrechtsrat als Nachfolgegremium ersetzt, der ebenfalls in Genf residiert. Mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag wurde schließlich 2002 erstmals eine gerichtliche Instanz geschaffen, vor der auch Staatschefs für schwerste Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden können.

Grundlegende UN-Menschrechtsabkommen (© Politik & Unterricht, 3/4–2014, S. 4)

Zivilgesellschaftliche Akteure bilden eine wichtige Schnittstelle zwischen diesen internationalen Institutionen und den Menschen, deren Rechte verletzt wurden. Menschenrechtsorganisationen wie zum Beispiel Amnesty International oder Human Rights Watch sind oftmals die einzige Anlaufstelle für Betroffene. Sie prangern die jeweiligen Täter öffentlich an und bringen Menschenrechtsverletzungen auf die Agenda der internationalen Institutionen. Indem sie Rechtsverletzungen dokumentieren, liefern sie die Grundlage für Verfahren, mithilfe derer Staaten und Individuen zur Verantwortung gezogen werden können. Global Governance im Bereich der Menschenrechte zeichnet sich also durch ein Zusammenspiel zivilgesellschaftlicher, staatlicher und internationaler Akteure aus und ist unerlässlich für einen effektiven Menschenrechtsschutz. Denn trotz der umfassenden globalen Regelungen sind Menschenrechte heute immer noch stark gefährdet und benötigen kontinuierliche Anstrengungen zur erfolgreichen Umsetzung der Regelungen.

QuellentextDas globale Ausmaß der Folter

[…] Folter – verstanden als internationale Straftat, als politischer und diplomatischer Skandal, als Übergriff, der von fast allen Regierungen abgelehnt und rhetorisch oder in der Praxis verurteilt wird – findet im Verborgenen statt. Regierungen bemühen sich oftmals mehr darum, die Existenz von Folter abzustreiten oder zu vertuschen, als effektive und transparente Untersuchungen zu Foltervorwürfen einzuleiten und die TäterInnen vor Gericht zu stellen.

Folter ist in den meisten Ländern nur lückenhaft dokumentiert. Bei den Opfern handelt es sich oft um Tatverdächtige, die kaum Möglichkeiten haben, Beschwerde einzulegen, und die problemlos ignoriert oder zurückgewiesen werden können, wenn sie es doch tun. Häufig sind die Opfer auch nicht in der Lage oder zu verängstigt, um Folter zu melden, und glauben nicht daran, dass tatsächlich wirksame Maßnahmen ergriffen werden, sollten sie Anzeige erstatten.

[…] Alle Statistiken zu Folter – ob zur Zahl der Länder, in denen Folterfälle gemeldet wurden, oder zur zahlenmäßigen Entwicklung von Foltervorwürfen in einem bestimmten Land – sind mit Vorsicht zu behandeln.

Dennoch belegen die von Amnesty International gesammelten Beweise, die weltweite Recherche der Organisation und ihre Erfahrungen, die sie in mehr als fünf Jahrzehnten der Dokumentation und des Kampfes gegen diese Misshandlung gewonnen hat, dass Folter – 30 Jahre nach Verabschiedung der UN-Antifolterkonvention – weiter auf dem Vormarsch ist.

In den vergangenen fünf Jahren hat Amnesty International über Folter und andere Formen der Misshandlung in mehr als drei Vierteln aller Länder berichtet. In einigen kommt es nur vereinzelt zu Fällen von Folter und anderen Misshandlungen, in vielen ist Folter jedoch noch immer an der Tagesordnung.

Zwischen Januar 2009 und März 2014 hat Amnesty International Berichte über Folter und andere Misshandlungen durch Staatsbedienstete aus 141 Ländern erhalten. Dies sind nur die Fälle, die der Organisation bekannt wurden, daher spiegeln sie nicht das gesamte Ausmaß der Folter weltweit wider. Da in diesen Statistiken nur Fälle berücksichtigt werden, die sich belegen lassen, ist das tatsächliche Ausmaß vermutlich bedeutend größer.

Amnesty International (Hg.), Folter 2014. 30 Jahre gebrochene Versprechen. Bericht zur weltweiten Anwendung von Folter 30 Jahre nach Verabschiedung der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen, Berlin, 16. Mai 2014, S. 6

Menschenrechtsschutz durch zentrale Organisationen


UN-Menschenrechtsrat und UN-Hochkommissariat für Menschenrechte

Auch der UN-Menschenrechtsrat trägt maßgeblich zu mehr Global Governance im Menschenrechtsschutz bei. Obwohl seine Entscheidungen weiterhin ausschließlich von Staatenvertretern getroffen werden, ist die Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen (NGOs) inzwischen aus der Arbeit des Rates nicht mehr wegzudenken. So können Organisationen mit Sonderberaterstatus (special consultative status) im Wirtschafts- und Sozialausschuss der UN-Generalversammlung (ECOSOC) die Themensetzung der jährlichen Ratstreffen beeinflussen, indem sie zum Beispiel Eingaben zu einzelnen Agendapunkten und in Verhandlungen einreichen. Um zu überwachen, wie gut Menschenrechte geschützt werden, errichtet der Rat spezielle Arbeitsgruppen im Rahmen von Unterausschüssen, beispielsweise zu den Rechten von Minderheiten. An deren Treffen nehmen auch externe Menschenrechtsorganisationen teil.

Außerdem wurde im Rahmen des Menschenrechtsrates ein bisher einmaliger globaler Überwachungsmechanismus geschaffen, das Universal Periodic Review (UPR). Dabei reicht der jeweilige Staat einen 20-seitigen Bericht ein, der die aktuelle Menschenrechtslage im eigenen Territorium zusammenfasst. Dieser Bericht wird ergänzt durch jeweils zehn Seiten mit Informationen von UN-Organisationen und unabhängigen, externen Organisationen. Im Rahmen des UPR können also NGOs und nationale Menschenrechtsinstitutionen Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen beim UN-Hochkommissariat einreichen, die dann im Berichtsverfahren berücksichtigt werden. Zwar dürfen NGOs an der UPR-Arbeitsgruppe und deren "Interaktiven Dialogen" mit Staatenvertretern nicht teilnehmen. Dennoch können sie zumindest anschließend zu den Berichten Stellung nehmen, noch bevor die Empfehlungen durch den Rat verabschiedet werden. Bis zum Jahr 2011 wurde jeder UN-Mitgliedstaat diesem Überwachungsverfahren einmal unterzogen, seitdem folgen weitere Überprüfungen.

Karikatur: "Der Nächste bitte!" (© Gerhard Mester / Baaske Cartoons)

2007 wurde zudem ein Beschwerdemechanismus (complaint procedure) im Menschenrechtsrat eingeführt, an den sich Individuen und zivilgesellschaftliche Organisationen im Fall von Menschenrechtsverletzungen wenden können, wenn alle nationalen Verfahren ausgeschöpft sind. Dieser Beschwerdemechanismus ist vertraulich und wird als intransparent und extrem langwierig kritisiert, da es Jahre dauern kann, bevor der Rat über eine Beschwerde entscheidet. 2012 kam es zu einem ersten Erfolg, als der Rat vertrauliche Beschwerden gegen Eritrea in ein öffentliches Verfahren umleitete und einen Sonderberichterstatter mit Ermittlungen betraute. Angesichts der großen Zahl an eingereichten Beschwerden muss dieser Mechanismus in Zukunft dringend gestärkt werden, wenn er an Effektivität gewinnen soll.

Ein weiterer wichtiger Überwachungsmechanismus sind die UN-Sonderberichterstatter und Experten im Rahmen der "special procedures", die schon zu Zeiten der früheren Menschenrechtskommission existierten. Dabei werden unabhängige Experten vom Rat zur Überwachung der Menschenrechte in bestimmte Länder und Regionen entsandt oder damit beauftragt, zu einem festgelegten Thema (wie z. B. Rechte von Migranten) zu ermitteln. Dafür ist wiederum eine enge Zusammenarbeit mit NGOs vor Ort oder in Genf unerlässlich, da diese eine wichtige Quelle der Expertise darstellen. Die Berichte der Sonderberichterstatter stellen allerdings nur Empfehlungen dar. Die jeweiligen Staaten können sich daran halten – oder auch nicht. Deshalb kommt Menschenrechtsorganisationen die wichtige Rolle zu, die Umsetzung der Empfehlungen zu verfolgen (follow up-Prozess) und darüber öffentlich zu berichten und einzelne Staaten bei Nicht-Befolgen anzuprangern.

Für die Kooperation zwischen dem Menschenrechtsrat und externen Menschenrechtsorganisationen wurde 2008 extra ein Beratungskomitee (advisory committee) geschaffen. Dieses Gremium leitet Vorschläge von zivilgesellschaftlichen Akteuren und nationalen Menschenrechtsinstitutionen an den Rat weiter. Anfänglich war die Zahl der teilnehmenden Akteure eher gering, auch weil der Rat den Empfehlungen dieses Gremiums nur begrenzte Bedeutung zukommen ließ und in seinen Verfahren dessen Arbeit kaum berücksichtigte. Gegenwärtig scheint das Komitee jedoch verstärkt wahrgenommen zu werden: Auf dessen Empfehlungen hin richtete der Rat 2013 Arbeitsgruppen zum Recht auf Nahrung und Recht auf Frieden ein. Außerdem beauftragt der Rat seit 2013 das Komitee vermehrt mit Untersuchungen, unter anderem zu den Themenfeldern Korruption sowie dem Umgang mit Menschenrechten nach Katastrophen und Konflikten.

Unterstützt wird der Menschenrechtsrat in seiner Arbeit außerdem durch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR). Es entstand auf Druck von NGOs, die sich auf der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien 1993 für einen verstärkten Überwachungsmechanismus einsetzten. Zuvor hatte trotz der zahlreichen völkerrechtlichen Verträge die Zahl von spurlos verschwundenen Menschen ("disappearances") und Folteropfern zugenommen, ohne dass die dafür verantwortlichen Staaten Konsequenzen fürchten mussten. Deshalb nutzten die NGOs die Wiener Menschenrechtskonferenz, um diesen Missstand anzuprangern und grundlegende Reformen zu fordern. In der Schlusserklärung der Konferenz wurde die UN-Generalversammlung mit der Einrichtung eines Hochkommissars für Menschenrechte beauftragt, der die internationalen Bemühungen im Menschenrechtsschutz koordinieren sollte. Das Hochkommissariat kann eigenständig gegen Regierungen vorgehen, ohne von einem anderen Gremium damit beauftragt zu werden. Bei allem Respekt für staatliche Souveränität ist es die Aufgabe des Hochkommissars, Staaten im Dialog auf ihre menschenrechtlichen Pflichten hinzuweisen. Er übernimmt es, die Missachtung von Menschenrechten öffentlich anzuprangern und innerhalb der UN in Berichten an den Menschenrechtsrat und die Generalversammlung darauf hinzuweisen. Der Hochkommissar ist in heikler politischer Mission unterwegs und muss eine Person sein, die hohes Ansehen innerhalb der Staatengemeinschaft genießt.

Seit seiner Gründung hat das Hochkommissariat allerdings mit finanziellen und personellen Einschränkungen zu kämpfen, die eine effektive Arbeit erschweren. Deshalb stützt es sich auch auf NGOs, um Hinweise auf staatliche Menschenrechtsverletzungen zu erhalten. Besonders eng ist die Kooperation zwischen den lokalen OHCHR-Büros oder OHCHR-Menschenrechtsberatern in einzelnen Ländern wie zum Beispiel Kolumbien, Kosovo, Russland, Sri Lanka oder Uganda und den dort ansässigen NGOs. Diese liefern in vielen Fällen wertvolle Informationen über die tatsächliche Menschenrechtssituation, zum Beispiel die Anzahl von Verschleppten und Ermordeten in Bürgerkriegen vor Ort. Generell betrachtet sich das Hochkommissariat als Bindeglied zwischen dem gesamten UN-Menschenrechtssystem und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Für die Zusammenarbeit mit diesen unterhält es eine eigene Abteilung (Civil Society Section). 2012 rückte die damalige Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, die Unterstützung von unabhängigen, zivilgesellschaftlichen Organisationen ins Zentrum ihrer Arbeit. Sie prangerte öffentlich die Repressionen an, unter denen NGOs in zahlreichen Ländern leiden, und eröffnete weitere Länderbüros, erstmals auch in Tunesien. Auch der 2014 neu ernannte Hochkommissar für Menschenrechte Zeid Ra’ad Al Hussein bezeichnete NGOs als das "Herz" der Menschenrechtsarbeit, das den entscheidenden Unterschied ausmache.

Internationaler Strafgerichtshof und NGOs

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist eine supranationale, also den Staaten übergeordnete, juristische Instanz, die im globalen Menschenrechtssystem einzigartig ist. Das Gericht ermittelt gegen Regierungsangehörige, die schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen haben und aufgrund von nationalen Immunitätsregelungen (Regelungen, die sie vor Strafverfolgung schützen), oft nicht anders belangt werden können. An der Entstehung des Gerichtes waren supranationale NGOs maßgeblich beteiligt. Nach Berichten über Massaker im ehemaligen Jugoslawien 1993 und in Ruanda 1994 hatte eine Koalition von Menschenrechtsorganisationen den Druck auf die internationale Gemeinschaft erhöht, der Straflosigkeit für derartige Verbrechen ein Ende zu setzen. In der Folge wurde 2002 das Rom-Statut verabschiedet, das erstmals die individuelle Verantwortung über die nationale Souveränität stellte und den IStGH ins Leben rief (Art. 5). Er ermittelt gegen Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Angriffskriege immer dann, wenn nationale Instanzen nicht willens oder nicht fähig sind, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Der IStGH wird vom UN-Sicherheitsrat mit Ermittlungen beauftragt. Er wird aber auch auf eigene Initiative aktiv, wenn ein begründeter Verdacht besteht, oder er ermittelt auf Initiative eines Vertragsstaates hin. Einzelne Staaten haben jedoch im UN-Sicherheitsrat besondere Vetorechte. Einflussreiche Staaten wie China, Russland und die USA wehrten sich von Anfang an gegen eine unabhängige Gerichtsbarkeit außerhalb ihrer nationalen Verfassungen und haben deshalb das Rom-Statut nicht ratifiziert. Aufgrund seiner supranationalen Stellung ist der IStGH also eine umstrittene, politisierte Institution. Dabei ist er insbesondere bei der Durchsetzung von Haftbefehlen auf die Kooperationsbereitschaft von Staaten angewiesen. Trotz aller Widerstände und Blockaden wurde nach jahrelangen Verhandlungen am 26. April 2012 in einem wichtigen Fall ein erstes Urteil gesprochen, mit dem der frühere Staatschef von Sierra Leone, Charles Taylor, für die Planung und Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 50 Jahren Haft verurteilt wurde.

Der IStGH stützt sich in seiner Arbeit stark auf die Aktivitäten von NGOs. Laut Rom-Statut kann der Chefankläger diese um Hintergrundinformationen bitten (Art. 15), in Ausnahmefällen sogar um personelle Unterstützung (Art. 44,4). Mit ihrer Erfahrung und ihrem Sachverstand sind NGOs wichtige Partner bei den Ermittlungen. Sie teilen ihre Informationen dem IStGH mündlich mit oder in Form eines sachverständigen Beistands (amicus curiae brief). Bestimmten Organisationen wird ein Beobachterstatus gewährt, der besonders von westlichen NGOs genutzt wird, die über ausreichende Kapazitäten verfügen. Seit seiner Gründung wird dem Internationalen Strafgerichtshof immer wieder vorgeworfen, nur gegen nicht westliche Staatschefs zu ermitteln und dementsprechend parteiisch zu sein. Deshalb ist eine breitere Beteiligung für seine zukünftige Anerkennung und die Akzeptanz seiner Urteile weltweit notwendig.

NGOs betätigen sich außerdem oft als Mittler zwischen dem IStGH und Individuen, deren Rechte verletzt wurden, und nehmen so eine Rolle als Anwälte der Betroffenen ein. Dies ist mit Gefahren verbunden: In einigen Fällen wurden diese Mittler bedroht, attackiert oder sogar getötet, um Einfluss auf das Verfahren zu nehmen. Die Weltgesellschaft steht daher vor der besonderen Herausforderung, diese Mittler sowie andere Zeugen zu schützen. Nicht alle Organisationen jedoch stehen dem IStGH als Zeugen oder als Informanten zur Verfügung: Eine der wichtigsten humanitären Organisationen, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, sieht sein Mandat ausschließlich im vertrauensvollen Dialog mit den betroffenen Parteien und arbeitet explizit nicht mit dem IStGH zusammen, um die eigene Neutralität zu wahren. Trotzdem: Ohne das Zusammenspiel verschiedener transnationaler Akteure im Sinne von Global Governance wäre der IStGH nie entstanden, und ohne diese Kooperation würde seine Ermittlungsarbeit heute nicht funktionieren.

Aktuelle Herausforderungen


Die Verankerung von Menschenrechten in der internationalen Politik und im Völkerrecht ist so weit fortgeschritten, dass sich zunehmend auch die internationalen Institutionen ihrer Verantwortung für den Menschenrechtsschutz bewusst werden. Dies ist besonders wichtig, wenn – wie zum Beispiel nach Terroranschlägen – das Bedürfnis nach Sicherheit mit der Einhaltung fundamentaler Rechte kollidiert. Auch multinationale Operationen wie die Einsatztruppe in Afghanistan oder die Sanktionen, die von den UN und der EU gegen Einzelne oder ganze Länder erlassen werden, müssen sich an Menschenrechte halten. Immer mehr Organisationen haben daher Gremien geschaffen, an die sich Individuen wenden können, wenn sie glauben, dass ihre Rechte durch internationale Organisationen verletzt werden bzw. wurden. Beispiele dafür sind die Ombudsperson der UN-Sanktionspolitik und die Ombudsinstitution der UN-Mission im Kosovo. Ob dieser Trend tatsächlich einen nachhaltigen Bewusstseinswandel ausdrückt, wird sich zeigen, wenn sich in einer neuen Krise der Vorrang der Menschenrechte wieder gegenüber einem gestiegenen Sicherheitsbedürfnis behaupten muss.

Menschenrechtsschutz in einer globalisierten Welt bedeutet allerdings nicht nur Schutz vor staatlichen Repressionen oder Kriegsverbrechen, sondern auch vor Ausbeutung durch global agierende wirtschaftliche Akteure, beispielsweise durch Textil- oder Agrarunternehmen in Billiglohnländern oder durch private Sicherheitsunternehmen in Konfliktgebieten. Bisher gibt es für die internationale Staatengemeinschaft keine Handhabe, wenn Staaten ihrer Aufsichtspflicht gegenüber multinationalen Konzernen nicht gerecht werden. Es existieren einzig freiwillige Vereinbarungen zu Arbeitnehmerrechten, die auf Betreiben der UN-Institutionen geschlossen werden, wie zum Beispiel zu Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz oder zur Begrenzung von Arbeitszeiten. Deshalb verabschiedete der Menschenrechtsrat 2011 erstmals Richtlinien (guiding principles) für Unternehmen und Menschenrechte, die auf den sechsjährigen Konsultationen des UN-Sonderbeauftragten John Ruggie mit wirtschaftlichen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren basierten. Der Rat beauftragte außerdem eine Arbeitsgruppe, sodass das Thema "Menschenrechte in der Wirtschaft" (business and human rights) zu einem neuen Schwerpunkt innerhalb des Menschenrechtsrates und des Hochkommissariates wurde. Da dieser Bereich bisher nur schwach verrechtlicht ist, ist eine verstärkte Kooperation verschiedener transnationaler Akteure unerlässlich, damit Menschenrechte effektiv geschützt werden. Es bleibt abzuwarten, ob im Zuge dieses Prozesses verbindliche Regelungen, Verträge oder sogar Beschwerdemechanismen entstehen.

Gisela Hirschmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am WZB. Forschungsfelder sind Verantwortung von internationalen Organisationen für Menschenrechtsverletzungen in Friedensoperationen, der Wandel von internationalen Institutionen, insbesondere organisationale Lernprozesse, und deren Legitimität.
Kontakt: E-Mail Link: gisela.hirschmann@wzb.eu