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Sozialpolitik – ein systematischer Überblick | Sozialpolitik | bpb.de

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Sozialpolitik – ein systematischer Überblick

Prof. Dr. Benjamin Benz Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster Dr. Johannes D. Schütte Prof. Dr. Jürgen Boeckh

/ 11 Minuten zu lesen

Was ist gerecht? Wer verdient was? In der Sozialpolitik gibt es keinen Goldenen Schnitt, sondern immer nur aktuell legitimierte gesellschaftliche Konsense und Kompromisse. Dieser Einstieg gibt einen ersten Einblick in die Dynamik, Bedingungen und Interessen, die sich hinter dem abstrakten Konzept Sozialpolitik verbergen.

Was ist Sozialpolitik, was begründet ihren hohen Stellenwert, den auch Umfragen in der Bevölkerung immer wieder belegen, und warum sind ihre konkreten Maßnahmen andererseits immer wieder heftig umstritten? Laut Duden bedeutet der Begriff "sozial" "die Gesellschaft, Gemeinschaft betreffend". Liest man weiter, wird deutlich, dass er alle Dimensionen umfasst, welche die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Struktur betreffen. Es geht um die Zugehörigkeit eines Menschen zu verschiedenen Gruppen, um die Regelung menschlicher Beziehungen, um die Art und Weise, wie wir unseren Wohlstand produzieren und mit anderen teilen. In einem sehr umfassenden Sinne geht es um die Ausgestaltung unseres Gemeinwesens und um die Erklärung bzw. Rechtfertigung materieller und immaterieller Verteilungswirkungen. Da hiervon die Lebens- und Teilhabechancen vieler Menschen in unserer Gesellschaft abhängen, wird der Begriff des Sozialen eng mit dem der (sozialen) Gerechtigkeit verstanden und diskutiert.

(© FAZ-Grafik Niebel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.02.2015; Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach)

Nun könnte man meinen, dass in diesem Sinne eigentlich alles, was von Menschen für Menschen geregelt wird, Sozialpolitik sei. Richtig ist, dass der Begriff der Sozialpolitik vielfältig und oft nicht eindeutig ist. Wer sich mit Sozialpolitik beschäftigt, benötigt also Orientierung: Wie ist das, was wir heute Sozialpolitik nennen, entstanden? Wer und was beeinflussen und prägen Sozialpolitik? Was sind ihre konkreten Instrumente und Leistungen? Und schließlich, wo bewegt sie sich hin? Bevor in den Folgekapiteln auf diese und andere Fragen näher eingegangen wird, sollen zunächst wesentliche Charakteristika der Sozialpolitik vorgestellt werden.

Sozialpolitik ist immer getragen von sozialen Norm- und Wertvorstellungen.

Dabei sind Werte Wunschvorstellungen und Ziele, "die in einer Gesellschaft für einen Großteil der Menschen Geltung haben" und ihnen Orientierung liefern vor allem beim Bewerten und Beurteilen der Umwelt mit ihren politischen und sozialen Prozessen. Beispiele sind Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Sicherheit und Menschrechte. Normen sind hingegen Verhaltenserwartungen, "die an die Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft seitens der Gruppe oder Gesellschaft gerichtet werden" und bieten damit eine Richtschnur für gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten (Heinz-Günter Vester, Kompendium der Soziologie I: Grundbegriffe, Wiesbaden 2009, S. 55). Normen und Werte stehen damit in einem unmittelbaren Verhältnis und prägen die Sozialpolitik. Diese ist ein Feld staatlicher Interventionen in die Gesellschaft und wird getragen von gesellschaftlichen Interessengruppen. Zu diesen Gruppen zählen soziale Bewegungen wie die Arbeiter-, die Frauen- oder die Selbsthilfebewegung und aus ihnen entstandene Organisationen wie Parteien, (Arbeitgeber-)Verbände, Gewerkschaften, Kirchen und Bürgerinitiativen. Durch Form und Inhalt staatlicher Regelungen wird über den Umgang mit öffentlich anerkannten sozialen Problemen entschieden. Doch zuvor muss geklärt werden, wofür das Individuum, die Familie, einzelne Gruppen (generell: die Gesellschaft) Verantwortung tragen bzw. was über den Staat geregelt werden soll. Ein Beispiel: Wenn Eltern ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen, ist das privat. Wenn der Staat in der Absicht, Chancengerechtigkeit herzustellen, einen Anspruch auf Nachhilfe für (bestimmte) Kinder festlegt – etwa beim sogenannten Bildungspaket –, ist das (sozial-)politisch. Indem sie Ansprüche oder Probleme mit einem allgemeinverbindlichen Rechtsrahmen zu regeln sucht, setzt sich Sozialpolitik von allen privaten Formen, soziale Notlagen zu lösen, ab – von der Hilfe innerhalb der Verwandtschaft ebenso wie von der auf bürgerschaftlichem Engagement beruhenden Wohltätigkeit privater Personen bzw. Organisationen. Die Politik kann allerdings auch Regeln erlassen, um diese Akteure in ihrer Fähigkeiten zu stärken.

Da Sozialpolitik immer an Wertvorstellungen geknüpft ist, gibt es nicht die richtige oder falsche Sozialpolitik. Unabhängig davon, wie sie verstanden wird, hat sie jedoch immer Auswirkungen auf die Verhaltenserwartungen (Normen) und Lebenslagen von Menschen. In einer marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnung soll Sozialpolitik möglichst zu einem gesellschaftlich akzeptablen Verteilungskompromiss von (materiellen und immateriellen) Rechten, Pflichten und Unterstützungsleistungen führen. Sie umfasst dabei "all jene Maßnahmen, Leistungen und Dienste, die darauf abzielen,

  • dem Entstehen sozialer Risiken und Probleme vorzubeugen,

  • die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger befähigt werden, soziale Probleme zu bewältigen,

  • die Wirkungen sozialer Probleme auszugleichen und

  • die Lebenslage einzelner Personen oder Personengruppen zu sichern und zu verbessern." (Gerhard Bäcker u. a., Sozialpolitik, Bd. 1, 2008, S. 43)

Die sozialen Interessen, die in sozialpolitischen Diskussionen zum Tragen kommen, sind selten eindeutig und ändern sich sowohl in den individuellen Lebensverläufen als auch im Prozess gesellschaftlicher Entwicklung (sozialer Wandel). In kaum einem anderen Lebensbereich bestimmen eigene (häufig materielle) Interessen so sehr das Denken wie in der Sozialpolitik. So mögen junge Familien mit durchschnittlichem Einkommen ein starkes Interesse an kostenfreiem Zugang zu qualitativ hochwertigen Kindergärten und Schulen haben und wünschen sich hier ein besonderes sozialstaatliches Engagement. Zugleich erwarten sie aber auch eine möglichst niedrige Abgabenlast, denn die Steuern, die zur Finanzierung dieser Leistungen benötigt werden, schmälern ihr verfügbares Einkommen. Sie halten es daher für angemessen, dass andere die erforderlichen finanziellen Lasten mittragen – etwa kinderlose Paare, die keine Erziehungsleistungen übernehmen. Auch Kürzungen bei Leistungen für andere Zielgruppen, die im Vergleich zur eigenen Situation ggf. als weniger schützenswert erscheinen, werden in dieser Situation befürwortet. Doch diese Einstellung bleibt nicht immer gleich: Sind die Kinder erst einmal selbstständig und die Eltern selbst im fortgeschrittenen Lebensalter, wächst bei diesen möglicherweise der Wunsch nach einem seniorengerechten Wohnumfeld – Kindergärten und Schulen gehören nicht länger zum eigenen Interesse.

Das Beispiel macht eines deutlich: Je größer die unmittelbare Betroffenheit, umso größer das Interesse an sozialpolitischem Eingreifen. Die Sozialpolitik steht vor der Aufgabe, diese Zielkonflikte im politischen Prozess zu entscheiden und die damit verbundenen Verteilungsfragen zu lösen. Allerdings lassen sich die unterschiedlichen Interessensgegensätze nicht immer widerspruchsfrei auflösen. Vielmehr bilden diese "Interessen, d. h. subjektiv empfundene und ‚verhaltensorientierende Ziele und Bedürfnisse von einzelnen und Gruppen in einem sozialen Umfeld‘, gewissermaßen [den – die Verf.] Rohstoff, der in den politischen Prozess eingeht, umgeformt wird und zu Entscheidungen führt." (Wolfgang Rudzio, 2006, S. 55) Je nach Ergebnis stellen diese Entscheidungen Kompromisse, aber auch politisch gewollte Richtungsentscheidungen dar. Sie befriedigen das Verteilungsinteresse des einen und verletzen damit das eines anderen. Dies zeigt sich etwa im Streit um den Ausbau der Kinderbetreuung. Sehen die einen im Ausbau der Kitas eine Stärkung der Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie der frühkindlichen Förderung, verstehen andere gesellschaftliche Gruppen dies als eine Schwächung der Institution Familie. Und so folgte dem politischen Richtungsentscheid zum Ausbau der Kinderbetreuung der Kompromiss zum Betreuungsgeld, mit dem Familien gefördert werden sollten, die ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren nicht in öffentlichen Einrichtungen unterbringen möchten. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht im Juli 2015 dem Bund die Zuständigkeit für das Betreuungsgeld abgesprochen und damit die Regelungen gekippt hat, zeigt sich im zugrunde liegenden politischen Prozess sehr deutlich, wie sich unterschiedliche politische Wertvorstellungen über die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse in konkrete Sozialpolitik umsetzen.

Sozialpolitik konkretisiert sich im Sozialstaat.

Was Sozialpolitik normativ vorgibt, muss auch praktisch umgesetzt werden. Unter Sozialstaat sind die Institutionen, Einrichtungen und Akteure zu verstehen, die das Leistungsspektrum anbieten, ausführen, kontrollieren und weiterentwickeln. Über den Sozialstaat wirkt die Sozialpolitik in den unterschiedlichsten Formen direkt auf die Lebenswirklichkeiten der Menschen ein. Der Begriff Sozialstaat ist "Ausdruck für die aktive, gestaltende Rolle, die der demokratische Staat im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben einnimmt, und kennzeichnet zugleich einen historisch-konkreten Gesellschaftstyp, der eine entwickelte marktwirtschaftlich-kapitalistische Ökonomie mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs verbindet." (Gerhard Bäcker u. a., Bd. 1, S. 44) Im Wesentlichen stellt der Sozialstaat Geld-, Sach- und Dienstleistungen zur Verfügung. Deren Verteilung bzw. konkrete Ausführung wiederum nimmt der Staat in nur wenigen Fällen direkt vor, er beauftragt damit

  • eigens dafür geschaffene Körperschaften des Öffentlichen Rechts (z. B. die Deutsche Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit) und im Rahmen der Auftragsverwaltung

  • die Länder bzw. die Kommunen und in nicht wenigen Fällen

  • nichtstaatliche Akteure (z. B. private Leistungsanbieter wie die Ärzteschaft und Apotheken, Verbände, Vereine, Privatpersonen.

Das Zusammenspiel und Verhältnis dieser Akteure variiert im internationalen Vergleich und wird auch als Welfare Mix bezeichnet.

Sozialpolitik ist geschichtlich gebunden

und prägt sich entlang gesellschaftlicher Konflikt- und Entwicklungslinien aus. In den einzelnen Nationalstaaten Europas hat sich dabei ein unterschiedliches Verständnis von diesem Politikfeld herausgebildet, bei dem sich aus den sozialpolitischen Grundnormen Eigenverantwortung, Solidarität und Subsidiarität verschiedenartige, zum Teil auch konkurrierende Gerechtigkeitsvorstellungen ergeben. Deshalb lassen sich die Art, wie über Sozialpolitik gedacht wird, sowie der Aufbau und die innere Logik des heute bestehenden staatlichen Sicherungssystems nur durch den historischen Blick auf die jeweiligen politischen Kräfteverhältnisse verstehen. Das soziale Sicherungssystem in Deutschland mag zuweilen reaktions- und reformträge erscheinen, doch gleichzeitig hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Vertrauen vermittelt. Es steht nicht allein im Grundgesetz, dass Deutschland "ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" (Artikel 20 (1) GG) ist, es gehört auch in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung zum staatspolitischen Grundverständnis, dass der Staat einen aktiven sozialpolitischen Gestaltungsauftrag hat. Dies führt dazu, dass wir uns häufig schwer tun, die sozialpolitischen Diskussionen in anderen Ländern zu verstehen und deren Ansätze "gerecht" zu finden. So wirken die harten politischen Auseinandersetzungen, die sich in den USA an der Gesundheitsreform von Präsident Barack Obama entzündeten, aus europäischem Blickwinkel eher befremdlich. Als er den aus dieser Sicht offensichtlichen Missstand per Gesetz abschaffen wollte, dass circa 30 Millionen US-Amerikaner nicht gegen das Risiko Krankheit versichert waren, sah sich seine Regierung mit Protesten konfrontiert, die diese staatlich verfügte Pflichtmitgliedschaft als eine Entmündigung der Bürger und Einschränkung von deren Freiheit werteten.

Entwicklungsstufen der Sozialversicherung (© Bergmoser + Holler Verlag AG, Zahlenbild 141 508)

Soziale Gerechtigkeit ist eine Generalnorm der Sozialpolitik.

Mit der Aussage fängt bereits das Problem an, denn es existieren ganz unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien und Vorstellungen über das Wesen der Sozialpolitik, und es mag zuweilen verwundern, was alles unter Gerechtigkeit diskutiert werden kann. So ist es kein Widerspruch, wenn soziale Ungleichheit in der einen Denkfigur als Teil des Problems, in der anderen als Teil der Lösung verstanden wird. Denn Sozialpolitik hat immer anthropologische Dimensionen, die nach dem Wesen des Menschen, seiner Autonomie und Verantwortungsfähigkeit fragen. Und daher lässt sich Angst vor sozialem Abstieg in der einen Sichtweise als "heilsame Triebfeder" für mehr Leistungsbereitschaft des Einzelnen verstehen, während aus anderer Sicht Armutslagen Menschen in eine unwürdige Objektrolle versetzen, der durch aktives staatliches Handeln zur umfassenden "Sicherung der Lebensbedürfnisse" begegnet werden muss (Wolfgang Müller, 2003, Externer Link: www.stiftung-spi.de/index_1.html).

Gerechtigkeitstheorien sind aber beileibe keine rein akademischen Denkfiguren. Sie bestimmen die Funktionslogik sozialstaatlicher Regelungen und beeinflussen die gedankliche Weiterentwicklung sozialpolitischer Leitbilder und deren Umsetzung in konkrete Einzelregelungen. Dabei hat zum Beispiel der Präventionsgedanke an Bedeutung gewonnen, scheint es doch unmittelbar einleuchtend zu sein, dass es besser ist, Schaden zu vermeiden, statt ihn zu reparieren. Doch in der Sozialpolitik ist selten etwas eindeutig, und dies gilt auch für dieses so positiv besetzte Leitbild. Denn Prävention kann als Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen gewertet werden, aber es macht auch Sinn, in ihr die Voraussetzung von Freiheit zu sehen.

Sozialpolitik kostet Geld.

Dieses muss erwirtschaftet werden, bevor es verteilt werden kann. In Deutschland werden rund 30 Prozent der Wirtschaftsleistung über die Systeme der sozialen Sicherung umverteilt. Sozialpolitik ist also stets auch eine "Politik der Einkommensverteilung" (Elisabeth Liefmann-Keil, Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin u. a. 1961, S. 3). Gleichzeitig werden die sozialen Leistungen selbst wieder zur Quelle von Einkommen und dienen der Wohlstandssicherung. Denn Sozialleistungen erhalten die Kaufkraft und stärken so die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Zugleich sind die Träger sozialer Dienste wichtige Arbeitgeber. So gesehen ist der Sozialstaat nicht nur ein Kostenfaktor, sondern durchaus ein bedeutender Wirtschaftszweig. Mit dem Sozialbudget legt die Bundesregierung quasi eine Bilanz für diesen Bereich vor. Dabei wird deutlich, dass der Sozialstaat bei den Geldleistungen nicht den Reichen nimmt, um den Armen zu geben. Vielmehr bleibt die Einkommensdifferenzierung auch im Sicherungsfall weitgehend erhalten.

Sozialpolitik ist räumlich gebunden.

Deutschland ist ein föderaler Staat, in dem sich die Zuständigkeiten der Sozialpolitik auf unterschiedliche staatliche Ebenen verteilen. Zugleich ist der Nationalstaat über die EU und internationale Institutionen in einen transnationalen Rechtsrahmen eingebunden. Um die Chancen und Grenzen von Sozialpolitik ermessen zu können, ist ein Verständnis für die Verteilung der Zuständigkeiten in diesem Mehrebenensystem vonnöten. Denn nicht nur Gesetze schaffen Realitäten, auch Nichtstun und auf die Zuständigkeit der anderen Ebenen verweisen, kann wirksam sein. Soziale Wirklichkeit entsteht also nicht nur formal in der Umsetzung des Sozialrechts, sondern auch faktisch durch die Veränderungen der Lebensumstände vor Ort, die daraus resultierenden Handlungsanforderungen und nicht zuletzt durch die zu Verfügung stehenden bzw. gestellten Ressourcen.

Sozialpolitik ist Wandel.

Die sozialpolitischen Akteure müssen auf ständig wechselnde Rahmenbedingungen reagieren. Dabei sind die Handlungserfordernisse oftmals nur auf den ersten Blick klar. Wie immer in der Sozialpolitik sind sowohl die Auswahl der als sozialpolitisch relevant erachteten Themen wie auch die Behandlung, die sie erfahren, von unterschiedlichen Interessen geleitet.

  • Die deutsche Gesellschaft altert und schrumpft:


    Aus diesem demografischen Befund, der lange Zeit keine öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr, wurde vielfach geschlussfolgert, dass die Refinanzierbarkeit der sozialen Sicherung gefährdet sei. Doch Zuwanderungszahlen belegen, dass es viele Menschen gibt, die in Deutschland leben und arbeiten möchten. Die Diskussion um den demografischen Wandel könnte also auch wieder an die Empfehlungen der (überparteilich zusammengesetzten) unabhängigen Sachverständigenkommission (sog. Süßmuth-Kommission) aus dem Jahr 2000 anknüpfen (Externer Link: http://www.migration-info.de/artikel/2001-07-04/deutschland-bericht-suessmuth-kommission), um, sich am Beispiel der klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada oder Australien orientierend, das deutsche Zuwanderungsrecht mit seinen Reformreserven in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Möglicherweise ließe Zuwanderung so mittelfristig gesteigerten Wohlstand erwarten, womit ein größerer Spielraum zur Finanzierung des Sozialen entstünde. Zu bedenken ist auch, dass, selbst wenn die Bevölkerung altert und schrumpft, dies zwar den Um- und Ausbau entsprechender Infrastrukturleistungen und Dienste und damit Strukturreformen zur Refinanzierung der sozialen Sicherung erfordert, jedoch aufgrund des (zurzeit) steigenden gesamtgesellschaftlichen Wohlstands einen Rückbau von Sozialleistungen nicht (zwingend) notwendig macht.

  • Wandel der Erwerbsgesellschaft:


    Die Arbeitsgesellschaft wurde oft totgesagt. Fakt ist, dass sie nach wie vor zu einem Gutteil über die Verteilung von Lebenschancen entscheidet. Allerdings nehmen atypische Beschäftigungsformen sowie die Spreizung der Löhne, Einkommen und Vermögen zu. Der Grundsatz, dass die Höhe einer zu empfangenden Leistung abhängig sein soll von Beiträgen, die zuvor in die Sozialversicherungen eingezahlt wurden, sorgt somit aus strukturellen Gründen für Benachteiligungen. Wie lassen sich also künftig Flexibilität und soziale Sicherheit (Flexicurity) angemessen verbinden?

  • Europäisierung und Globalisierung:


    Der (europäische) Freihandel erwirtschaftet einerseits großen Reichtum, anderseits wird dieser sehr ungleich verteilt. Die Auswirkungen der globalen Arbeitsteilung bleiben zwiespältig. Sie ermöglicht aufholende (ökonomische) Entwicklungen und verschärft andererseits in vielen Regionen der Welt Armut, Not und kriegerische Konflikte. Diese sozialen Probleme, die allerdings nicht allein ökonomisch begründet sind, wirken auf uns zurück. Sie bekommen Gesichter, etwa in Asylsuchenden oder in asiatischen Näherinnen, die unter erbärmlichen Sozialstandards und Lebensgefahr westliche Kleidung produzieren. Aber auch hierzulande geraten Menschen unter Druck, die ihre Arbeit verlieren, wenn multinationale Konzerne ihre Fabriken schließen, um im internationalen Standortwettbewerb die nächsten Subventionen und (Lohn-)Kostenvorteile zu nutzen, nachdem sie über lange Jahre den Belegschaften mit dem Versprechen der Standortsicherung Lohnzugeständnisse abgerungen haben. Dem "Export" der sozialen Frage stehen also konkrete Anfragen an unser Wohlfahrtsmodell gegenüber.

Karikatur (© Klaus Stuttmann)

Jg. 1973, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. 2007 bis 2011 Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, seit 2011 in gleicher Funktion an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum. Fachliche Schwerpunkte: Armutspolitik im politischen Mehrebenensystem und politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit. Kontakt: E-Mail Link: benz@efh-bochum.de

Jg. 1945, lehrt Politikwissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Von 2001 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Arbeitsschwerpunkte sind allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik – darunter Armuts- und Reichtumsforschung – und Sozialethik. Kontakt: E-Mail Link: Ernst-Ulrich.Huster@t-online.de

Jg. 1982, Diplom-Sozialpädagoge, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für soziale Arbeit Münster e. V. im Landesmodellvorhaben „Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor“. Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum und an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2010 zusammen mit den anderen Autoren dieses Heftes Mitglied des EU Network of Independent Experts on Social Inclusion der Europäischen Kommission. Fachliche Schwerpunkte: Theorie der „sozialen“ Vererbung von Armut, Inklusionsstrategien und Soziale Ausgrenzung in Deutschland. Kontakt: E-Mail Link: Johannes.D.Schuette@gmail.com

Jg. 1966, Diplom-Sozialarbeiter (FH) / Politikwissenschaftler, lehrt seit 2007 Sozialpolitik an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfenbüttel an der Fakultät Soziale Arbeit. Fachliche Schwerpunkte: allgemeine Sozialpolitik, Verteilungspolitik, Armut und soziale Ausgrenzung in Deutschland und Europa, politische Interessenvertretung in der Sozialen Arbeit und Entwicklung sozialer Dienste.