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Vorbemerkung

Luise Schorn-Schütte

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Von Luther zu Hitler – so lautete die These einer Arbeit, die 1960 die Wirkungen der Reformation aus angloamerikanischer Sicht interpretierte (William Shirer, "The Rise and the Fall of the Third Reich", New York 1960) und auch in anderen europäischen Ländern rezipiert wurde. Diese Verknüpfung wird von der Forschung inzwischen nicht mehr aufrechterhalten. Außerdem widerspricht sie in ihrer Einlinigkeit einem Grundsatz jeder Geschichtsschreibung: Kein Ereignis kann auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden.

Das mittelalterliche Leben unterliegt einer gottgewollten Ordnung aus drei Ständen: der Geistlichkeit, die das Evangelium verkündet, dem Adel, der die "Guten" schützt sowie den Bauern und Handwerkern, die die materiellen Lebensgrundlagen erarbeiten. (© akg-images)

Das gilt gerade für die reformatorische Bewegung, sind doch das Geschehen vom 31. Oktober 1517 und seine Folgen seit 500 Jahren aus sehr verschiedenen, häufig entgegengesetzten Perspektiven betrachtet worden. Für die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ist es inzwischen unbestritten, dass der Satz des Berliner Historikers Leopold v. Ranke (1795–1886), er wolle "beschreiben, wie es eigentlich gewesen" sei, nicht umsetzbar ist. Jede Darstellung von Vergangenheit ist eingebunden in die Wahrnehmungsperspektive des beschreibenden Historikers – er ist und bleibt seiner eigenen Zeit verhaftet. Dagegen verschafft die große zeitliche Distanz von 500 Jahren heutigen Betrachtern einen hilfreichen Abstand zum Geschehen. Sie profitieren von der Vielfalt der Quellen und der mittlerweile vorliegenden Beschreibungen, die sich wechselseitig korrigieren.

Unter dieser Voraussetzung können die Wirkungen der Reformation skizziert werden: Ausgangspunkt ist dabei zunächst die Identifikation dessen, was die gegenwärtige Forschung als "Ereignis Reformation" bezeichnet. Auf dieser Grundlage werden dann die beabsichtigten Folgen der Reformation beschrieben – beabsichtigt durch jene, die im Kontext von 1517 als Theologen, Politiker, Juristen beteiligt waren. Schließlich geht es um die unbeabsichtigten, epochenübergreifenden Folgen der Reformation.

QuellentextWas ist ein Ablass?

[…] Zum Verständnis der Attraktivität des Ablasses hilft ein Blick auf die Lebensumstände im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Das Leben der Menschen war geprägt durch Leiderfahrungen: Einseitige Mangelernährung, wiederholte Hungersnöte, Enge, Armut, Krankheiten, Schmerzen, Kindstod und harte, kräftezehrende körperliche Arbeit machten das Dasein zu einer Tortur, die durch den omnipräsenten Tod begleitet wurde. Wenn das Dasein von Not und Tod geprägt ist, ist es logisch, dass das Diesseits lediglich als Phase vor dem Tod galt, die der Mensch durchleiden musste. Fixpunkt des Denkens war das himmlische Jenseits, das Hoffnung und damit Halt bot. […]

In dieses erlösende Jenseits konnte der Mensch nach vorreformatorischer Überzeugung jedoch nicht durch eigene Kraft gelangen. Gefangen in der eigenen, unabwendbaren Sündhaftigkeit, bedurfte er der Hilfe der katholischen Kirche. Sie […] verstand sich als eine zwischen Gott und Mensch vermittelnde Instanz. Nur die katholische Kirche konnte, so ihr damaliges, heute nicht mehr derart exklusives Selbstverständnis, die Sünden der Gläubigen in Gottes Namen vergeben und ihnen damit den Zugang ins Paradies ermöglichen – oder sie auch unvergeben lassen, was in die Hölle führte.

Der Ablass hing mit dieser eminent wichtigen Frage des Seelenheils eng zusammen. Das Ablasssystem beruht auf dem Selbstverständnis der katholischen Kirche. Als Stellvertreter Christi den reuigen Gläubigen nach der Beichte Gnade gewährend, erlegte sie den von der Sünde Freigesprochenen Bußleistungen auf, die zur Tilgung der Schuld zu absolvieren waren. Konnten diese zu Lebzeiten nicht mehr vollbracht werden, verblieben die Gläubigen die Zeit bis zur vollständigen Sündentilgung im zwar reinigenden, aber qualvollen Fegefeuer […]. Das Fegefeuer setzte also die Vergebung der Sünden voraus. In einem mittelalterlichen Bußbuch heißt es: "Wenn ein Heranwachsender mit seiner Schwester schläft, soll er fünf Jahre lang büßen" – starb er jedoch bereits nach zwei Jahren, hatte er die übrige Buße im Fegefeuer abzuleisten. Allein von diesen Bußleistungen konnte der Ablass befreien […].

Zur Zeit Luthers hatte der Papst einen Ablass für den Neubau des Petersdoms ausgeschrieben, was zunächst nicht ungewöhnlich war. In Luthers Umgebung war der bei den Fuggern hochverschuldete Albrecht von Brandenburg für den Ablass zuständig, dem die Kurie die Einbehaltung von 50 % der Ablasseinnahmen gewährt hatte. […] Angesichts dieser finanziellen Interessen ging im Bistum Halberstadt der Ablassprediger Johann Tetzel, den Instruktionen seines Bischofs gemäß, derart aggressiv vor, dass im Bewusstsein der Gläubigen die eigentliche theologische Intention des Ablasses verloren ging. Man konnte nicht nur, so predigte Tetzel, für bereits Verstorbene einen Ablass erwerben. Wie Luther bei einigen seiner Beichtkinder feststellte, hatten Tetzels Predigten und Flugblätter die Gläubigen zudem zu der Annahme verleitet, dass die von ihm erworbenen Ablassbriefe den Sünder auch ohne Beichte freisprechen würden […]. Dies widersprach jedoch der eigentlichen katholischen Lehre.

Gegen diese Ablasspraxis zog Luther zu Felde, indem er seine 95 Thesen verfasste und an ausgewählte Personen verschickte […].

Thomas Diehl, "Der Ablass oder: die Frage, was die Kirche mit dem Himmel zu tun hat", in:
Geschichte lernen 173: Wunder wirken © 2016 Friedrich Verlag GmbH, Seelze, S. 18 f.

Fussnoten

Luise Schorn-Schütte ist emeritierte Professorin für Neuere Geschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main.